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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 455/96, Beschluss v. 13.03.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 455/96 - Beschluss vom 13. März 1997 (OLG Naumburg)

BGHSt 43, 22; zulässige Nachholung der Urteilsgründe im Bußgeldverfahren unter Einhaltung der Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO.

§ 275 Abs. 1 S. 2 StPO; § 77b OWiG

Leitsatz

Hat der Richter im Bußgeldverfahren den Antrag der Staatsanwaltschaft auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen und wurde das Urteil ohne Begründung aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben, so dürfen auf eine von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsbeschwerde die Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO zu den Akten gebracht werden. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Hat der Richter im Bußgeldverfahren den Antrag der Staatsanwaltschaft auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen und wurde das Urteil ohne Begründung aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben, so dürfen auf eine von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsbeschwerde die Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen aufgrund einer Hauptverhandlung, an der die Staatsanwaltschaft nicht teilnahm, wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 400 DM verurteilt. Von der Anordnung eines Fahrverbotes hat es abgesehen.

Das Urteil wurde der Staatsanwaltschaft ohne Gründe zugestellt, weil der Betroffene auf Rechtsmittel verzichtet und die Richterin den vor der Hauptverhandlung von der Staatsanwaltschaft gemäß § 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG gestellten Antrag auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen hatte. Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil wegen der fehlenden Urteilsgründe Rechtsbeschwerde ein. Daraufhin brachte die Richterin die Urteilsbegründung innerhalb der Frist des § 77 b Abs. 2 OWiG, § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten. Nach Zustellung des so ergänzten Urteils beschränkte die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch.

Das zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde berufene Oberlandesgericht Naumburg ist der Ansicht, die nachträgliche Beibringung der Urteilsgründe sei nach § 77 b Abs. 2 OWiG zulässig gewesen. Bußgeldverfahren seien Massenverfahren zur Ahndung von Taten mit geringem Unrechtsgehalt, deren Erledigungsaufwand so gering wie rechtsstaatlich vertretbar gehalten werden müsse. Das Ordnungswidrigkeitengesetz sei daher grundsätzlich so auszulegen, daß Verfahren schnellstmöglich, insbesondere ohne vermeidbare Verfahrenswiederholungen, abgeschlossen werden können. Das Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigt daher, das Urteil nur im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und die Sache insoweit an das Amtsgericht zurückzuverweisen (Beschluß vom 7. August 1996 - 1 Ss (B) 240/96, MDR 1996, 1286 = NStZ-RR 1996, 343 f.).

Hieran sieht es sich durch den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 19. Juli 1988 (3 Ss OWi 156/88, MDR 1989, 482 = VRS 76, 33 f.) gehindert. Dort wird die Auffassung vertreten, daß es nicht zulässig sei, die Begründung des Urteils nachzuholen, wenn das Amtsgericht den Antrag der Staatsanwaltschaft auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen und das Urteil ohne Begründung aus dem inneren Dienstbereich herausgegeben hat. Bei fehlender Urteilsbegründung sei die Beschränkung des eingelegten Rechtsmittels unwirksam, das angefochtene Urteil daher bereits aufgrund zulässiger Sachrüge (vollständig) aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen. Eine nachträgliche Ergänzung von Urteilen sei in Bußgeldsachen ebenso wie im Strafverfahren in aller Regel unzulässig. § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO und § 77 b Abs. 2 OWiG enthielten eine abschließende Aufzählung der Fälle zulässiger Urteilsergänzung. Die dort genannten Voraussetzungen seien nicht erfüllt; eine entsprechende Anwendung der genannten Bestimmungen komme wegen des Ausnahmecharakters dieser Vorschriften grundsätzlich nicht in Betracht. Hierfür spreche zudem, daß § 77 b Abs. 2 OWiG nur Fälle betreffe, in denen eine schriftliche Urteilsbegründung zunächst entbehrlich gewesen sei. Außerdem könnten durch die nachträgliche Anfertigung der gesamten Urteilsgründe Feststellungen getroffen werden, die dem Rechtsmittel den Boden entzögen.

Das Oberlandesgericht Naumburg hat die Sache daher dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

"Ist im Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten die nachträgliche Begründung des Urteils innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zulässig, wenn das Gericht übersehen hat, daß die Staatsanwaltschaft vor der Hauptverhandlung die schriftliche Begründung des Urteils beantragt hat?".

Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:

"Im Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten ist die nachträgliche Begründung des Urteils innerhalb der Frist gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht mehr zulässig, wenn das Gericht den Antrag der Staatsanwaltschaft auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen und das Urteil ohne Begründung aus dem Gerichtsbetrieb herausgegeben hat."

II.

Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG sind erfüllt.

1. Das Oberlandesgericht Naumburg kann nicht wie beabsichtigt entscheiden, ohne von den tragenden Gründen der genannten Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle abzuweichen. Da die Beschränkung des Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch bei unzureichender Urteilsbegründung unwirksam ist (vgl. BGHSt 33, 59; BGHR StPO § 318 Strafausspruch 1; OLG Düsseldorf VRS 70, 137; 72, 117; Kleinknecht/ Meyer-Goßner StPO 42. Aufl. § 318 Rdn. 16 m.w.N.), kommt es für den Umfang der Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts darauf an, ob dieses nachträglich mit einer Begründung versehen werden durfte.

2. Die Vorlegungsfrage ist jedoch zu weit gefaßt.

Ein Urteil, das den inneren Geschäftsbereich des Gerichts noch nicht verlassen hat, darf - ohne daß hiergegen Bedenken bestehen - innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO geändert oder ergänzt werden (vgl. RGSt 54, 21; BayObLGSt 1981, 84; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 268 Rdn. 41, § 275 Rdn. 56; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 267 Rdn. 39). Um diese Fallgestaltung geht es hier aber nicht; sie ist daher aus der Vorlegungsfrage auszuklammern.

Der unterschiedlichen Auffassung der Oberlandesgerichte Naumburg und Celle liegt zudem nur die Verfahrenslage zugrunde, daß die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen und ausschließlich sie Rechtsbeschwerde eingelegt hat. Die Frage, inwieweit eine nachträgliche Begründung des Urteils bei einer Rechtsbeschwerde des Betroffenen zulässig ist (vgl. hierzu BGH, Beschluß vom 16. Juli 1996 - 5 StR 230/95 = MDR 1996, 1283; zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 42, 187 ff. ; BayObLGSt 1991, 105, 106; BayObLG JR 1992, 172 mit Anm. Göhler; OLG Celle VRS 75, 461 f.; KG NZV 1995, 242), muß daher nicht entschieden werden.

Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen hat der Senat über folgende Rechtsfrage zu befinden:

Dürfen im Bußgeldverfahren die Urteilsgründe auf eine von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsbeschwerde innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden, wenn der Richter den Antrag der Staatsanwaltschaft auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen hat und das Urteil ohne Begründung aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben wurde?

III.

Die Frage ist zu bejahen.

1. Es besteht keine gesetzliche Regelung, die eine Nachholung der Urteilsgründe bis zum Ablauf der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO ausdrücklich verbietet. Allerdings entspricht es gefestigter Rechtsprechung und einer verbreiteten Meinung in der Literatur, daß die nachträgliche Ergänzung eines Urteils im Strafverfahren grundsätzlich nicht zulässig ist - und zwar auch nicht innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO -, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist (vgl. BGH bei Holtz MDR 1990, 490; OLG Düsseldorf MDR 1993, 894; Hürxthal in KK/StPO 3. Aufl. § 267 Rdn. 39; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 267 Rdn. 39 - aA Gollwitzer in Löwe/Rosenberg aaO § 267 Rdn. 145; ders. in Festschrift für Kleinknecht, 1985, S. 147, 170, 171; Rieß NStZ 1982, 441, 445). Entsprechendes gilt für das Bußgeldverfahren (vgl. BayObLGSt 1981, 84; BayObLG VRS 81, 37, 38; OLG Koblenz VRS 70, 24; OLG Köln VRS 56, 149, 150; 67, 45, 46). Die nachträgliche schriftliche Urteilsbegründung ist aber nicht ausnahmslos untersagt; denn der Gesetzgeber hat in § 267 Abs. 4 Satz 3, Abs. 5 Satz 3 StPO und in § 77 b Abs. 2 OWiG Regelungen getroffen, die diesen Grundsatz durchbrechen.

2. Das Bußgeldverfahren unterscheidet sich in wesentlicher Hinsicht vom Strafverfahren. Es dient nicht der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern der verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung; es ist im Hinblick auf seine Bedeutung für die Massenverfahren des täglichen Lebens auf eine einfache, schnelle und summarische Erledigung ausgerichtet (BT-Drucks. 13/5418 S. 7; BVerfGE 27, 18, 28 f.; 45, 272, 288 f.; BGHSt 39, 291, 299; 41, 376, 381). Hierzu trägt auch der durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 7. Juli 1986 (BGBl. I 977) eingefügte § 77 b OWiG bei, der der Verfahrensvereinfachung dient (vgl. den Gesetzentwurf BT-Drucks. 10/2652 S. 9 f., 27). Nach § 77 b Abs. 1 Satz 1 OWiG kann - abweichend von den Bestimmungen für das Strafverfahren (§§ 267, 275 StPO) - von einer schriftlichen Begründung des Urteils ganz abgesehen werden, wenn es nicht mit der Rechtsbeschwerde angefochten wird. Als weitere Vereinfachung gegenüber dem Strafverfahren sieht § 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 OWiG vor, daß ein Rechtsmittelverzicht der Staatsanwaltschaft fingiert wird, wenn sie an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, wozu sie - anders als im Strafverfahren (§ 226 StPO) - nicht verpflichtet ist (§ 75 Abs. 1 Satz 1 OWiG).

3. Hat die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen und legt sie Rechtsbeschwerde ein, so gestattet § 77 b Abs. 2 zweite Alt. OWiG eine Nachholung der Urteilsbegründung innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO. Das muß auch dann gelten, wenn das Gericht - wie hier - den vor der Hauptverhandlung gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine schriftliche Begründung des Urteils (§ 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG) übersehen hat.

a) § 77 b Abs. 2 OWiG nennt bestimmte Verfahrenslagen, bei denen im Bußgeldverfahren innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgesehenen Frist die Urteilsgründe zu den Akten zu bringen sind. Da die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO ohnehin über die Verweisung der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG für schriftlich zu begründende Urteile gilt (vgl. Göhler OWiG 11. Aufl. § 71 Rdn. 45 m.w.N.), bezieht sich der Regelungsgehalt des § 77 b Abs. 2 OWiG auf Urteile, deren Begründung nachzuholen ist. Dies muß zum einen nach § 77 b Abs. 2 erste Alt. OWiG geschehen, wenn gegen die Versäumung der Frist für die Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Eine Verpflichtung - und damit auch ein Recht - zur Nachholung der Urteilsgründe innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO besteht außerdem nach § 77 b Abs. 2 zweite Alt. i.V.m. Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 OWiG, wenn die Staatsanwaltschaft, die an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, Rechtsbeschwerde einlegt. Nach dem Wortlaut des § 77 b Abs. 2 OWiG ist die Zulässigkeit der nachträglichen Urteilsbegründung nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Staatsanwaltschaft vor der Hauptverhandlung - also unabhängig von der Einlegung eines Rechtsmittels - eine schriftliche Begründung des Urteils verlangt hat.

b) Allerdings könnte, wie das OLG Celle aaO ausführt, der Zusammenhang von § 77 b Abs. 1 Satz 2 OWiG mit Absatz 2 dieser Bestimmung darauf hindeuten, daß eine nachträgliche Urteilsbegründung nur dann zulässig ist, wenn auf sie von Anfang an verzichtet werden durfte, weil die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen und auch keinen Antrag auf schriftliche Urteilsbegründung gestellt hat. Hierfür spricht zwar, daß nur dieser Fall in der amtlichen Begründung zu § 77 b OWiG (BT-Drucks. 10/2652 S. 27) als Beispiel für den Regelungsgehalt des § 77 b Abs. 2 zweite Alt. OWiG genannt ist. Das besagt aber nicht, daß die Vorschrift dementsprechend einschränkend ausgelegt werden muß (vgl. Rebmann/Roth/Herrmann OWiG 2. Aufl. § 77 b Anm. 4, 7); denn im Gesetzgebungsverfahren wurde das Problem, daß das Gericht einen Antrag auf schriftliche Begründung des Urteils übersehen haben könnte, nicht bedacht.

c) Sinn, Zweck und Regelungsgehalt des § 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG verlangen seine Anwendung auch für den Fall des übersehenen Antrags auf schriftliche Urteilsbegründung. Ist diese unterblieben, so fordert § 77 b Abs. 2 OWiG nicht stets deren Nachholung, sondern nur dann, wenn die Entscheidung mit der Rechtsbeschwerde angegriffen worden ist. Hier ist eine Begründung deswegen geboten, weil nur ein mit Gründen versehenes Urteil sachgerecht angefochten werden kann. Die Verpflichtung des Gerichts, nach § 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG das Urteil auf Antrag der Staatsanwaltschaft bereits vor der Einlegung eines Rechtsmittels schriftlich zu begründen, hat einen anderen Zweck. Sie soll die "Ressourcen" der Staatsanwaltschaft schonen, weil die Staatsanwaltschaft durch die schriftliche Urteilsbegründung in die Lage versetzt wird, das Urteil überprüfen zu können, ohne an der Hauptverhandlung teilnehmen oder vorsorglich Rechtsbeschwerde einlegen zu müssen (vgl. BT-Drucks. 10/2652 S. 27). Die Vorschrift dient somit - wie § 77 b OWiG insgesamt - der Entlastung der Justiz. Das Gegenteil hiervon würde bewirkt, wenn beim Übersehen des Antrags der Staatsanwaltschaft eine in der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nachgeholte Urteilsbegründung als unzulässig angesehen würde und das betroffene Urteil deshalb insgesamt aufgehoben werden müßte. Dies könnte, abgesehen von der Entstehung vermeidbarer Verfahrenskosten, dazu führen, daß - wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift insoweit zutreffend bemerkt hat - die Staatsanwaltschaft in dem vorgelegten Fall ihr Ziel, ein Fahrverbot zu erwirken, wenn überhaupt, dann möglicherweise erst in einer dritten Tatsacheninstanz erreicht, das Verfahren also erheblich verzögert wird. Daß dies dem auf Straffung und Vereinfachung des Bußgeldverfahrens bedachten Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde, ist offensichtlich; eine solche - auch aus der Sicht der betroffenen Staatsanwaltschaft - erhebliche Verfahrenserschwerung ist mit dem Sinn und Zweck des § 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG nicht zu vereinbaren. Es wäre im übrigen ein ungereimtes Ergebnis, wenn ein Urteil mit Gründen ergänzt werden dürfte, falls die Staatsanwaltschaft ursprünglich keine Begründung beantragt hat, eine nachträgliche Begründung aber nicht zulässig wäre, wenn der Antrag bereits früher gestellt (und lediglich übersehen) worden war. Die Urteilsergänzung muß daher auch in diesem Falle für zulässig erachtet werden (im Ergebnis ebenso Göhler aaO § 77 b Rdn. 4; Rebmann/Roth/Herrmann aaO § 77 b Rdn. 4; Senge in KK/OWiG § 77 b Rdn. 8).

d) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts widerspricht die Möglichkeit der nachträglichen Urteilsbegründung auch nicht "den Bedürfnissen einer geordneten Rechtspflege":

aa) Die Befürchtung, daß durch eine Nachholung der Urteilsgründe deren Einheitlichkeit zerstört und dadurch Unsicherheiten in das Rechtsmittelverfahren gebracht würden (vgl. RGSt 28, 247, 249 f.), ist unbegründet; denn es geht hier nicht um eine Ergänzung der Urteilsgründe, sondern um deren in § 77 b Abs. 2 OWiG ausdrücklich vorgesehene nachträglich vorzunehmende Erstellung. Der Grundsatz der Unabänderlichkeit des Urteils, der nach der Strafprozeßordnung späteren Änderungen entgegensteht (BGH bei Holtz MDR 1990, 490), wird hier nicht berührt.

bb) Auch das Argument, daß durch spätere Änderungen des Urteils dem Rechtsmittel des Beschwerdeführers die Grundlage nicht entzogen werden darf (vgl. BGH JZ 1989, 860; BGH bei Miebach/Kusch NStZ 1991, 121; BayObLG JR 1992, 172, 173), liefert keinen überzeugenden Grund, die nachträgliche Begründung des Urteils in einer Fallgestaltung wie hier nicht zuzulassen: Daß die nachträgliche schriftliche Urteilsbegründung im Bußgeldverfahren in bestimmten Fällen zulässig ist und dadurch der Rüge, das (zunächst) zugestellte Urteil enthalte keine Entscheidungsgründe, "der Boden entzogen" wird (OLG Celle aaO), ist eine - verfassungsrechtlich unbedenkliche (vgl. BVerfGE 40, 276, 286; 50, 287, 289, 290; BVerfG NJW 1982, 925) - Entscheidung des Gesetzgebers. Im übrigen entzieht die nachträgliche Begründung des Urteils dem Rechtsmittel nicht den Boden, sondern sie bereitet ihn erst vor. Erfolgreiche sachlich-rechtliche Angriffe gegen das Urteil sind nur möglich, wenn das Urteil Rechtsfehler enthält. Ist schon der Urteilstenor fehlerhaft, so kann ein Nachschieben der Urteilsgründe diesen Mangel nicht beseitigen. In den übrigen Fällen kann sich der Rechtsfehler nur im Zusammenhang mit oder allein aus der Urteilsbegründung ergeben. Fehlt sie völlig, so kann ein Rechtsfehler nicht festgestellt und damit auch nicht gerügt werden. Daher besteht keine Gefahr, daß das Gericht aufgrund der Rechtsmittelschrift das Urteil so ergänzt, daß Rügen leerlaufen (im Ergebnis ebenso Göhler aaO § 77 b Rdn. 4 und Senge aaO § 77 b Rdn. 8).

cc) Auch der Einwand des Generalbundesanwalts, durch die Gestattung der nachträglichen Begründung des Urteils würden dem Tatrichter Mißbrauchsmöglichkeiten eröffnet, weil er sich über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine schriftliche Begründung des Urteils hinwegsetzen könnte, greift nicht durch.

Der Richter ist aufgrund des § 77 b Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG verpflichtet, das Urteil auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu begründen. Unterläßt er dies, so muß er in jedem Falle eines nicht begründeten Urteils mit der Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft rechnen und die Begründung fristgerecht nachholen. Wollte man dem Gedanken überhaupt näher treten, daß der Tatrichter bereit ist, bewußt gegen das Gesetz zu verstoßen, um sich Arbeit zu ersparen, so wäre dies hier jedoch nicht ernsthaft zu befürchten; denn der Richter könnte sich durch das Hinwegsetzen über den Begründungsantrag der Staatsanwaltschaft weder eine Arbeitserleichterung noch einen sonstigen Vorteil verschaffen.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 22; NJW 1997, 1862; NStZ 1997, 396

Bearbeiter: Rocco Beck