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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1121

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 28/22, Urteil v. 07.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1121


BGH 4 StR 28/22 - Urteil vom 7. Juli 2022 (LG Paderborn)

Beweiswürdigung (beschränkte Revisibilität der Beweiswürdigung: Maßstab, Gesamtwürdigung der Beweisergebnisse, gesteigerte revisionsgerichtliche Anforderungen an die Sachdarstellung und Erörterung der Beweislage bei Unwahrheit eines Aussageteils; Vergewaltigung).

§ 261 StPO; § 177 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Der Tatrichter hat alle wesentlichen, für und gegen den Angeklagten sprechenden Tatsachen und Beweisergebnisse, die Gegenstand der Hauptverhandlung waren, erschöpfend zu würdigen; dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet werden, sondern sind in eine umfassende Gesamtwürdigung einzustellen. Gesteigerte revisionsgerichtliche Anforderungen an die Sachdarstellung und Erörterung der Beweislage bestehen in Fällen von „Aussage gegen Aussage“, wenn sich die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Paderborn vom 29. September 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten Folgendes zur Last gelegt:

In seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung habe der Angeklagte zunächst die Nebenklägerin umarmt und versucht sie zu küssen. Die Nebenklägerin habe ihren Kopf weggedreht und geäußert, dass er das lassen solle. Der Angeklagte habe daraufhin die Nebenklägerin auf das Bett gedrängt und sich auf sie gelegt. Die Nebenklägerin habe den Angeklagten mehrfach gebeten aufzuhören und erfolglos versucht, gegen das Öffnen von Gürtel und Hose „zu arbeiten“. Dennoch sei es dem Angeklagten gelungen, die Nebenklägerin auszuziehen. Im Anschluss habe er zunächst zwei Finger in die Vagina der Nebenklägerin eingeführt und sei danach mit dem Penis vaginal eingedrungen. Auch gegen den Vollzug des ungeschützten Geschlechtsverkehrs habe sich die Nebenklägerin durch Wegdrücken zu wehren versucht; sie habe mehrfach ihren entgegenstehenden Willen geäußert.

2. Der Angeklagte hat die ihm zur Last gelegte Tat bestritten und sich dahin eingelassen, der Geschlechtsverkehr sei einvernehmlich erfolgt. Er und die Nebenklägerin hätten sich geküsst und Zärtlichkeiten ausgetauscht; dann hätten sie sich wechselseitig ausgezogen und im Intimbereich gestreichelt. Sie hätten sich auch über Verhütung unterhalten. Der Geschlechtsverkehr habe nicht richtig funktioniert, als der Angeklagte auf der Nebenklägerin gelegen habe, weshalb sie sich auf ihn gesetzt habe.

3. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Nach dem Besuch eines Schützenfests saßen der Angeklagte, die Nebenklägerin und ein weiterer Besucher zunächst im Wohnzimmer des Elternhauses des Angeklagten. Der Angeklagte und die Nebenklägerin flirteten, kuschelten und tauschten mindestens einen Kuss aus. Später begab sich die Nebenklägerin freiwillig mit dem Angeklagten in dessen Jugendzimmer. Dort vollzog der Angeklagte mit der Nebenklägerin den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr, wobei die Nebenklägerin - die ihre Periode hatte - während des Geschlechtsverkehrs einen Tampon in ihrer Vagina behielt. Nach Abschluss des Geschlechtsverkehrs zog sich die Nebenklägerin an und wurde vom Angeklagten zur Haustür begleitet.

b) Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und zur Begründung angeführt, es habe nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellen können, dass der Angeklagte den Beischlaf gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin vorsätzlich mit dieser durchgeführt habe. Vielmehr sei offengeblieben, ob ein möglicherweise entgegenstehender Wille der Nebenklägerin nach objektiven Kriterien erkennbar war und ob er für diesen Fall vom Angeklagten erkannt oder zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen worden ist.

II.

Die gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 401 Abs. 1 Satz 1 StPO zulässige Revision der Nebenklägerin hat Erfolg. Der Freispruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16 Rn. 20; Urteil vom 12. Februar 2015 ? 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 ? 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179). Die auf die Sachrüge gebotene revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2022 - 2 StR 292/21 Rn. 7; Urteil vom 23. Juni 2021 - 2 StR 337/20 Rn. 6; BGH, Urteil vom 1. Juni 2016 ? 1 StR 597/15 Rn. 27 je mwN). Der Tatrichter hat alle wesentlichen, für und gegen den Angeklagten sprechenden Tatsachen und Beweisergebnisse, die Gegenstand der Hauptverhandlung waren, erschöpfend zu würdigen (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2022 ? 2 StR 292/21 Rn. 9); dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet werden, sondern sind in eine umfassende Gesamtwürdigung einzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 - 4 StR 360/12 Rn. 17). Gesteigerte revisionsgerichtliche Anforderungen an die Sachdarstellung und Erörterung der Beweislage bestehen in Fällen von „Aussage gegen Aussage“, wenn sich die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2008 ? 5 StR 585/07 Rn. 9; Beschluss vom 12. September 2012 ? 5 StR 401/12 Rn. 8).

2. Hieran gemessen kann das Urteil keinen Bestand haben.

a) Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, weil die Strafkammer Beweisanzeichen, die für die Annahme eines nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs, einen erkennbar entgegenstehenden Willen der Nebenklägerin und einen entsprechenden Vorsatz des Angeklagten sprechen, lediglich isoliert bewertet und nicht in eine Gesamtwürdigung eingestellt hat.

So hat das Landgericht dem Umstand, dass die Nebenklägerin einen in ihre Scheide eingeführten Tampon nicht für den Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten entnahm, nur dahingehend bewertet, dass dies nicht „eindeutig“ gegen einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr spreche. Die im Dammbereich der Nebenklägerin festgestellten flächigen Fissuren könnten auch bei einem einvernehmlichen Geschlechtsverkehr entstanden sein. Allein ihr Bestehen müsse damit nicht auf Unfreiwilligkeit hindeuten. Die kurz nach dem Geschehen abgegebenen Erklärungen der Nebenklägerin (mehrfache Angabe, vergewaltigt worden zu sein), ihr Erscheinungsbild (verstört, zitternd) und ihr weiteres Verhalten (Vorstellung in einer Frauenklinik zur anonymen Untersuchung) ließen keinen Rückschluss darauf zu, dass der Angeklagte den von ihm eingeräumten Geschlechtsverkehr vorsätzlich gegen ihren erkennbaren Willen vollzogen habe. Schließlich erlaube auch der Umstand, dass sich die Nebenklägerin in eine Therapie begeben habe und sie nach den glaubhaften Angaben ihrer Therapeutin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, „nicht den zwingenden“ Schluss, dass sich das Geschehen entsprechend ihren Angaben abgespielt und der Angeklagte gegen ihren erkennbar entgegenstehenden Willen gehandelt habe.

Eine hiernach gebotene Erörterung, welche Bedeutung dem Vorliegen dieser verschiedenen Umstände insgesamt und in ihrer Häufung für die Überzeugung vom Vorliegen eines entgegenstehenden Willens und seiner Erkennbarkeit zukommt, hat die Strafkammer nicht vorgenommen. Die von der Strafkammer gewählten Formulierungen („nicht eindeutig“, „allein ihr Bestehen“, „nicht den zwingenden Schluss“) deuten vielmehr darauf hin, dass sie eine solche Gesamtwürdigung auch nicht erforderlich ansah.

b) Die Beweiswürdigung hinsichtlich eines entgegenstehenden Willens der Nebenklägerin und dessen objektiver Wahrnehmbarkeit ist auch deshalb lückenhaft, weil das Landgericht nicht die gesamte Aussage der Nebenklägerin bewertet und nicht mitgeteilt hat, welche ihrer Angaben zum äußeren Tatgeschehen von ihm für glaubhaft erachtet werden.

aa) Das Landgericht hat insoweit lediglich in den Blick genommen, dass die Nebenklägerin nicht anzugeben vermochte, wie laut sie nein gesagt habe, und dass sie hierzu weiter erklärte, es komme manchmal kein Ton raus, wenn man unter Schock stehe. Ein Ausweichen und Wegdrücken des Angeklagten habe die Nebenklägerin nicht näher zu beschreiben vermocht, als dass sie auf dem Bett nach hinten gerutscht sei und sich klein gemacht habe. Dem Umstand, dass die Nebenklägerin angeben habe, selbst nicht zu wissen, wie laut sie nein gesagt habe und in welcher Form sie sich konkret gewehrt habe, hat das Landgericht dabei besondere Bedeutung beigemessen, weil die Nebenklägerin bemüht gewesen sei, ihr Verhalten im Vorfeld des Geschlechtsverkehrs in tadellosem Licht erscheinen zu lassen. So habe sie die Unwahrheit gesagt, als sie sowohl einen Flirt auf dem Schützenfest mit einem Freund des Angeklagten als auch den Kuss mit dem Angeklagten auf der Couch im Wohnzimmer explizit ausgeschlossen habe.

bb) Diese Würdigung schöpft die Angaben der Nebenklägerin nicht aus. Vielmehr hätte die Strafkammer auch mitteilen müssen, ob und inwieweit sie die weiteren Angaben der Nebenklägerin für glaubhaft erachtet.

Die Nebenklägerin hat nämlich u. a. angegeben, in seinem Zimmer habe der Angeklagte eine Hand um ihre Taille gelegt und sie zu sich gezogen. Er habe versucht, sie zu küssen, wozu sie nein gesagt habe. Als er seinen Griff gelockert habe, sei sie vor dem Angeklagten zurückgewichen und auf das Bett gefallen. Als sich der Angeklagte auf sie gesetzt habe, habe sie ausweichen wollen. Als der Angeklagte ihre Hose geöffnet habe, habe sie ihre Gürtelschnalle festhalten wollen, was nicht funktioniert habe. Nachdem er die Hose heruntergezogen hatte, habe sie versucht, sich körperlich zu wehren, indem sie versucht habe, den Angeklagten wegzudrücken. Der Angeklagte sei mit Fingern und danach mit seinem Penis vaginal eingedrungen. Die Nebenklägerin habe die Beine aufgestellt und versucht, sich wegzudrehen. Der Angeklagte habe ihr Bein wie einen Hebel genutzt und sie in die Bauchlage umgedreht, bevor er von hinten vaginal in sie eingedrungen sei.

Damit hat die Nebenklägerin weitere Handlungen geschildert, die angesichts der Gesamtumstände ? insbesondere auch des Geschlechtsverkehrs mit eingeführtem Tampon - als Anhaltspunkte für einen entgegenstehenden Willen herangezogen werden können. Ohne eine Bewertung des Wahrheitsgehaltes auch dieser Angaben ist die Wertung der Strafkammer, der Angeklagte habe einen entgegenstehenden Willen der Nebenklägerin nicht erkennen können, revisionsrechtlich nicht überprüfbar.

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Freispruch des Angeklagten auf den aufgezeigten Rechtsfehlern beruht. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1121

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede