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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 362

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 585/07, Beschluss v. 24.01.2008, HRRS 2008 Nr. 362


BGH 5 StR 585/07 - Beschluss vom 24. Januar 2008 (LG Berlin)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; Beweiswürdigung (Aussageanalyse; besondere Anforderungen im Fall Aussage gegen Aussage; mangelnde Aussagekonstanz).

§ 176 StGB; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr. vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13 und 14). Dies gilt insbesondere dann, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder wenn der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGHSt 44, 153, 159).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 16. Juli 2007 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die mit Verfahrensrügen und der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

1. Der 43-jährige Angeklagte ist Vater des 11-jährigen T., der sich im Sommer 2003 mit dem seinerzeit 10-jährigen Zeugen V. C. anfreundete. Bald besuchte V., der mit seiner Mutter und fünf Geschwistern in äußerst bescheidenen und beengten Verhältnissen lebte, T. häufig zu Hause, um mit ihm dort am Computer oder mit der Playstation zu spielen; diese Möglichkeiten hatte er daheim nicht. Nach kurzer Zeit durfte der Zeuge auch gelegentlich bei T. übernachten. Da der Angeklagte damals arbeitslos war und tagsüber seine Kinder T. und die 4-jährige J. beaufsichtigte, kam es häufig vor, dass V. den Angeklagten allein in der Wohnung antraf, wenn T. noch in der Schule und das kleine Mädchen im Kindergarten war. Nachdem der Zeuge bereits mehrere Monate bei der Familie des Angeklagten ein- und ausgegangen war, kam es im Frühjahr 2004 erstmals und danach bis spätestens zum 28. März 2005 in fünf Fällen zu sexuellen Handlungen zwischen dem Angeklagten und V.

In vier Fällen entblößte der Angeklagte seinen Penis vor dem Zeugen, führte alsdann dessen Hand an sein Glied, hielt die Hand fest und nahm onanierende Bewegungen bis zum Samenerguss vor. Obwohl der Junge sich ekelte, leistete er in keinem der Fälle Widerstand. Er ging jeweils davon aus, dass er keine andere Wahl habe und - sollte er versuchen wegzurennen - die Wohnungstür verschlossen sein könnte oder der Angeklagte vor ihm an der Wohnungstür sein würde. Zudem erhielt er anschließend Belohnungen in Form von Süßigkeiten, Eis oder selbstgebrannten CDs mit PC-Spielen oder Musik.

In dem genannten Tatzeitraum kam es schließlich auch zu einem wechselseitigen Oralverkehr. Während die Kinder des Angeklagten - im Wohnzimmer vor dem Sofa sitzend - eine Fernsehsendung verfolgten, saß der Angeklagte hinter dem Sofa auf einem Computerhocker. Er entblößte seinen Penis, bedeutete V., sich hinzuknien und führte den Kopf des Jungen an sein Glied. Dieser führte den Oralverkehr an dem Angeklagten aus, ohne dass dieser jedoch zum Samenerguss gelangte. Anschließend zog er dem Jungen die Hose herunter und nahm dessen Glied für kurze Zeit in den Mund. Hierfür erhielt V. keine Gegenleistung, der Angeklagte versprach aber, ihm eine Musik-CD zu brennen. Der Geschädigte brachte dieses Versprechen mit dem Oralverkehr in Zusammenhang und sah sich deswegen berechtigt, die Einlösung des Versprechens zu erwarten.

In der Folgezeit ließ der Kontakt zwischen T. und dem Zeugen nach. T. und seine Schwester wollten nicht mehr mit ihm spielen, weil V. sehr bestimmend war. Der Angeklagte musste ihn auch mehrfach ermahnen, sich an die Regeln zu halten und untersagte ihm darüber hinaus, sexistisch gefärbte Schimpfworte zu benutzen. Möglicherweise war V. letztmalig zu Silvester 2004/2005 in der Wohnung des Angeklagten, weil er mit T. feiern wollte. Als der Angeklagte ihm mitteilte, dass T. mit einem anderen Jungen verabredet sei, reagierte der Zeuge wohl aus Eifersucht überaus aufgebracht, so dass der Angeklagte ihn der Wohnung verwies.

Im April 2005 sah der Zeuge eine Nachmittags-Show, in der allgemein über Sex gesprochen wurde. Hierdurch fühlte er sich an die sexuellen Handlungen mit dem Angeklagten erinnert und fing an zu weinen. Zudem war er enttäuscht, weil er die ihm einige Zeit zuvor versprochene CD nicht erhalten hatte, die er sich seiner Meinung nach durch die letzten sexuellen Handlungen "verdient" hatte. Als seine Mutter ihn nach dem Grund der Tränen fragte, berichtete V. von den Vorfällen mit dem Angeklagten.

2. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Der Angeklagte bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Die Strafkammer stützt die Verurteilung im Wesentlichen auf die Angaben des zur Tatzeit 10-jährigen und im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 13 Jahre alten Zeugen, deren Glaubhaftigkeit eine Sachverständige bestätigt hat. In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr. vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13 und 14). Dies gilt insbesondere dann, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält oder wenn der anfänglichen Schilderung weiterer Taten nicht gefolgt wird (vgl. BGHSt 44, 153, 159).

a) Ins Gewicht fällt hier zunächst, dass V. hinsichtlich einzelner Tatmodalitäten seine früheren Tatschilderungen in der Hauptverhandlung ganz erheblich abgeschwächt hat. So hat er im Ermittlungsverfahren angegeben, der Angeklagte habe ihm Schläge angedroht, wenn er die sexuellen Handlungen nicht dulde. In der Hauptverhandlung hat er konkrete Drohungen nicht mehr bekundet, sondern "ist darauf ausgewichen", dass er "glaube", dass der Angeklagte "irgendwas" angedroht habe (UA S. 19). In ähnlicher Weise verhält es sich auch mit der Anzahl der sexuellen Übergriffe. Bei seiner polizeilichen Vernehmung hat er nach Aussage der Vernehmungsbeamtin von zwei Fällen des Oralverkehrs gesprochen, während er in der Hauptverhandlung erklärt hat, dass dies nur einmal vorgekommen sei. Auch im Hinblick auf seine Fluchtmöglichkeiten ist der Zeuge von seiner ursprünglichen Aussage im Ermittlungsverfahren, wonach die Wohnungstür immer abgeschlossen gewesen sei, abgewichen. In der Hauptverhandlung hat er hierzu bekundet, dass die Wohnungstür eigentlich nur nachts, wenn er dort übernachtet habe, abgeschlossen worden sei (UA S. 17).

Die dargelegten, möglicherweise auf das Alter des Zeugen zurückzuführenden Aussagedefizite stehen einer Wertung seiner Bekundungen als glaubhaft zwar nicht notwendig entgegen; sie bedingen jedoch eine sorgfältige Darlegung und Abgleichung dessen, was er bei seiner polizeilichen Vernehmung zu diesen Punkten im Einzelnen mitgeteilt hat. Dies gilt namentlich vor dem Hintergrund, dass das Landgericht das Verfahren wegen zehn weiterer Taten gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hat. Den Grund für diese Teileinstellung teilt die Strafkammer nicht mit. Insoweit ist dem Urteil an anderer Stelle lediglich zu entnehmen, dass der Zeuge sich sicher nur an die festgestellten Fälle erinnere (UA S. 16). Gleichwohl könnten auch andere Gründe für die Einstellung eine Rolle gespielt haben, denen für die Frage der Glaubwürdigkeit des einzigen Belastungszeugen Bedeutung zukommen kann (vgl. BGHSt 44, 153, 160).

b) Des Weiteren verhält sich das Urteil nicht dazu, wann die letzte gravierende Tat stattgefunden hat. Nach der unwiderlegten Einlassung des Angeklagten hat er V. zuletzt Silvester 2004/2005 gesehen. Der Zeuge wiederum spricht von einem Tatzeitraum von Sommer 2004 bis Herbst 2004, "vielleicht auch später". Das Landgericht legt den Feststellungen offensichtlich zugrunde, dass die letzte Tat am 28. März 2005 geschehen sein könnte.

Eine genauere zeitliche Bestimmung, die ebenfalls durch einen Abgleich mit den polizeilichen Aussagen des Kindes und durch eine entsprechende Befragung von Zeugen, denen V. von den Vorfällen berichtet hatte, hätte erfolgen können, wäre für die Würdigung der Aussagegenese und -entwicklung von Bedeutung gewesen. Denn es kann einen Unterschied machen, ob sich der Zeuge nur wenige Tage nach der letzten Tat oder erst Monate später gegenüber seiner Mutter offenbart hat.

Das Gleiche gilt für die Frage, ob der Zeuge den Angeklagten zu Unrecht belastet haben könnte. Die Strafkammer geht davon aus, dass V. kein Motiv - insbesondere kein Rachemotiv - für eine Falschbelastung gehabt habe. Aus dem "Rausschmiss" am Silvesterabend 2004/2005 könne ein solches Motiv nicht hergeleitet werden, weil der Angeklagte keine Reaktion auf diesen Vorfall beschrieben habe. Dies trifft so nicht zu. Der Junge hat nach der auch insoweit unwiderlegten Einlassung des Angeklagten wohl aus Eifersucht auf den neuen Freund von T. überaus aufgebracht reagiert. In diesem Zusammenhang hätte deshalb auch die Möglichkeit erörtert werden müssen, ob sich der Zeuge durch die insbesondere auch für die Kinder des Angeklagten äußerst belastenden und familiär einschneidenden Schuldvorwürfe gegen ihren Vater an T. wegen dessen "Treulosigkeit" rächen wollte.

c) Schließlich hätte sich das Gericht, was den sachlichen Inhalt der Bekundungen des Zeugen betrifft, eingehender mit den äußeren Umständen des von V. geschilderten Oralverkehrs auseinandersetzen müssen. Es ist schon im Hinblick auf das hohe Entdeckungsrisiko schwer vorstellbar, dass der Angeklagte im Beisein seiner Kinder eine derartige Handlung begangen hat. Auch ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, weshalb sich V. in diesem Fall der Tat nicht entzogen hat, was möglich gewesen wäre. Ob diese Umstände bei der Vernehmung des V. oder des ebenfalls als Zeugen vernommenen Sohnes des Angeklagten problematisiert worden sind, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 362

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2008, 254

Bearbeiter: Karsten Gaede