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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 455

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 485/21, Beschluss v. 15.02.2022, HRRS 2022 Nr. 455


BGH 4 StR 485/21 - Beschluss vom 15. Februar 2022 (LG Zweibrücken)

Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Kompensationsentscheidung).

Art. 6 Abs. 1 EMRK

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Zweibrücken vom 15. Juli 2021 aufgehoben, soweit eine Entscheidung über die Kompensation einer weiteren rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für die Zeit seit dem 30. Juni 2017 unterblieben ist.

2. Die weiter gehende Revision wird mit der Maßgabe verworfen, dass die Angeklagte der Misshandlung von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, und des Betruges schuldig ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte die Angeklagte im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 30. Juni 2017 wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in vier Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, und wegen Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Außerdem hatte es festgestellt, dass sechs Monate der Strafe wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Mit Beschluss vom 8. November 2018 - 4 StR 61/18 - hob der Senat das Urteil auf die Revision der Angeklagten mit den zugehörigen Feststellungen auf, soweit die Angeklagte in zwei Fällen (Fälle II. I. und II. II. a.) wegen (schwerer) Misshandlung von Schutzbefohlenen, in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, verurteilt worden war, sowie im Strafausspruch in dem Fall II. II. b. (Betrug) und im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

Mit Urteil vom 15. Juli 2021 hat das Landgericht die Angeklagte im zweiten Rechtsgang nunmehr der „schweren Misshandlung Schutzbefohlener in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und des Betruges“ für schuldig befunden, sie „unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil der 1. Strafkammer des Landgerichts Zweibrücken vom 30. Juni 2017“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und festgestellt, dass sechs Monate dieser Strafe als bereits vollstreckt gelten.

Hiergegen wendet sich die Revision der Angeklagten mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel erzielt den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg und führt überdies zu einer Klarstellung des Schuldspruchs; im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Begründung, mit der die Kammer die Notwendigkeit einer (weiteren) Kompensationsentscheidung wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung in der Zeit nach dem 30. Juni 2017 verneint hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die Kammer hat zwar im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass die Entscheidung des Landgerichts in dem Urteil vom 30. Juni 2017, wonach sechs Monate der Gesamtfreiheitsstrafe aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten, von dem Senat im Beschluss vom 8. November 2018 nicht aufgehoben wurde und daher in Rechtskraft erwachsen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - 4 StR 41/21 Rn. 1; Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, NJW 2009, 3734). Soweit sie daraus den Schluss gezogen hat, dass deshalb für eine weitere Kompensationsentscheidung kein Raum mehr gewesen sei, übersieht sie jedoch, dass die rechtskräftige Kompensationsentscheidung ausschließlich den Zeitraum bis zum Erlass des Urteils im ersten Rechtsgang betraf (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2016 - 1 StR 121/16 Rn. 28). Über einen Ausgleich für nach diesem Zeitpunkt entstandene Verfahrensverzögerungen war daher noch zu entscheiden.

b) Auch die Hilfserwägung der Strafkammer, für eine weitere Kompensationsentscheidung habe auch deswegen keine Veranlassung bestanden, weil das Verfahren seit dem Urteil im ersten Rechtsgang „in einer der Komplexität des Verfahrens angemessenen Weise gefördert“ worden sei, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil sich bereits aus den Urteilsgründen ausreichende Anhaltspunkte ergeben, die zur Prüfung einer Kompensation drängen mussten (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2021 - 4 StR 30/21 Rn. 21; Beschluss vom 28. Mai 2020 - 3 StR 99/19 Rn. 24; Urteil vom 28. Juni 2005 - 4 StR 119/05, NStZ-RR 2006, 56, 57; Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 376/03, BGHSt 49, 342).

Das angefochtene Urteil ist am 15. Juli 2021 ergangen. Vor dem Hintergrund, dass das im ersten Rechtsgang am 30. Juni 2017 verkündete Urteil aufgrund des Senatsbeschlusses vom 8. November 2018 bereits teilweise in Rechtskraft erwachsen war und sich der verbleibende Prozessstoff dadurch reduziert hatte, hätte es insbesondere näherer Darlegung bedurft, warum mit der Durchführung der neuerlichen Hauptverhandlung erst am 7. Juni 2021 begonnen werden konnte.

2. Der Senat fasst den Schuldspruch der angefochtenen Entscheidung neu. Aus Gründen der Klarheit ist es zweckmäßig, in die Urteilsformel auch die bereits rechtskräftigen Bestandteile des Schuldspruchs aufzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juli 2019 - 2 StR 160/19 Rn. 2).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 455

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß