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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 835

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 197/21, Urteil v. 12.05.2022, HRRS 2022 Nr. 835


BGH 4 StR 197/21 - Urteil vom 12. Mai 2022 (LG Siegen)

Recht des letzten Wortes (negative Beweiskraft des Protokolls; Revisionsgrund: kein absoluter Revisionsgrund, kein Beruhen nur im Ausnahmefall); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit: schwere Persönlichkeitsstörung, andere seelische Störung, abweichendes Sexualverhalten, Pädophilie, Einlassung des Angeklagten).

§ 258 StPO; § 274 StPO; § 63 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar stellt die Verletzung des § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO keinen absoluten Revisionsgrund dar. Allerdings kann bei Versagung des letzten Wortes, dessen Sinn es ist, dass der Angeklagte noch im letzten Augenblick entlastende Umstände vorbringen kann, ein Beruhen nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden.

2. Eine festgestellte Sexualdevianz kann im Einzelfall eine andere seelische Störung und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau von Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnet.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 4. Januar 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.

Gründe

Im ersten Rechtsgang hatte das Landgericht den Angeklagten wegen Vergewaltigung in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Sich-Verschaffen jugendpornographischer Schriften am 4. Juli 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf seine Revision hob der Senat das Urteil mit Beschluss vom 10. März 2020 (4 StR 624/19) im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück. Diese hat den Angeklagten nunmehr im zweiten Rechtsgang zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten hat Erfolg.

1. Nach den im ersten Rechtsgang getroffenen und für die Strafkammer bindenden Feststellungen erschlich sich der wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs vorbestrafte Angeklagte in einem „Chatroom“ im Internet unter verschiedenen Identitäten das Vertrauen der 14-jährigen Nebenklägerin. Auf diese Weise getarnt drohte er ihr mit Repressalien, die eine kriminelle Organisation an ihr, ihrer Familie und vermeintlichen, tatsächlich von ihm erfundenen „Online-Freunden“ begehen werde, wenn sie seinen Anweisungen nicht Folge leiste. Hierdurch erreichte er, dass sie bei mehreren Videotelefonaten eine Vielzahl sexueller Handlungen an sich vornahm und ihm Fotos und Videos weiterer solcher Handlungen übersandte, bei denen sie sich - ebenfalls auf Anweisung des Angeklagten - mehrfach mit Gegenständen selbst penetrierte.

Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hat das Landgericht damit begründet, dass seine Steuerungsfähigkeit bei allen Taten aufgrund einer schweren Sexualdevianz in Form einer Pädophilie vom nicht ausschließlichen Typ und sexuellem Sadismus erheblich vermindert gewesen sei. Die Feststellungen zur Sexualdevianz und deren Erheblichkeit sowie die Gefährlichkeitsprognose hat es maßgeblich auf die in der Hauptverhandlung und gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen gemachten Angaben des Angeklagten gestützt. Nachdem der Angeklagte die von ihm erlebte „sexuelle Dranghaftigkeit“ in der neuen Hauptverhandlung erstmalig detailliert geschildert habe, hätten sich für den Sachverständigen wichtige Anknüpfungstatsachen für die Einordnung der Devianz ergeben und ihm die Stellung einer „deutlichen Diagnose“ ermöglicht, die bei früheren Begutachtungen nicht mit der notwendigen Sicherheit gestellt werden konnte. Der Angeklagte habe mehrfach deutlich gemacht, dass er seine Sexualität selbst als schwerwiegend gestört empfinde, weil sie aufgrund ihrer Intensität sein Leben einnehme und für ihn nicht beherrschbar sei. Er habe offen und überlegt erklärt, dass er den einzigen Weg, straffrei zu bleiben, im Vollzug der Maßregel nach § 63 StGB sehe.

2. Die vom Beschwerdeführer erhobene Verfahrensrüge, ihm sei entgegen § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO das letzte Wort nicht erteilt worden, führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.

a) Ihr liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls hielten nach dem Schluss der Beweisaufnahme im Termin vom 8. Dezember 2020 die Staatsanwaltschaft und im Termin vom 21. Dezember 2020 der Vertreter der Nebenklägerin sowie der Verteidiger des Angeklagten ihre Schlussvorträge. Im Termin am 4. Januar 2021 verkündete die Vorsitzende nach Wiederaufruf der Sache das Urteil. Der Angeklagte rügte in der am 12. April 2021 beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründungsschrift die Nichterteilung des letzten Wortes. Die Vorsitzende vermerkte daraufhin noch am selben Tag in der Akte, dass sich beide Beisitzer auf Nachfrage daran erinnerten, dass dem Angeklagten das letzte Wort erteilt worden und deshalb beabsichtigt sei, das Protokoll entsprechend zu berichtigen. Diesen Vermerk übermittelte sie an die Verfahrensbeteiligten. Der Verteidiger des Angeklagten widersprach der beabsichtigten Protokollberichtigung und regte an, die Protokollführerin zu befragen. Die Vorsitzende erstellte daraufhin einen weiteren Vermerk, wonach sie, eine Beisitzerin und eine Zeugin erinnerten, dass dem Angeklagten das letzte Wort gewährt worden sei. Der weitere Berufsrichter, die Schöffen und der Vertreter der Staatsanwaltschaft hätten dagegen keine konkreten Erinnerungen mehr an den Vorgang. Mit Beschluss vom 12. Mai 2021 wurde das Protokoll dahingehend ergänzt, dass vor der Protokollierung der Urteilsverkündung der Satz eingefügt wurde „Der Angeklagte hatte das letzte Wort. Er erklärte nichts“.

b) Aufgrund der negativen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 Satz 1 StPO steht fest, dass dem Angeklagten vor der Urteilsverkündung am 4. Januar 2021 das letzte Wort nicht gewährt worden ist. Dabei ist das Protokoll in seiner ursprünglichen Fassung zugrunde zu legen. Durch den Beschluss vom 12. Mai 2021 ist es nicht berichtigt worden, weil dieser nicht in einem Verfahren ergangen ist, das den im Beschluss des Großen Senats für Strafsachen niedergelegten Grundsätzen zur nachträglichen Protokollberichtigung entspricht (vgl. Beschluss vom 23. April 2007 - GSSt 1/06, BGHSt 51, 298). Hiernach setzt die Protokollberichtigung die sichere Erinnerung beider beurkundenden Personen voraus. Daran fehlt es für die Protokollführerin, die keine entsprechende dienstliche Erklärung abgegeben hat. Die Protokollberichtigung ist daher zur Überprüfung der Verfahrensrüge unbeachtlich.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Strafausspruch auf diesem Rechtsfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).

Zwar stellt die Verletzung des § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO keinen absoluten Revisionsgrund dar. Allerdings kann bei Versagung des letzten Wortes, dessen Sinn es ist, dass der Angeklagte noch im letzten Augenblick entlastende Umstände vorbringen kann, ein Beruhen nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 1968 - 4 StR 190/68, BGHSt 22, 278; Beschluss vom 24. Juni 2014 - 3 StR 185/14 Rn. 6; Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 258 Rn. 69). Ein Sonderfall, in dem ein solcher Zusammenhang nach dem Verfahrensablauf sicher verneint werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 16. September 2015 - 5 StR 289/15; Urteil vom 21. März 1985 - 1 StR 417/84, NStZ 1985; 464, 465), liegt hier nicht vor. Die Strafkammer hat zwar bei der Strafrahmenwahl und der Strafzumessung nur aufgrund der Vorstrafe und des rechtskräftigen Schuldspruchs feststehende Umstände berücksichtigt und dem Angeklagten sein geständiges von (Behandlungs-) Einsicht und Reue getragenes Einlassungsverhalten ohne Einschränkungen zu Gute gebracht. Gleichwohl kann der Senat nicht ausschließen, dass sie aufgrund des letzten Wortes des Angeklagten zu einer auch nur geringfügig anderen Bewertung und damit zu einer geringeren Strafe gelangt wäre.

3. Ob auch die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB auf diesem Rechtsfehler beruht, muss der Senat nicht entscheiden. Denn der Maßregelausspruch hält bereits sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die insbesondere auf die Einlassung des Angeklagten und dessen Angaben gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen gestützte Überzeugung des Landgerichts, der Angeklagte habe bei den Taten sicher jeweils im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt, ist beweiswürdigend nicht tragfähig belegt.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend ist die Strafkammer davon ausgegangen, dass ein abweichendes Sexualverhalten, wie es für den Angeklagten in Form einer Pädophilie und eines sexuellen Sadismus festgestellt worden ist, nicht ohne Weiteres einer schweren Persönlichkeitsstörung gleichgesetzt und dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Störung im Sinne von §§ 20, 21 StGB zugeordnet werden kann. Eine festgestellte Sexualdevianz kann im Einzelfall eine andere seelische Störung und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau von Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnet (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 15. März 2016 - 1 StR 526/15, BGHR StGB § 63 Zustand 45 Rn. 13; Beschluss vom 10. November 2015 - 3 StR 407/15 Rn. 9; Beschluss vom 6. Juli 2010 - 4 StR 283/10 Rn. 4).

b) Seine vom Sachverständigen geteilte Einschätzung, die paraphile Störung des Angeklagten erreiche diesen Schweregrad, hat die Strafkammer allein auf die Angaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung und bei der Exploration durch den psychiatrischen Sachverständigen gestützt. Der Angeklagte habe die Dranghaftigkeit seines Verhaltens, die Steigerung der Masturbationsfrequenz, die sich aus der sexuellen Überbeschäftigung ergebenden Auswirkungen auf sein Arbeits- und Privatleben und die Einengung seines Verhaltens auf die Internet-Aktivität und Fantasiebetätigung ausführlich und glaubhaft beschrieben. Sie habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Angaben des Angeklagten nicht wahr seien oder nicht seiner Überzeugung entsprächen. Der Leidensdruck des Angeklagten sei während seiner Einlassung zu erkennen gewesen. Seine Angaben in der Hauptverhandlung stimmten mit denen gegenüber dem Sachverständigen überein.

c) Diese Ausführungen lassen die erforderliche eigenständige kritische Würdigung der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vermissen; dies lässt besorgen, dass das Tatgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen, nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und der Entscheidung zugrunde zu legen sind, wenn es für ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit keine Beweise gibt. Vielmehr ist die Einlassung des Angeklagten - ebenso wie andere Beweismittel - auf ihre Plausibilität und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (vgl. BGH, Urteil vom 5. November 2020 - 4 StR 381/20, NStZ 2021, 574, Rn. 11; Beschluss vom 12. November 2019 - 5 StR 451/19, Rn. 7; Beschluss vom 20. April 2006 - 3 StR 284/05, NStZ 2006, 652, 653; Beschluss vom 16. Oktober 1997 - 4 StR 482/97, StV 1998, 589, 590).

Die Urteilsgründe ergeben nicht, dass die Strafkammer die Angaben des Angeklagten einer hinreichenden inhaltlichen Überprüfung unterzogen hat, obwohl hierzu aufgrund der Besonderheiten des Verfahrensablaufs und der Persönlichkeit des Angeklagten Anlass bestand.

Im zweiten Rechtsgang war aufgrund des bereits rechtskräftigen Schuldspruchs nur noch über die Rechtsfolgen zu befinden. Dem Angeklagten drohte neben einer mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. In dieser Verfahrenssituation hat der Angeklagte erstmals eine extreme sexuelle Dranghaftigkeit geschildert, die er nicht nur bei den verfahrensgegenständlichen Taten, sondern auch bereits bei den mehrere Jahre zurückliegenden Taten aus der Vorverurteilung erlebt haben will. Mit Blick hierauf durfte das Landgericht seine Angaben zu einem sich stetig steigernden massiven sexuellen Verlangen, der Einengung seines Verhaltens hierauf und den Auswirkungen auf sein Arbeits- und Privatleben nicht ohne weitere Überprüfung allein aufgrund der konstanten Schilderung und des Eindrucks in der Hauptverhandlung hinnehmen. Vielmehr hätte es in Erwägung ziehen müssen, ob der ausweislich der Urteilsgründe intelligente, hoch manipulative Angeklagte den Schweregrad und die Auswirkungen seiner Paraphilie bewusst übertrieben dargestellt haben könnte, um sich der vollen Verantwortung für sein Verhalten zu entziehen.

4. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alternative StPO Gebrauch und verweist die Sache an eine Strafkammer des Landgerichts Hagen zurück.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 835

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß