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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 62

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 175/20, Beschluss v. 03.12.2020, HRRS 2021 Nr. 62


BGH 4 StR 175/20 - Beschluss vom 3. Dezember 2020 (LG Kaiserslautern)

Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (mehrstufige Prüfung; Schwachsinn: Abgrenzung von Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund und bloßer Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit; krankheitsbedingt fehlende Unrechtseinsicht); Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Feststellung und Beleg der für die Gefährlichkeitsprognose maßgeblichen Umstände).

§ 20 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Schließlich ist im Einzelnen darzulegen, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der einzelnen Taten auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

2. Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des Schwachsinns unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber noch nicht. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, bei der darzulegen ist, warum das auf die festgestellte Intelligenzminderung zurückzuführende Störungsbild bei wertender Betrachtung in seiner Gesamtheit ein Ausmaß erreicht hat, das die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit rechtfertigt.

3. Zwar kann das Leugnen von Tatabläufen den Schluss auf eine krankheitsbedingt fehlende Unrechtseinsicht rechtfertigen. Dies wird aber nur dann in Betracht kommen, wenn dem eine psychotische Realitätsverkennung zugrunde liegt.

4. Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein.

Entscheidungstenor

1. Dem Angeklagten wird von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Revision gewährt.

Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.

2. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 13. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen (Fälle II. 1 bis 6 der Urteilsgründe) bleiben aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung in zwei Fällen, der vorsätzlichen Körperverletzung in zwei Fällen und der Sachbeschädigung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Das Rechtsmittel hat nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Dem in einem psychiatrischen Krankenhaus vorläufig untergebrachten Angeklagten war von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision zu gewähren, weil eine Häufung außerordentlicher Umstände (schuldhaftes Verhalten seines früheren Pflichtverteidigers) vorliegt, die sich auf die Begründung der von ihm eingelegten Revision ausgewirkt haben. Eine andere Entscheidung wäre zu formalistisch und liefe dem Grundsatz der praktischen und wirksamen Anwendung der Konvention (Art. 6 EMRK) zuwider (vgl. EGMR [V. Sektion], Urteil vom 1. September 2016 - 24062/13 [Marc Brauer/Deutschland], NVwZ 2018, 635 Rn. 45).

II.

Die danach zulässige Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.

1. Nach den Feststellungen schlug der Angeklagte am 11. Mai 2019 dem Geschädigten C. nach einer zunächst verbal geführten Auseinandersetzung mit einem „Gegenstand aus Glas“ auf den Kopf. Der Gegenstand zerbrach; der Geschädigte erlitt eine Platzwunde. Dem Angeklagten war dabei bewusst, dass durch den Schlag erhebliche Verletzungen herbeigeführt werden konnten. Anschließend attackierte er den zu Boden gegangenen Geschädigten mit einer Glasscherbe, wobei er wiederum auf dessen Kopf zielte. Der Geschädigte konnte die Schläge mit den Händen abwehren (Fall II. 1 der Urteilsgründe). Am 24. Mai 2019 trat der Angeklagte in einer Fußgängerzone gegen ein Werbeschild, das dadurch leicht beschädigt wurde (Fall II. 2 der Urteilsgründe). Unmittelbar danach trat er einem an der Hand seiner Mutter gehenden fünf Jahre alten Kind derart heftig in den unteren Bauch, dass es nach hinten geschleudert wurde und ein stumpfes Bauchtrauma erlitt (Fall II. 3 der Urteilsgründe). Am 5. Juni 2019 schlug der Angeklagte im Stationsflur einer psychiatrischen Klinik dem Geschädigten A. mit der flachen Hand ins Gesicht, wodurch dieser zu Boden ging. Als sich der Geschädigte wieder erheben wollte, trat der Angeklagte in Richtung seines Kopfes, traf aber nur den Oberkörper (Fall II. 4 der Urteilsgründe). Am 9. Juni 2019 schlug der Angeklagte in einer psychiatrischen Klinik dem zwei Jahre alten Kind eines Besuchers mit der flachen Hand ins Gesicht (Fall II. 5 der Urteilsgründe). Am 16. Juni 2019 geriet der Angeklagte in einem psychiatrischen Krankenhaus mit einer Mitpatientin in Streit. Dabei schlug er ihr mehrfach mit der flachen Hand in das Gesicht und gegen den Kopf (Fall II. 6 der Urteilsgründe).

Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Fall II. 1 der Urteilsgründe), vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB in vier Fällen (Fälle II. 3 bis 6 der Urteilsgründe) und Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB (Fall II. 2 der Urteilsgründe) bewertet. Sie ist - sachverständig beraten - weiter davon ausgegangen, dass der Angeklagte zu allen Tatzeiten an hebephrener Schizophrenie sowie einer leicht- bis mittelgradigen Intelligenzminderung mit Verhaltensstörung litt. Ersteres sei als krankhafte seelische Störung zu werten; letztere erfülle die Voraussetzungen des Schwachsinns im Sinne des § 20 StGB. Aufgrund dessen sei die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen. Infolge der bei ihm vorhandenen Störung seien von ihm weitere Straftaten vergleichbar den Anlasstaten zu erwarten.

2. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB kann nicht bestehen bleiben, weil die von der Strafkammer angenommene Aufhebung der Einsichtsfähigkeit gemäß § 20 StGB nicht belegt ist. Auch die Gefährlichkeitsprognose weist Rechtsfehler auf.

a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Schließlich ist im Einzelnen darzulegen, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der einzelnen Taten auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2020 - 2 StR 43/20 Rn. 11; Beschluss vom 7. Mai 2020 - 4 StR 117/20 Rn. 7; Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146 mwN; Schöch in Kröber et al., Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 1, S. 135).

aa) Die Urteilsgründe ergeben bereits nicht, dass der Angeklagte auch an einem Schwachsinn im Sinne des § 20 StGB leidet.

(1) Zwar kann eine Intelligenzminderung ohne nachweisbaren Organbefund dem Eingangsmerkmal des Schwachsinns unterfallen und damit eine besondere Erscheinungsform schwerer anderer seelischer Abartigkeiten darstellen. Die bloße Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit begründet eine solche Beeinträchtigung aber noch nicht. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, bei der darzulegen ist, warum das auf die festgestellte Intelligenzminderung zurückzuführende Störungsbild bei wertender Betrachtung in seiner Gesamtheit ein Ausmaß erreicht hat, das die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit rechtfertigt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 4 StR 408/19, NStZ-RR 2020, 36 mwN).

(2) Den sich daraus ergebenden Darlegungsanforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Denn sie teilen lediglich mit, dass der Sachverständige die Intelligenz des Angeklagten als „leicht- bis mittelgradig beeinträchtigt“ eingeschätzt habe. Im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose und damit in einem anderen Zusammenhang wird weiter ausgeführt, dass der Angeklagte mit der Alltagsbewältigung überfordert sei, Orientierungs- und Gedächtnisstörungen zeige und kognitive Defizite aufweise. Eine an dem aufgezeigten Maßstab orientierte wertende Betrachtung des Störungsbildes in seiner Gesamtheit hat die Strafkammer an keiner Stelle erkennbar vorgenommen.

bb) Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit bei den jeweiligen Taten begründet hat, erweisen sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

(1) Die Strafkammer hat ihre Annahme, die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei zu den Tatzeitpunkten aufgehoben gewesen, damit begründet, dass er dazu geneigt habe, Tatabläufe zu leugnen und ins Gegenteil zu verkehren.

Auch sei der Angeklagte im zeitlichen Zusammenhang mit den Taten durch psychotisches Erleben sowie kognitive Beeinträchtigungen aufgefallen und habe weiterhin Anzeichen einer hebephrenen Schizophrenie gezeigt. Dass die Vorstellungen des Angeklagten von seiner Krankheit bestimmt gewesen seien, ergebe sich auch daraus, dass er geäußert habe, es sei das Schicksal des Geschädigten C. gewesen, von ihm geschlagen zu werden (Fall II. 1 der Urteilsgründe). Für die Annahme fehlender Unrechtseinsicht spreche zudem, dass der Angeklagte die Tritte gegen das Werbeschild (Fall II. 2 der Urteilsgründe) und zum Nachteil des fünf Jahre alten Kindes (Fall II. 3 der Urteilsgründe) auf Stresssituationen zurückgeführt habe.

(2) Diese Erwägungen greifen zu kurz und werden von den Feststellungen nicht getragen. Zwar kann das Leugnen von Tatabläufen den Schluss auf eine krankheitsbedingt fehlende Unrechtseinsicht rechtfertigen. Dies wird aber nur dann in Betracht kommen, wenn dem eine psychotische Realitätsverkennung zugrunde liegt (vgl. MüKo-StGB/Streng, 4. Aufl., § 20 Rn. 48). Dergleichen ist hier aber für keinen Tatzeitpunkt festgestellt. Soweit die Strafkammer psychotisches Erleben und kognitive Beeinträchtigungen bei dem Angeklagten im Tatzeitraum als Argument herangezogen hat, wird ein konkreter Tatbezug nicht aufgezeigt. Auch fehlt es an den erforderlichen Belegen. Die von dem Angeklagten geltend gemachten Stresssituationen deuten vor dem Hintergrund der diagnostizierten hebephrenen Schizophrenie eher auf eine emotionale Überforderung und damit auf eine mögliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 5. Februar 2019 - 2 StR 505/18, NStZ-RR 2019, 134, 135; Beschluss vom 14. Juli 2010 - 2 StR 278/10 Rn. 8), nicht aber auf fehlende Unrechtseinsicht hin. Soweit die Strafkammer bei der Entwicklung der Gefährlichkeitsprognose darauf abgehoben hat, dass die verfahrensgegenständlichen Taten auch deshalb einen Symptomcharakter haben, weil sie auf die Impulsivität des Angeklagten hinweisen, spricht auch dies eher für eine mögliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit.

b) Zuletzt begegnet auch die Gefährlichkeitsprognose durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 4 StR 408/19, NStZ-RR 2020, 36, 37; Beschluss vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338 mwN). Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 4 StR 408/19, NStZ-RR 2020, 36, 37; Beschluss vom 22. Juli 1992 - 2 StR 293/92, BGHR § 56 I Sozialprognose 24).

bb) Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht.

Die Strafkammer hat unter anderem als prognoseungünstig bewertet, dass der Angeklagte mehrfach tätlich aggressives Verhalten gezeigt und dabei 2018 „in der Schweiz bzw. Freiburg eine Mutter mit ihrem siebenjährigen Sohn angegriffen und diese ins Genick geschlagen habe“. Konkrete und beweiswürdigend unterlegte Feststellungen zu einem derartigen Vorgang werden im Urteil aber nicht getroffen. Auch ein Bezug zu den in Rede stehenden psychischen Defekten wird nicht aufgezeigt.

3. Die angeführten Rechtsfehler führen nicht nur zur Aufhebung der Unterbringungsentscheidung, sondern auch zur Aufhebung des Freispruchs. Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht der Aufhebung des Freispruchs nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; vgl. BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; Beschluss vom 26. September 2012 ? 4 StR 348/12, NStZ 2013, 424). Auch kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass der neue Tatrichter an Stelle der Unterbringung eine Strafe verhängen wird. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bei den Taten gemäß Fälle II. 1 bis 6 der Urteilsgründe können bestehen bleiben, da sie rechtsfehlerfrei getroffen worden sind.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 62

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 41; StV 2021, 217

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner