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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 832

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 622/19, Beschluss v. 07.04.2020, HRRS 2020 Nr. 832


BGH 4 StR 622/19 - Beschluss vom 7. April 2020 (LG Hagen)

Teileinstellung bei mehreren Taten (Verfahrenshindernis durch Einstellung durch Gerichtsbeschluss); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit; Fälle, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht).

§ 154 Abs. 2 StPO; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Mit der wirksamen Einstellung durch Gerichtsbeschluss gemäß § 154 Abs. 2 StPO entsteht ein Verfahrenshindernis, das in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist.

2. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Die revisionsrechtliche Prüfung ist auf die Frage beschränkt, ob diesem ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Das Tatgericht ist von Rechts wegen verpflichtet, die Beweise erschöpfend zu würdigen. In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat. Erforderlich ist insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Angaben, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailreichtum und Plausibilität der Angaben des Belastungszeugen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 4. Juli 2019 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II.2. der Urteilsgründe verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last;

b) das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. a) Nach den Feststellungen veranlasste der Angeklagte seine am 14. Dezember 2007 geborene Tochter A. zwischen dem 1. Juli 2014 und dem 1. Juni 2016 in der Wohnung seiner Ehefrau unter der Dusche dazu, seinen Penis anzufassen und daran zu manipulieren (Tat II.1. der Urteilsgründe). An einem nachfolgenden, nicht genau feststellbaren Tag im Tatzeitraum hielt sich A. M. abends in der Wohnung des Angeklagten auf und bat ihn um ein Überraschungs-Ei. Der Angeklagte versprach ihr die Süßigkeit für den nächsten Morgen, wenn sie sich ausziehe und in sein Bett lege. Nachdem die Zeugin dies getan hatte, entkleidete sich der Angeklagte, legte sich auf das rücklings auf dem Bett liegende Kind, führte seinen Penis in dessen Scheide ein und vollzog den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihm. Anschließend forderte er seine Tochter auf, sich umzudrehen, führte seinen Penis in den Anus des Kindes ein und vollzog den Analverkehr. Sodann vollzog er, nachdem sich das Kind auf seine Aufforderung auf den Rücken gedreht hatte, erneut den vaginalen Geschlechtsverkehr und schließlich ein weiteres Mal den Analverkehr (Tat II.2. der Urteilsgründe). In mindestens drei Fällen in dem vorgenannten Tatzeitraum missbrauchte der Angeklagte seine am 3. Dezember 2008 geborene Tochter S., indem er sie aufforderte, Hose und Unterhose auszuziehen und ihre Beine zu spreizen. Anschließend vollzog er den vaginalen Geschlechtsverkehr mit dem Kind bis zum Samenerguss (Taten II.3. bis 5. der Urteilsgründe).

b) Der Angeklagte hat die Tatbegehung bestritten. Auf das Missbrauchsgeschehen hindeutende objektive Spuren waren nicht festzustellen. Eine am 23. Juni 2016 durchgeführte körperliche Untersuchung beider Kinder ergab, dass die Hymen beider Mädchen intakt waren; auch im Übrigen konnten körperliche Hinweise auf einen etwaigen sexuellen Missbrauch nicht gefunden werden. Das - sachverständig beratene - Landgericht hat sich von der Begehung der Taten aufgrund der Angaben der Zeuginnen A. und S. M. überzeugt, die es - in Übereinstimmung mit den gutachterlichen Ausführungen der aussagepsychologischen Sachverständigen - für erlebnisbasiert und glaubhaft erachtet hat.

2. Die Revision führt zur Einstellung des Verfahrens, soweit der Angeklagte im Fall II.2. der Urteilsgründe verurteilt wurde. Das Landgericht hat die Tat in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, sie anschließend aber gleichwohl abgeurteilt.

a) In der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Hagen wurden dem Angeklagten insgesamt vier zum Nachteil seiner Tochter A. begangene Taten zur Last gelegt, wobei die jeweils als schwerer sexueller Missbrauch in Tateinheit mit Missbrauch von Schutzbefohlenen gewerteten Tathandlungen im engeren Sinne in den Fällen Ziffer 1., 2. und 4. der Anklageschrift dahin umschrieben wurden, dass der Angeklagte seine Tochter A. jeweils in seiner Wohnung dazu veranlasste, Schlafanzughose und Unterhose auszuziehen, sich rücklings auf ein Bett zu legen und sodann zunächst den vaginalen Geschlechtsverkehr und anschließend den Analverkehr mit dem Kind vollzog. Im Fall Ziffer 4. soll den sexuellen Handlungen vorausgegangen sein, dass A. den Angeklagten um ein Überraschungs-Ei bat und er als Gegenleistung von ihr sexuelle Handlungen forderte.

In der Hauptverhandlung vom 4. Juli 2019 beantragte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft unter anderem, die Anklagevorwürfe Ziffer 2. und 4. gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen. Nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten beschloss das Landgericht antragsgemäß, die Anklagevorwürfe zu Ziffer 2. und 4. gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen (vgl. Protokollband, Bl. 41). Anschließend wurde die Beweisaufnahme geschlossen, es folgten die Schlussvorträge, das letzte Wort und die Urteilsverkündung.

b) Der Verurteilung des Angeklagten im Fall II.2. der Urteilsgründe steht die Einstellung des Verfahrens hinsichtlich Ziffer 4. der Anklage entgegen, weil es sich um dieselbe Tat im prozessualen Sinne handelt. Mit der wirksamen Einstellung durch Gerichtsbeschluss gemäß § 154 Abs. 2 StPO entsteht ein Verfahrenshindernis, das in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist (BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 2013 - 4 StR 339/13, NStZ 2014, 46, 47; vom 4. Juni 2013 - 4 StR 192/13; vom 25. Januar 2012 - 1 StR 45/11, Rn. 19 ff.; vom 18. April 2007 - 2 StR 144/07, NStZ 2007, 476 und vom 7. März 2006 - 2 StR 534/05 mwN). Einen förmlichen Wiederaufnahmebeschluss, der das Verfahrenshindernis beseitigen könnte, hat das Landgericht nicht erlassen.

Es handelt sich bei der Tat II.2. der Urteilsgründe um die prozessuale Tat, die ausweislich des Gerichtsbeschlusses dem Vorwurf unter Ziffer 4. der Anklage entspricht. Allein die unter Ziffer 4. der Anklageschrift geschilderte Tat wird mit dem Umstand einer Entlohnung des Tatopfers mit einem Überraschungs-Ei verknüpft. Zwar hat die Zeugin in einer frühen Befragung angegeben, dass ihr Vater sie „immer mit einem Überraschungsei“ (UA 21) belohnt habe; in späteren Befragungen hat die Zeugin jedoch angegeben, dass dies nur ein einziges Mal geschehen sei. Die Strafkammer ist erkennbar nicht diesen frühen, pauschalen Angaben des Kindes gefolgt, sondern hat auf der Grundlage ihrer späteren Angaben angenommen, dass nur eine einzige Tat diese spezifische Vorgeschichte aufwies. Auf dieses durch diese Besonderheit gekennzeichnete Geschehen bezieht sich die gerichtliche Verfahrenseinstellung. Aufgrund des Gerichtsbeschlusses gemäß § 154 Abs. 2 StPO ist das Verfahren - soweit es diese Tat betrifft - deshalb nicht mehr anhängig.

3. Das Urteil hält auch im Übrigen sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts genügt nicht den an sie zu stellenden Anforderungen.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Die revisionsrechtliche Prüfung ist auf die Frage beschränkt, ob diesem ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 30. Januar 2018 - 4 StR 587/17, NStZ-RR 2018, 120; Urteile vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 und vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16). Das Tatgericht ist von Rechts wegen verpflichtet, die Beweise erschöpfend zu würdigen. In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat. Erforderlich ist insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Angaben, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailreichtum und Plausibilität der Angaben des Belastungszeugen (BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - 2 StR 487/18, StV 2019, 519, 520 mwN).

b) Gemessen hieran halten die Beweiserwägungen rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft, weil die Wertung des Landgerichts, die Angaben der Zeugin A. M. seien „im Wesentlichen konstant“, nicht nachvollziehbar ist.

Das Landgericht hat die erheblichen Abweichungen in den Angaben der Zeugin „ausnahmslos“ dadurch für erklärbar gehalten, „dass es tatsächlich - wie von der Zeugin mehrfach, zuletzt im Rahmen der Exploration durch die Sachverständige, berichtet - mehrere vergleichbare Vorfälle gegeben“ habe. Anhand der in den Urteilsgründen fragmentarisch wiedergegebenen Aussageinhalte erschließt sich nicht, worauf die Wertung beruht, dass A. „vergleichbare Vorfälle“ schilderte. So hat die Zeugin in einer frühen Vernehmung angegeben, ihr Vater habe seinen Penis in ihre Scheide stecken „wollen“, und sie habe versucht, dies durch „hin und her wackeln“ zu verhindern (UA 21). In einer in einem familiengerichtlichen Verfahren durchgeführten Vernehmung gab sie an, dass ihr Vater seinen Penis in Scheide und After gesteckt habe (UA 22). Demgegenüber gab sie in einer weiteren Vernehmung an, dass der Angeklagte versucht habe, den Vaginalverkehr zu vollziehen („den Penis in ihre Scheide zu tun“); dies sei jedoch misslungen, weil es wehgetan habe; er habe sie an der Scheide angefasst und einen Finger „in Scheide und Popo“ gesteckt. Demgegenüber gab sie in der durch die aussagepsychologische Sachverständige durchgeführten Exploration - wiederum - an, dass der Angeklagte mit ihr „von vorne und von hinten“ Sex gemacht und er den Vaginal- und den Analverkehr vollzogen habe.

In der Hauptverhandlung schilderte die Zeugin schließlich, dass der Angeklagte seinen Penis „jeweils zwei- oder dreimal in Scheide und Po getan“ habe, und dies nach diesem Tag nie wieder vorgekommen sei (UA 10). Weshalb dieses stark variierende Aussageverhalten eine Erklärung darin finden könnte, dass die Zeugin mehrere vergleichbare Vorfälle erlebt habe, erschließt sich ohne nähere Darlegungen nicht. Hieran fehlt es.

c) Auf diesem Erörterungsmangel beruht das Urteil auch hinsichtlich der zum Nachteil der Tochter S. M. begangenen Taten II.3. bis 5. der Urteilsgründe. Das Landgericht hat die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Angaben der Zeugin S. M. in einen - untrennbaren - Zusammenhang mit der Würdigung der Angaben der Zeugin A. M. gestellt. Denn es hat angenommen, dass die Angaben der jeweils anderen Zeugin für die Erlebnisbezogenheit der Schilderungen beider Zeuginnen sprächen (UA 44). Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen vermag der Senat ein Beruhen des Urteils auf diesen Erörterungsmängeln auch hinsichtlich der Taten II.3. bis 5. der Urteilsgründe nicht auszuschließen.

4. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird Gelegenheit haben, die Aussageentwicklung der Zeuginnen im Einzelnen aufzuklären und in den Urteilsgründen näher darzustellen, sowie mögliche Falschaussagemotive zu erörtern. Die Entstehungsgeschichte der Angaben beider Zeuginnen, insbesondere der Angaben von A. M., wird hier nicht zuletzt deshalb einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen sein, weil auch die (Halb-) Schwester P. Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen den Angeklagten erhoben haben soll, und das Landgericht - wie seine Bewertung der Aussagen der Zeugin A. M. gegenüber der Anzeigeerstattern B. L. zeigt - eine Suggestibilität der Zeugin in Erwägung gezogen hat.

Angesichts der schwierigen Beweislage wird das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht die Hinzuziehung eines weiteren aussagepsychologischen Sachverständigen zu erwägen haben.

Für den Fall einer Verurteilung wird es außerdem eine mögliche Gesamtstrafenlage (§ 55 StGB) in den Blick zu nehmen und Feststellungen zum Vollstreckungsstand der durch Urteil des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 9. November 2018 verhängten Strafe zu treffen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 832

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 257

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner