hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 332

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 587/17, Beschluss v. 30.01.2018, HRRS 2018 Nr. 332


BGH 4 StR 587/17 - Beschluss vom 30. Januar 2018 (LG Münster)

Lückenhafte Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 27. Juni 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Seine Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. a) Die Kinder der Nachbarn des Angeklagten, darunter auch die am 2. Dezember 2005 geborene Nebenklägerin, hielten sich spätestens seit Anfang 2015 zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten häufig im Haushalt des Angeklagten und seiner Ehefrau auf. Von einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Frühjahr 2015 an erschien die Nebenklägerin vornehmlich dann in der Wohnung des Angeklagten, wenn dessen Ehefrau abwesend war. Bei ihren Besuchen achtete sie darauf, immer besonders hübsch für den Angeklagten auszusehen. Einige Wochen vor dem hier verfahrensgegenständlichen Geschehen und der darauf folgenden Strafanzeige begann der Angeklagte ein „Spiel“ mit der Nebenklägerin. In einem Notizbuch notierte er auf zahlreichen Doppelseiten von ihm an die Nebenklägerin gestellte Fragen mit sexuellem Inhalt von steigender Intensität. Auf der Folgeseite notierte er jeweils die Antworten der Nebenklägerin, teilweise auch seine eigenen. In diesem Buch sind insbesondere zahlreiche Fragen des Angeklagten danach festgehalten, ob sie, die Nebenklägerin, seinen Penis sehen, anfassen, küssen, „rubbeln“ und in den Mund nehmen bzw. lutschen wolle, ferner, wohin er sein Sperma spritzen solle, und ob er ihre Scheide sehen, streicheln und küssen dürfe. Die notierten Antworten der Nebenklägerin, insbesondere jene nach ihrer Bereitschaft zur Vornahme weiterer sexueller Handlungen, sind überwiegend affirmativen Inhalts.

b) An einem nicht näher bestimmbaren Tag in der Zeit vom 1. bis zum 22. Juni 2015 nahm der Angeklagte die Nebenklägerin, die ihn besuchte, mit ins Schlafzimmer, wo er sie und sich selbst entkleidete. Nachdem sich beide auf das Bett gelegt hatten, wies der Angeklagte die Nebenklägerin an, an seinem Geschlechtsteil zu „rubbeln“. Sodann führte er ihre Hand an seinen Penis und schob sie daran bis zum Samenerguss hin und her. Das Ejakulat spritzte der Angeklagte auf den Bauch der Nebenklägerin und leckte anschließend an ihrer Scheide. Danach versuchte er, seinen Penis in ihre Scheide einzuführen, was aber nicht gelang. Sodann veranlasste der Angeklagte die Nebenklägerin, mit ihm zu duschen.

c) Am Nachmittag des 22. Juni 2015 traf die Zeugin R. zufällig die weinende Nebenklägerin, welche ihr erzählte, dass sie von ihrer Mutter geschlagen worden sei, sie daraufhin die Wohnung verlassen habe und nicht mehr zurückkehren wolle; lieber wolle sie in ein Kinderheim. Nachdem die Zeugin R. die Polizei benachrichtigt hatte, teilte die Nebenklägerin einem der Beamten mit, sie und ihre Schwester würden von der Mutter häufiger geschlagen. Ferner erzählte sie, sie sei in der Vergangenheit manchmal bei dem Angeklagten, dem Vermieter ihrer Mutter, zu Besuch gewesen. Dieser habe sie in den letzten zwei Wochen in seinem Schlafzimmer zweimal „vergewaltigt“.

2. a) Der Angeklagte hat die Einträge in dem Buch als von ihm und der Nebenklägerin stammend und als inhaltlich zutreffend bestätigt, den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Nebenklägerin indes bestritten. Die Nebenklägerin hat in der Hauptverhandlung bekundet, den Vorwurf, sie sei von ihrer Mutter häufiger geschlagen worden, erfunden zu haben, weil es häufig Streit zwischen ihnen gegeben habe. Ihre Angaben zum Tatvorwurf entsprächen jedoch der Wahrheit.

b) Die Angaben der Nebenklägerin seien, so die Würdigung der Strafkammer, als uneingeschränkt glaubhaft anzusehen. Das werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Nebenklägerin hinsichtlich der behaupteten Schläge durch ihre Mutter die Unwahrheit gesagt habe und ihre Schilderung des Missbrauchs durch den Angeklagten nicht in jeder Hinsicht konstant gewesen sei. Eine Suggestion der Nebenklägerin durch die Vernehmungsbeamtin der Kriminalpolizei oder die Zeugin R. hat das Landgericht ausgeschlossen. Gegen eine Suggestion sprächen auch die „qualitativ hochwertige Aussage“ der Nebenklägerin sowie die Eintragungen in dem Notizbuch, mit dem der Angeklagte die Nebenklägerin - in einer Art „Drehbuch“ - auf die Missbrauchshandlungen vorbereitet habe.

II.

Diese Erwägungen halten im Ergebnis rechtlicher Nachprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.

1. Die revisionsrechtliche Prüfung der Beweiswürdigung des Tatrichters beschränkt sich darauf, ob diesem Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148, und vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, Tz. 20, jeweils mwN). Die Beweise sind erschöpfend zu würdigen (BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20). Das Urteil muss insbesondere erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGH, Urteile vom 12. Februar 2015 und vom 1. Februar 2017, jeweils aaO).

2. Gemessen daran sieht der Senat hier einen - durchgreifenden - Erörterungsmangel, mithin eine Lücke in der Beweiswürdigung.

Das Landgericht sieht in den vom Angeklagten vorgenommenen Eintragungen in sein Notizbuch ein „starkes Indiz“ für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin zum unmittelbaren Tatgeschehen. Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe das Tatopfer durch das den Notizen zu Grunde liegende Frage-Antwort-„Spiel“ sexuellen Inhalts „angefüttert“ und nach Art eines „Drehbuchs“ für die Missbrauchshandlungen vorbereitet, stellt danach zwar für sich genommen eine mögliche Schlussfolgerung dar. Ein in Bezug auf die Suggestionshypothese bedeutsamer Umstand bleibt in diesem Zusammenhang aber unerörtert. Das Landgericht hätte eine mögliche suggestive Wirkung der vom Angeklagten gestellten Fragen auf das Aussageverhalten der im Tatzeitraum neun Jahre alten Nebenklägerin in den Blick nehmen müssen. Zahlreiche dieser Fragen sind auf die Erkundung der Bereitschaft der Nebenklägerin gerichtet, mit dem Angeklagten Sexualpraktiken durchzuführen bzw. haben sexuelle Handlungen zum Gegenstand, die deutliche Parallelen zu dem von ihr später geschilderten Missbrauchsgeschehen aufweisen. Erörterungsbedürftig war dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Fall umso mehr, als die Nebenklägerin in einem zentralen Punkt ihrer Aussage, die behaupteten Schläge der Mutter betreffend, nicht bei der Wahrheit geblieben ist.

Trotz der weiteren, den Angeklagten belastenden Umstände kann der Senat ein Beruhen des Urteils auf dem Erörterungsmangel nicht ausschließen.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 332

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 120; StV 2019, 523

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede