hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 828

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 562/19, Beschluss v. 22.04.2020, HRRS 2020 Nr. 828


BGH 4 StR 562/19 - Beschluss vom 22. April 2020 (LG Frankenthal)

Misshandlung von Schutzbefohlenen (Quälen: Definition, Konkurrenzen, subjektiver Tatbestand).

§ 223 StGB; § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Quälen im Sinne des § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 StGB bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden körperlicher oder seelischer Art, die über die typischen Auswirkungen der festgestellten einzelnen Körperverletzungshandlungen hinausgehen. Mehrere Körperverletzungshandlungen, die für sich genommen noch nicht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB erfüllen, können als ein Quälen im Sinne dieser Vorschrift zu beurteilen sein, wenn erst die ständige Wiederholung den gegenüber § 223 StGB gesteigerten Unrechtsgehalt ausmacht. Ob sich mehrere Körperverletzungshandlungen zu einer als Quälen zu bezeichnenden Tathandlung in diesem Sinne zusammenfügen, ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung zu entscheiden. Dabei sind räumliche und situative Zusammenhänge, zeitliche Dichte oder eine sämtliche Einzelakte prägende Gesinnung mögliche Indikatoren.

2. In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass der Täter bei jeder Tat den Vorsatz hat, dem Opfer sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zuzufügen, die über die typischen Auswirkungen hinausgehen, die mit der aktuellen Körperverletzungshandlung verbunden sind. Eine besondere subjektive Einstellung des Täters ist ? anders als bei der rohen Misshandlung oder der böswilligen Vernachlässigung ? insoweit nicht erforderlich.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 2. August 2019, soweit er verurteilt wurde, mit den Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen „Misshandelns von Schutzbefohlenen in zwei rechtlich selbständigen Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit 21 Fällen der gefährlichen Körperverletzung, im anderen Fall in Tateinheit mit 17 Fällen der gefährlichen Körperverletzung“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Kompensationsentscheidung getroffen. Die hiergegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen beging der Angeklagte zwischen Herbst 2007 und Ende 2010 eine „Vielzahl“ von körperlichen Übergriffen auf seine am 5. Dezember 1996 geborene Tochter A. und seinen am 23. Juli 1999 geborenen Sohn C. Dabei handelte der Angeklagte in Absprache mit seiner Ehefrau, die sich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmerte, während der Angeklagte den Lebensunterhalt für die Familie verdiente. Beide hatten vereinbart, dass seine Ehefrau ihm am Abend über „Verfehlungen“ (Lärm, schlechte schulische Leistungen, ungenügende Erledigung der Hausaufgaben) der Kinder, die auf Wunsch ihrer Eltern ein humanistisches Gymnasium besuchten und den schulischen Anforderungen nicht gewachsen waren, berichten und der Angeklagte die Bestrafung der Kinder in Form von Züchtigungen übernehmen sollte. Der Angeklagte, dem Art und Ausmaß der Züchtigungen überlassen blieben, entwickelte „im Laufe der Zeit ein perfides und ritualisiertes System der Bestrafung“, welches neben dem Züchtigungscharakter regelmäßig auch einen „besonders demütigenden Aspekt“ beinhaltete. Im Einzelnen hat das Landgericht der Verurteilung folgende Übergriffe zugrunde gelegt:

a) Zwischen Herbst 2007 und Ende des Jahres 2008 zwang der Angeklagte A. und C. zur Strafe für schlechte schulische Leistungen in drei Fällen dazu, sich zu entkleiden und nackt in die Badewanne zu stellen; anschließend duschte er die Kinder mehrere Minuten lang mit kaltem Wasser ab, bis diese vor Kälte zitterten und ihre Lippen blau anliefen (Vorfälle II. 1. bis 3. der Urteilsgründe).

b) In zwölf Fällen im vorgenannten Tatzeitraum bestrafte er die beiden Kinder für Ungehorsam oder schlechte schulische Leistungen, indem er sie dazu zwang, sich jeweils nacheinander mit entblößtem Gesäß über eine Holzbank im Badezimmer zu legen; sodann schlug er sie mit einem trockenen, später mit einem nassen zusammengedrehten Handtuch mehrfach fest auf das entblößte Gesäß, wobei er die Kinder teilweise die Anzahl der Schläge bestimmen ließ; je weniger Schläge die Kinder wählten, desto fester schlug der Angeklagte zu. Beide Kinder erlitten durch die Schläge Rötungen, teilweise auch Striemen am Gesäß und nicht unerhebliche Schmerzen (II.4. bis 15. der Urteilsgründe).

c) An vier im Einzelnen nicht feststellbaren Tagen in den Jahren 2008 bis 2010 schlug der Angeklagte beide Kinder mit einem etwa 70 Zentimeter langen und fünf Zentimeter breiten Aluminiumlineal mehrfach auf das entblößte Gesäß. Beide Kinder erlitten durch die Schläge, wie vom Angeklagten beabsichtigt, großflächige Hämatome, Schwellungen am Gesäß und Schmerzen, die mehrere Tage anhielten (II.16. bis 19. der Urteilsgründe).

d) Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Jahr 2008 ertappte der Angeklagte seinen Sohn C. bei einer Lüge und schlug ihm zur Strafe mit einem Kartenspiel so fest auf die Finger, dass diese mehrere Tage lang gerötet und geschwollen waren (II.20. der Urteilsgründe).

e) Zwischen Februar und Mai 2009 schlug der Angeklagte seinem Sohn C. in mindestens drei Fällen mit einer rund ein Meter messenden und zwei bis drei Zentimeter starken Holzlatte fest auf das entblößte Gesäß; im letzten Fall schlug der Angeklagte, weil sein Sohn lachte, so fest zu, dass die Holzlatte zerbrach. C. erlitt massive Schwellungen und Striemen am Gesäß und litt unter nicht unerheblichen Schmerzen (II. 21. bis 23. der Urteilsgründe).

f) Im August 2009 schlug der Angeklagte zur Strafe für den Diebstahl eines Bargeldbetrags in Höhe von 300 € mit beiden Fäusten auf den Oberkörper seines am Boden liegenden Sohnes C. ein; dieser trug mehrere Hämatome davon und erlitt erhebliche Schmerzen (II.24. der Urteilsgründe).

g) Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Jahr 2009 schlug der Angeklagte beiden Kindern mit einem Ledergürtel mehrfach fest auf das entblößte Gesäß; sie trugen Striemen davon und erlitten nicht unerhebliche Schmerzen (II.25. der Urteilsgründe).

h) Schließlich zwang der Angeklagte beide Kinder im Jahr 2009 oder 2010 dazu, jeweils einen Liter eines Erdbeermilchgetränks (II.26. der Urteilsgründe) bzw. 0,2 Liter eines Gemisches aus Milch und Speiseöl (II. 27. der Urteilsgründe) zu trinken, wovon ihnen übel wurde und C. sich in einem Fall übergeben musste und in dem anderen Fall unter Durchfall litt.

2. Das Landgericht hat die Taten ausweislich des Urteilstenors als zwei rechtlich selbständige Taten der Misshandlung von Schutzbefohlenen im Sinne des § 225 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB („quälen“) gewertet und dabei berücksichtigt, dass sämtliche Einzelhandlungen im Rahmen der elterlichen Erziehung und im elterlichen Haushalt stattfanden und sich über einen Tatzeitraum von etwas mehr als drei Jahren ein „ritualisiertes Bestrafungssystem für Fehlverhalten“ etablierte, das zu einer ständigen Wiederholung der Leiden der Kinder führte. Die Bestrafungen seien überwiegend für schlechte schulische Leistungen oder ungenügend erledigte Hausaufgaben erfolgt, wodurch ein andauernder Druck auf die Kinder aufgebaut worden sei, den viel zu hohen und unerreichbaren Ansprüchen der Eltern genügen zu müssen. Da dies nicht gelungen sei, hätten beide Kinder über die einzelnen Akte der Bestrafung hinaus in täglicher Angst vor weiteren Bestrafungen gelebt.

Das Landgericht hat außerdem angenommen, dass der Angeklagte in den Fällen II.4. bis II.19. und II.25. der Urteilsgründe zum Nachteil beider Kinder und in den Fällen II.20. bis II.23. zum Nachteil von C. tateinheitlich den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) verwirklichte.

II.

Die Schuldsprüche wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in zwei Fällen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Quälen im Sinne des § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 StGB bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender erheblicher Schmerzen oder Leiden körperlicher oder seelischer Art, die über die typischen Auswirkungen der festgestellten einzelnen Körperverletzungshandlungen hinausgehen (BGH, Beschluss vom 20. März 2012 - 4 StR 561/11, NStZ 2013, 466, 467; Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113, 115). Mehrere Körperverletzungshandlungen, die für sich genommen noch nicht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB erfüllen, können als ein Quälen im Sinne dieser Vorschrift zu beurteilen sein, wenn erst die ständige Wiederholung den gegenüber § 223 StGB gesteigerten Unrechtsgehalt ausmacht (BGH, Beschluss vom 24. Februar 2015 - 4 StR 11/15, BGHR StGB § 225 Abs. 1 Misshandlung 1; Urteile vom 26. Januar 2017 - 3 StR 479/16, NStZ 2017, 410, 412 und vom 17. Juli 2007 - 5 StR 92/07, BGHR StGB § 225 Misshandlung 2, Rn. 25). Ob sich mehrere Körperverletzungshandlungen zu einer als Quälen zu bezeichnenden Tathandlung in diesem Sinne zusammenfügen, ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung zu entscheiden. Dabei sind räumliche und situative Zusammenhänge, zeitliche Dichte oder eine sämtliche Einzelakte prägende Gesinnung mögliche Indikatoren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. November 2018 - 4 StR 61/18, NStZ-RR 2019, 144, 145; vom 24. Februar 2015 - 4 StR 11/15, BGHR StGB § 225 Abs. 1 Misshandlung 1).

In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass der Täter bei jeder Tat den Vorsatz hat, dem Opfer sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zuzufügen, die über die typischen Auswirkungen hinausgehen, die mit der aktuellen Körperverletzungshandlung verbunden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Oktober 2018 - 4 StR 414/18 und vom 30. März 2012 - 4 StR 561/11, NStZ 2013, 466, 467; Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 StR 479/16, NStZ 2017, 410, 412). Eine besondere subjektive Einstellung des Täters ist ? anders als bei der rohen Misshandlung oder der böswilligen Vernachlässigung ? insoweit nicht erforderlich (BGH, Urteil vom 4. August 2015 - 1 StR 624/14, BGHR StGB § 225 Abs. 1 Misshandlung 2).

2. Gemessen hieran ist weder die objektive noch die subjektive Tatseite tragfähig belegt. Die in den Urteilsgründen niedergelegten Erwägungen sind lückenhaft.

a) Das Landgericht hat sich bei Prüfung der Frage, ob sich die einzelnen Tathandlungen zu einer als Quälen im Sinne des § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 StGB zu bezeichnenden Tathandlung zusammenfügen, nicht mit der Anzahl und der Häufigkeit der Übergriffe auf die Tochter A. und den Sohn C. auseinandergesetzt. Die Ausführungen des Landgerichts, es habe sich um eine „Vielzahl“ von Bestrafungsakten gehandelt (UA 28), lässt besorgen, dass es die konkrete Anzahl der Bestrafungen, die sich über einen Zeitraum von rund drei Jahren und drei Monaten erstreckten, nicht hinreichend in den Blick genommen hat. Die Feststellungen legen nahe, dass zwischen den einzelnen Tathandlungen mehrere Wochen oder gar Monate gelegen haben. Dies hätte der Erörterung bedurft, weil die fehlende zeitliche Dichte der Annahme einer einzigen Tathandlung des Quälens entgegenstehen kann.

b) Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Vorsatz des Angeklagten maßgeblich auf den Umstand gestützt, dass der Angeklagte beide Kinder im Rahmen eines ritualisierten Bestrafungssystems zur Durchsetzung seiner Erziehungsziele züchtigte. Dabei hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte dieses ritualisierte Bestrafungssystem „im Laufe der Zeit“ entwickelt hat. Diese Feststellung lässt die Möglichkeit offen, dass der Angeklagte erst im Verlaufe des verfahrensgegenständlichen Zeitraums und nicht bereits - wie gemäß § 16 Abs. 1 StGB erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 91) - von der ersten Körperverletzungshandlung an mit bedingtem Vorsatz handelte, seine Kinder zu quälen.

3. Die Aufhebung der Schuldsprüche wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen zieht auch die Aufhebung der Schuldsprüche wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) nach sich. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass sich Urteilsformel (zwei tatmehrheitliche Fälle der Misshandlung von Schutzbefohlenen und Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe) und Urteilsgründe (Misshandlung von Schutzbefohlenen „in zwei tateinheitlichen Fällen“ und Verhängung einer Freiheitsstrafe, vgl. UA 24, 29) hinsichtlich der konkurrenzrechtlichen Bewertung der Taten widersprechen.

Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 828

Externe Fundstellen: StV 2021, 119

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner