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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 576

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 388/19, Beschluss v. 25.03.2020, HRRS 2020 Nr. 576


BGH 4 StR 388/19 - Beschluss vom 25. März 2020 (LG Essen)

Vorsatz (bedingter Tötungsvorsatz).

§ 15 StGB; § 212 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Beide Elemente des bedingten Vorsatzes müssen in jedem Einzelfall umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls erfolgen, in welche insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 22. Februar 2019, soweit es den Angeklagten betrifft, aufgehoben

a) hinsichtlich der Verurteilung wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers B. ; die tatsächlichen Feststellungen bleiben bestehen mit Ausnahme der Feststellungen zum Tötungsvorsatz, die aufgehoben werden;

b) im Strafausspruch zur Tat zum Nachteil des Nebenklägers M. sowie hinsichtlich der Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den Feststellungen kam es in den frühen Morgenstunden des Tattages in einem Lokal in E. zu einer zunächst verbal geführten Auseinandersetzung, an welcher der Angeklagte und sein ihn unterstützender Bruder, die beide das Lokal gegen den Willen des Wirts betreten hatten, auf der einen sowie der Wirt und der Nebenkläger M. auf der anderen Seite beteiligt waren. Als der Bruder des Angeklagten den Nebenkläger M. an dessen T-Shirt im Halsbereich anfasste oder ihm unmittelbar an den Hals griff, zog der Angeklagte ein bis dahin verborgen mitgeführtes Messer mit einer Klinge von mindestens zehn Zentimetern Länge und stach dem Nebenkläger M. mit Verletzungsabsicht zwei Mal in den linken Hüft- und Bauchbereich. Der Nebenkläger B., der das Geschehen beobachtet und den Messerangriff bemerkt hatte, schlug dem Angeklagten daraufhin entweder mit einem Gegenstand oder mit der Faust kräftig auf den Kopf, um dem Nebenkläger M. Hilfe zu leisten und weitere Messerstiche des Angeklagten zu unterbinden.

Der Angeklagte wandte sich nunmehr dem Nebenkläger B. zu und schob ihn in Richtung Theke. Entschlossen, ihn mit dem Messer gefährlich zu verletzen, stach er auf den Nebenkläger B., der vergeblich versuchte, den Angeklagten mit ausgestreckten Armen von sich fern zu halten, ein und brachte ihm eine Stichverletzung im unteren Bauchbereich bei. Anschließend gelang es einer Zeugin, den Angeklagten mit einem ihm mit den Beinen voraus entgegengehaltenen Barhocker zurückzudrängen.

Während der Angeklagte kurze Zeit in der Nähe der Eingangstür verharrte, ergriff der Nebenkläger B. eine in seiner Nähe befindliche Glasflasche. Sodann eilte der Angeklagte mit dem ununterbrochen angriffsbereit in der rechten Hand gehaltenen Messer zu dem Nebenkläger M., dem Wirt und seinem Bruder, die weiterhin in eine andauernde Auseinandersetzung verwickelt waren. Der Nebenkläger B., der das Zulaufen des Angeklagten auf die anderen beobachtet hatte, lief ihm hinterher und versetzte ihm mit der Glasflasche zwei Schläge auf den Hinterkopf. Der Angeklagte drehte sich daraufhin um und schob den Nebenkläger zurück vor die Theke. Spätestens zu diesem Zeitpunkt nahm der immer weiter in Wut geratene Angeklagte billigend in Kauf, dass der Nebenkläger B. durch weitere Messerstiche sein Leben verliert. Der Angeklagte stieß das Messer wuchtig und zielgerichtet in den Bauch des Nebenklägers und drang weiter auf ihn ein, worauf der um sein Leben kämpfende Nebenkläger dem Angeklagten die - dadurch zerberstende - Glasflasche ein weiteres Mal auf den Kopf schlug. Anschließend stach der nunmehr völlig in Rage befindliche Angeklagte wuchtig und mit erheblicher Kraftanstrengung auf den Nebenkläger B. ein, wobei er ihn zwei Mal im Brust- und Schulterbereich traf. Schließlich gelang es dem Nebenkläger B., den Angeklagten mit Hilfe eines dem Angeklagten mit den Stuhlbeinen voraus entgegengehaltenen Barhockers so abzuwehren, dass der Angeklagte eine Fortsetzung des Messerangriffs nicht mehr für möglich hielt.

Der Nebenkläger B. erlitt insgesamt sieben Einstiche, darunter eine Stichwunde mittig über dem Brustbein und drei weitere Stichverletzungen im Rumpfbereich, wobei eine Verletzung im oberen mittleren Bauchbereich eine Einstichtiefe von acht bis zehn Zentimetern aufwies und durch Verletzungen arterieller Gefäße eine erhebliche Einblutung in die Bauchhöhle verursachte, die ohne rasche ärztliche Versorgung zu einem Verbluten des Opfers geführt hätte.

Der Angeklagte seinerseits trug neben kratzer- bzw. schnittartigen Verletzungen im Nacken- sowie im Schläfen- und Hinterkopfbereich zwei etwa zwei Zentimeter große Riss-Quetschwunden am Kopf davon.

II.

1. Die Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen versuchten Totschlags zum Nachteil des Nebenklägers B. hat keinen Bestand. Die Beweiserwägungen, auf die das Landgericht seine Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes gestützt hat, halten unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteile vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 16; vom 5. Dezember 2017 ? 1 StR 416/17, NStZ 2018, 206, 207; vom 27. Juli 2017 ? 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38 f.) einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Beide Elemente des bedingten Vorsatzes müssen in jedem Einzelfall umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls erfolgen, in welche insbesondere die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 22. März 2012 ? 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183 Rn. 26; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88 Rn. 17 ff.; vom 31. Januar 2019 ? 4 StR 432/18 Rn. 10; jeweils mwN).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht in jeder Hinsicht gerecht. Die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes durch das Landgericht stützt sich auf eine lückenhafte Würdigung, weil die Strafkammer nicht alle festgestellten Umstände, denen nach den Gegebenheiten des konkreten Geschehens eine vorsatzrelevante Bedeutung zukommen kann, in ihre Überlegungen miteinbezogen hat.

So hat das Landgericht nicht in den Blick genommen, dass der nach den Urteilsausführungen nicht besonders alkoholgewohnte Angeklagte bei Begehung der Tat eine maximale Blutalkoholkonzentration von 1,93‰ aufwies. Mit einem möglichen Einfluss der alkoholischen Beeinflussung auf die Risikokenntnis des Angeklagten hat es sich nicht befasst. Des Weiteren hat die Strafkammer nicht bedacht, dass der Angeklagte vor dem zweiten Messerangriff auf den Nebenkläger B. zwei Schläge mit einer Glasflasche auf den Kopf erhalten hatte, was ihn mit zunehmender Tendenz in Wut und Rage versetzte. Auch diese durch die Schläge gesteigerte affektive Erregung des Angeklagten hätte im Rahmen der für die Prüfung beider Vorsatzelemente erforderlichen Gesamtbetrachtung aller vorsatzrelevanter Umstände einer tatrichterlichen Erörterung bedurft.

Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes durch die Strafkammer auf dieser unvollständigen Berücksichtigung der zur psychischen Verfassung des Angeklagten festgestellten Umstände beruht.

c) Die tateinheitliche Verurteilung wegen versuchten Totschlags zum Nachteil des Nebenklägers B. kann daher nicht bestehen bleiben. Wegen des tateinheitlichen Zusammentreffens erfasst die Aufhebung auch den an sich rechtsfehlerfrei erfolgten Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers B. gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 StGB. Der Senat hebt nur die zum bedingten Tötungsvorsatz getroffenen tatsächlichen Feststellungen auf. Die übrigen Feststellungen sind rechtsfehlerfrei und können bestehen bleiben.

2. Der Strafausspruch zu der Tat der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des Nebenklägers M. hält ebenfalls einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

Die Strafkammer hat bei der Bemessung der zu verhängenden Strafe innerhalb des zur Anwendung gebrachten Normalstrafrahmens des § 224 Abs. 1 StGB unter anderem strafschärfend gewertet, dass der Angeklagte mit seinen in der Öffentlichkeit begangenen Taten das allgemeine Sicherheitsbedürfnis empfindlich gestört und dem gemeindlichen Rechtsfrieden Schaden zugefügt habe; die während der Taten im Lokal anwesenden Gäste litten noch heute unter den Auswirkungen. Diese Wertung ist zwar in ihrem Ausgangspunkt nicht durchgreifend rechtlich bedenklich, weil das Landgericht nicht lediglich für die Schuld des Täters ambivalente Umstände herangezogen oder abstrakte generalpräventive Erwägungen ohne erforderlichen Tatbezug angestellt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2018 ? 1 StR 477/18, NStZ-RR 2019, 105), sondern ersichtlich auf die konkreten Auswirkungen der Taten des Angeklagten auf die zahlreichen, bei der Tatbegehung in dem Lokal anwesenden Personen abgestellt hat. Der Umstand, dass Gäste noch heute unter den Auswirkungen leiden, wird aber durch die Ausführungen des angefochtenen Urteils nicht belegt. Feststellungen hierzu finden sich in den Urteilsgründen nicht.

Der Strafausspruch hinsichtlich der Tat zum Nachteil des Nebenklägers M. unterliegt mithin der Aufhebung. Die zugehörigen tatsächlichen Feststellungen können bestehen bleiben und durch den neu zur Verhandlung und Entscheidung berufenen Tatrichter widerspruchsfrei ergänzt werden.

3. Die Aufhebungen der Verurteilung wegen der Tat zum Nachteil des Nebenklägers B. sowie des Strafausspruchs bezüglich der Tat zum Nachteil des Nebenklägers M. entziehen dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 576

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner