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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 179

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 416/17, Urteil v. 05.12.2017, HRRS 2018 Nr. 179


BGH 1 StR 416/17 - Urteil vom 5. Dezember 2017 (LG Regensburg)

Umfang eines Rechtsmittels (Beschränkung der Revision auf einzelne, tatmehrheitliche Verurteilungen: keine widersprechenden Urteilsgründe bei alkoholbedingter eingeschränkter Steuerungsfähigkeit und zeitlich nah beieinanderliegenden Taten); Tötungsvorsatz (dolus eventualis: freie Beweiswürdigung des Tatrichters, besonders gefährliche Tathandlungen, Bedeutung der Hemmschwellentheorie; Verständnis des Zweifelssatzes).

§ 344 Abs. 1 StPO; § 53 StGB; § 21 StGB; § 212 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf eine „für Tötungsdelikte deutlich höhere Hemmschwelle“ abgestellt worden ist, erschöpft sich dies in einem Hinweis auf die Bedeutung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) bezüglich der Überzeugungsbildung vom Vorliegen eines (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatzes. Der Bundesgerichtshof hat immer wieder hervorgehoben, dass durch den Aspekt der „Hemmschwelle“ die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges, auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen nicht in Frage gestellt oder auch nur relativiert werden solle (vgl. BGHSt 57, 183, 191 Rn. 34).

2. Ein Rechtsmittel kann wirksam auf solche Beschwerdepunkte beschränkt werden, die losgelöst von dem nicht angegriffenen Teil der Entscheidung nach dem inneren Zusammenhang rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können, ohne eine Prüfung des übrigen Urteilsinhalts notwendig zu machen (st. Rspr.). Das ist im Verhältnis zwischen Straftaten, die tatmehrheitlich (§ 53 StGB) verwirklicht worden sind, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig der Fall (vgl. BGHSt 24, 185, 188 f.).

3. Der Wirksamkeit einer solchen Beschränkung nicht entgegen, dass die der Annahme einer alkoholbedingt nicht ausschließbar erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zugrundeliegenden Feststellungen angesichts eines kurzen zeitlichen Aufeinanderfolgens mehrerer Straftaten für alle Bedeutung entfalten und deshalb die Gefahr sich widersprechender Urteilsgründe begründen könnten. Für die Schuldfähigkeitsbeurteilung kommt es stets darauf an, ob der Täter aufgrund einer bestimmten psychischen Verfassung in der Lage war, einer konkreten Tat Unrechtseinsicht und Hemmungsvermögen entgegenzusetzen. Dafür ist auf den jeweiligen konkreten Rechtsverstoß abzustellen, so dass jedenfalls bei verschiedenartigen Straftaten sich ein einheitliches Eingangsmerkmal auf die Unrechtseinsichts- und die Steuerungsfähigkeit unterschiedlich auswirken kann.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 24. März 2017 mit den Feststellungen aufgehoben

a) soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zu Lasten des Zeugen M. verurteilt worden ist,

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft, an eine andere als Schwurgerichtskammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.

4. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.

Mit ihrem zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittel wendet sich die Staatsanwaltschaft mit sachlichrechtlichen Beanstandungen dagegen, dass der Angeklagte hinsichtlich der Tat zum Nachteil des Zeugen M. nicht auch wegen versuchten Totschlags verurteilt worden ist. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision allein den Rechtsfolgenausspruch.

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat im Umfang der Anfechtung Erfolg. Die Revision des Angeklagten dringt dagegen nicht durch.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am Tattag kam es zwischen dem alkoholisierten Angeklagten und dem später geschädigten Zeugen M. zunächst zu einer kurzen verbalen und geringfügig tätlichen Auseinandersetzung in der von beiden bewohnten Asylbewerberunterkunft. Der Streit konnte durch das Eingreifen Dritter beendet und der Angeklagte in sein Zimmer verbracht werden. Kurze Zeit später kehrte er zurück, trat die Tür zu dem Zimmer ein, in dem sich der Zeuge M. aufhielt und griff mit einem Messer bewaffnet den auf einem Bett sitzenden Zeugen an. Dabei stach der Angeklagte, der äußerte, er werde den Zeugen umbringen, dreimal von oben nach unten in Richtung von dessen Oberkörper. M. konnte die Stiche jeweils auf unterschiedliche Weise abwehren. Nach dem dritten Stich wurde der Angeklagte, der weiter entweder mit dem zuvor benutzten oder einem anderen, erstmals zur Hand genommenen, Messer gegen den Zeugen M. vorgehen wollte, von anderen Bewohnern festgehalten und einem Mitarbeiter des für die Unterkunft zuständigen Sicherheitsdienstes übergeben. Der Zeuge M. erlitt u.a. eine Schnittverletzung an der Hand.

Der Angeklagte wurde durch den Sicherheitsdienst des Wohnheims in einen Küchenraum verbracht. Dort traf er auf den Zeugen A. Als dieser den noch aufgebrachten Angeklagten beruhigen wollte, versetzte dieser dem Zeugen einen Kopfstoß mit der Stirn gegen die linke Gesichtshälfte des Zeugen. Dieser fiel daraufhin zu Boden und wurde für kurze Zeit ohnmächtig.

2. Das Landgericht hat hinsichtlich des Vorgehens gegen den Zeugen M. einen (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatz des alkoholbedingt nicht ausschließbar in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Angeklagten verneint und ihn insoweit wegen gefährlicher Körperverletzung bei Verwirklichung der Qualifikation aus § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verurteilt. Die Tat zum Nachteil des Zeugen A. ist als vorsätzliche Körperverletzung gewertet worden.

II.

Revision der Staatsanwaltschaft

Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat in dem Umfang der Anfechtung Erfolg. Die der Ablehnung bedingten Tötungsvorsatzes bei der Tat zu Lasten des Zeugen M. zugrunde liegende Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die ausdrücklich erklärte Beschränkung der Revision auf die vorgenannte Tat und das Ausnehmen der Nichtanordnung der Maßregel des § 64 StGB vom Rechtsmittelangriff sind wirksam.

a) Ein Rechtsmittel kann wirksam auf solche Beschwerdepunkte beschränkt werden, die losgelöst von dem nicht angegriffenen Teil der Entscheidung nach dem inneren Zusammenhang rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können, ohne eine Prüfung des übrigen Urteilsinhalts notwendig zu machen (st. Rspr.; etwa BGH, Beschluss vom 9. Juni 1999 - 3 StR 77/99, NStZ-RR 1999, 359; KK-StPO/Paul, 7. Aufl., § 318 Rn. 1 jeweils mwN). Das ist im Verhältnis zwischen Straftaten, die tatmehrheitlich (§ 53 StGB) verwirklicht worden sind, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig der Fall (näher BGH, Beschlüsse vom 22. Juli 1971 - 4 StR 184/71, BGHSt 24, 185, 188 f. und vom 9. November 1972 - 4 StR 457/71, BGHSt 25, 72, 74; ausführlich SK-StPO/Frisch, 5. Aufl., Band VI, § 318 Rn. 32-35).

Diese Voraussetzung ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen mit der Körperverletzungstat zum Nachteil des Zeugen M. einerseits und der zeitlich nachfolgenden, in einem anderen Raum sowie aufgrund eines neuen Tatentschlusses begangenen Körperverletzung zu Lasten des Zeugen A. andererseits gegeben.

b) Der Wirksamkeit der Beschränkung steht für die vorliegende Konstellation nicht entgegen, dass die der Annahme einer alkoholbedingt nicht ausschließbar erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zugrunde liegenden Feststellungen angesichts des recht kurzen zeitlichen Aufeinanderfolgens der Straftaten für beide Bedeutung entfalten und deshalb die Gefahr sich widersprechender Urteilsgründe begründen könnten (zur Bedeutung der Widerspruchsfreiheit für die Trennbarkeitsfrage BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 - 1 StR 458/16, NJW 2017, 2847, 2848). Denn ungeachtet der hier fraglichen tatsächlichen Konstellation kommt es für die Schuldfähigkeitsbeurteilung stets darauf an, ob der Täter aufgrund einer bestimmten psychischen Verfassung in der Lage war, einer konkreten Tat Unrechtseinsicht und Hemmungsvermögen entgegenzusetzen (BGH, Beschluss vom 2. August 2011 - 3 StR 199/11, NStZ 2012, 44 mwN). Dafür ist auf den jeweiligen konkreten Rechtsverstoß abzustellen, so dass jedenfalls bei verschiedenartigen Straftaten sich ein einheitliches Eingangsmerkmal auf die Unrechtseinsichts- und die Steuerungsfähigkeit unterschiedlich auswirken kann (vgl. BGH aaO mwN). Die Widerspruchsfreiheit der Urteilsgründe steht daher der Trennbarkeit zwischen den beiden hier verfahrensgegenständlichen Straftaten und damit der Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung nicht entgegen. Vorliegend kommt trotz der für beide Taten maßgeblichen Tatzeitalkoholisierung schon wegen der verschiedenen Motivlage für die jeweiligen Tatgeschehen unterschiedliche Auswirkungen auf das Hemmungsvermögen und damit die Steuerungsfähigkeit in Betracht.

c) Die Staatsanwaltschaft konnte die Ablehnung der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) wirksam von ihrem Rechtsmittelangriff ausnehmen.

Die Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten nach § 64 StGB ist ein für eine selbständige Nachprüfung geeigneter Urteilsteil und damit ein Beschwerdepunkt, auf den ein Rechtsmittel grundsätzlich beschränkt werden kann (st. Rspr.; siehe nur BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362). Dementsprechend ist für Rechtsmittel des Angeklagten anerkannt, dass dieser die Nichtanwendung des § 64 StGB von seinem Rechtsmittelangriff ausnehmen kann (BGH aaO BGHSt 38, 362, 363 mwN; van Gemmeren in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl., Band 2, § 64 Rn. 128 mwN). Nichts anderes gilt für ein zu Ungunsten des Angeklagten eingelegtes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (vgl. aber van Gemmeren aaO § 64 Rn. 125 mit Fn. 511). Liegen - wie regelmäßig bei der Entscheidung über die Maßregel des § 64 StGB - die Voraussetzungen der Trennbarkeit von den übrigen Urteilsteilen vor, stehen keine sonstigen rechtlichen Gründe einem wirksamen Ausnehmen der Überprüfung der Ablehnung einer Unterbringung vom Rechtsmittelangriff entgegen. Solche folgen vor allem nicht aus Schutzerwägungen zugunsten des Angeklagten, denn dieser ist allein durch die Anordnung der stationären Maßregel, nicht aber durch deren Unterbleiben beschwert (BGH, Beschlüsse vom 25. Februar 2016 - 3 StR 6/16, NStZ-RR 2016, 169 f. und vom 29. Juni 2016 - 1 StR 254/16, StV 2017, 592, 594).

Eine Konstellation, in der ausnahmsweise eine untrennbare Wechselwirkung zwischen der Entscheidung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den sonstigen Urteilsgründe, insbesondere dem Strafausspruch, besteht (vgl. nur BGH, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362, 363 mwN; Beschluss vom 24. September 2013 - 2 StR 397/13, NStZ-RR 2014, 58) liegt nicht vor. Angesichts der völlig unterschiedlichen Zwecke von stationären Maßregeln einerseits und der Strafe andererseits (dazu BGH, Urteil vom 15. März 2016 - 1 StR 526/15 Rn. 28, StV 2017, 29, 31; siehe auch Beschluss vom 24. Mai 2017 - 1 StR 598/16 Rn. 29 mwN) ist es regelmäßig auch nicht geboten, eine Verknüpfung zwischen dem Strafausspruch und der Entscheidung über die Maßregel herzustellen. Hat das Tatgericht - wie hier - die Anordnung der Unterbringung gemäß § 64 StGB abgelehnt, können ohnehin kaum jemals Wechselwirkungen zum Strafausspruch bestehen.

2. Das Landgericht hat die Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes des Angeklagten bei den Messerstichen gegen den Zeugen M. auf mehrere Aspekte gestützt, denen es „gewichtige“ indizielle Bedeutung gegen ein billigendes Inkaufnehmen des Todes des Zeugen beimisst. So habe es sich um eine Spontantat gehandelt, bei der der Angeklagte erheblich alkoholbedingt enthemmt war. Auch sei bei den Stichen nicht näher eingrenzbar gewesen, wohin der Angeklagte genau habe treffen wollen. Zudem hat das Landgericht kein „überzeugendes konkretes Tötungsmotiv“ erkennen können (UA S. 15).

3. Die der Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes zugrunde liegenden Erwägungen erweisen sich - auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (etwa BGH, Urteile vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 Rn. 25 und vom 22. November 2016 - 1 StR 194/16 Rn. 10 jeweils mwN) - als rechtfehlerhaft. Das Landgericht hat seiner Beweiswürdigung bereits einen nicht rechtsfehlerfreien rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt. Zudem liegen revisible Fehler u.a. das Fehlen einer Gesamtwürdigung und überzogene Anforderungen an die eigene Überzeugungsbildung zugrunde.

a) Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 Rn. 26 und vom 22. November 2016 - 1 StR 194/16 Rn. 11 mwN). Bezogen auf bedingten Tötungsvorsatz liegt bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (BGH jeweils aaO). Zwar können das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung - z.B. Affekt, alkoholische Beeinflussung oder hirnorganische Schädigung (BGH, Urteile vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 f. Rn. 26 und vom 22. November 2016 - 1 StR 194/16 Rn. 11) - zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements). Auf der Ebene der Beweiswürdigung ist eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände erforderlich (vgl. BGH, Urteile vom 4. November 1988 - 1 StR 262/88, BGHSt 36, 1, 9 f.; vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 f. Rn. 26 mwN und vom 22. November 2016 - 1 StR 194/16 Rn. 11).

Soweit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der gebotenen Gesamtschau auf eine „für Tötungsdelikte deutlich höhere Hemmschwelle“ abgestellt worden ist (Nachw. in BGH, Urteil vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 189 Rn. 32), erschöpft sich dies in einem Hinweis auf die Bedeutung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) bezüglich der Überzeugungsbildung vom Vorliegen eines (wenigstens) bedingten Tötungsvorsatzes (BGH aaO BGHSt 57, 183, 191 Rn. 34 und Urteil vom 22. November 2016 - 1 StR 194/16 Rn. 12 mwN). Der Bundesgerichtshof hat immer wieder hervorgehoben, dass durch den Aspekt der „Hemmschwelle“ die Wertung der hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen als ein gewichtiges, auf Tötungsvorsatz hinweisendes Beweisanzeichen nicht in Frage gestellt oder auch nur relativiert werden solle (BGH aaO BGHSt 57, 183, 191 Rn. 34 mwN).

b) Die Ausführungen des Landgerichts lassen bereits besorgen, dass dieses rechtsfehlerhaft der „hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung“ (UA S. 14) eine den indiziellen Wert des objektiven Gefährlichkeitsgrades der vom Angeklagten ausgeführten Messerstiche relativierende Wirkung beigemessen hat, die dem Aspekt der „Hemmschwelle“ nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zukommt. So führt das Tatgericht gerade die „Hemmschwelle“ als Grund dafür an, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Angeklagte die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder zumindest darauf vertraut habe, ein als möglich erkannter Erfolg werde nicht eintreten (UA S. 14). Darüber hinaus rekurriert das Landgericht beweiswürdigend auf die „Hemmschwelle“ auch bei der Prüfung eines möglichen Beweggrunds des Angeklagten und führt aus, es sei kein „überzeugendes konkretes Tötungsmotiv“ erkennbar, das geeignet gewesen wäre, die „Hemmschwelle zur Tötung“ erklärbar zu überwinden (UA S. 15).

c) Die den (möglichen) Tötungsvorsatz des Angeklagten betreffende tatrichterliche Beweiswürdigung hält zudem unabhängig von dem aufgezeigten nicht rechtsfehlerfreien Maßstab rechtlicher Prüfung nicht stand.

aa) Die Erwägungen zum objektiven Gefährlichkeitsgrad der Messerstiche als Grundlage für die Würdigung der Voraussetzungen bedingten Tötungsvorsatzes enthalten Rechtsfehler. Sie sind teils lückenhaft, teils stellen sie überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung (zum Maßstab näher BGH, Urteile vom 13. Juli 2015 - 1 StR 128/16 Rn. 21, NStZ 2016, 670 und vom 22. November 2016 - 1 StR 194/16 Rn. 14 jeweils mwN).

(1) Das Landgericht geht unter der Sache nach erfolgender Anwendung des Zweifelssatzes von der Verwendung eines Messers mit einer abgerundeten Spitze aus, obwohl der geschädigte Zeuge M. in seiner ersten polizeilichen Zeugenvernehmung - anders als in der tatrichterlichen Hauptverhandlung - angegeben hatte, das Messer sei vorne nicht rund gewesen (UA S. 12). Soweit die Strafkammer meint, sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit von der Richtigkeit der ersten Schilderung des Zeugen überzeugen zu können, wird dies nicht rechtsfehlerfrei begründet. Die diesbezügliche Beweiswürdigung ist lückenhaft und nicht widerspruchsfrei. Das Landgericht nimmt nicht erkennbar in den Blick, dass es seinen Feststellungen zur Anzahl der vom Angeklagten ausgeführten Stiche gerade die Angaben des Zeugen in seiner ersten polizeilichen Vernehmung mit der Erwägung zugrunde gelegt hat, zu diesem Zeitpunkt sei die Erinnerung des Zeugen noch frisch gewesen. Angesichts dessen hätte es ungeachtet der nur begrenzten Überprüfbarkeit der vom Tatrichter gezogenen Schlüsse näherer Ausführungen bedurft, warum der zeitliche Abstand zwischen der Wahrnehmung und der Bekundung über das Wahrgenommene bezüglich der Beschaffenheit der Klinge eine andere Beweisbedeutung haben soll als hinsichtlich der Anzahl der Stiche. Dem Hinweis des Landgerichts, es sei zweifelhaft, ob der Zeuge die Beschaffenheit der Klinge überhaupt habe wahrnehmen können, liegt selbst wiederum eine lückenhafte Würdigung zugrunde. Der Angeklagte ist nach den drei Stichen überwältigt und in den Küchenraum gesperrt worden. Es wird nicht erörtert, ob für den Zeugen die Möglichkeit bestand, das Messer nach dem Ende des Angriffs und dem Überwältigen des Angeklagten wahrzunehmen.

Das Landgericht hat sich in der die objektive Gefährlichkeit der Messerstiche betreffenden Beweiswürdigung auch nicht erkennbar mit dem im Übrigen berücksichtigten Umstand auseinandergesetzt, dass der Zeuge dem Angeklagten „emotional zugetan“ sei und ihn so wenig wie möglich belasten wollte. Dies wäre im Rahmen der Würdigung der unterschiedlichen Aussagen des Zeugen zu berücksichtigen gewesen. Dem Urteil lässt sich zudem nicht nachvollziehbar entnehmen, welche Inhalte die (teils verlesenen) Aussagen der Zeugen Mu. und N. (UA S. 12) hatten und warum sie „wenig erhellend“ gewesen seien. Da nach den getroffenen Feststellungen beide Zeugen an der Überwältigung des Angeklagten beteiligt waren, können sie naheliegender Weise Wahrnehmungen zur Beschaffenheit der Messerklinge getroffen haben. Ob dies der Fall war, kann der Senat mangels Wiedergabe des jeweiligen Aussageinhalts nicht prüfen.

(2) Auch die weitere Beweiswürdigung zur objektiven Gefährlichkeit der Messerstiche enthält Rechtsfehler. Die Annahme des Landgerichts, es sei nicht näher eingrenzbar, wo der Angeklagte genau habe treffen wollen, so dass zu seinen Gunsten nicht ausschließbar lediglich auf die Schultern oder die Arme habe eingewirkt haben können, beruht auf einer lückenhaften Beweiswürdigung. Es wird in diesem Zusammenhang weder die geäußerte Tötungsabsicht noch das mehrfache und lediglich durch das Eingreifen weiterer Personen letztlich beendete Einstechen berücksichtigt. Die die Bedeutung der geäußerten Tötungsabsicht relativierende Bewertung, es könne sich um „verbale Kraftmeierei“ oder „Ausdruck von Erregung“ handeln, blendet die Entwicklung bis hin zu den Stichen aus. Der Angeklagte war bereits zuvor in eine auch tätliche Auseinandersetzung mit dem Zeugen verwickelt und hat von sich aus nach Entfernung aus dem Zimmer des Zeugen erneut die Konfrontation, dieses Mal unter Einsatz eines Messers, gesucht.

Im Übrigen hat das Landgericht bei der Annahme, es müsse zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen werden, dieser habe lediglich irgendwo auf den Bereich des Oberkörpers einwirken wollen, also nicht ausschließbar lediglich auf die Schultern oder Arme, die Bedeutung des Zweifelsgrundsatzes verkannt. Dieser ist auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung nicht anzuwenden (BGH, Urteile vom 5. November 2014 - 1 StR 327/14, NStZ-RR 2015, 83, 85 und vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184 jeweils mwN); für entlastende Indiztatsachen gilt er dementsprechend nicht (BGH, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184 mwN).

bb) Ein weiterer Rechtsfehler der Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz liegt darin, dass das Landgericht die erforderliche Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände (BGH, Urteil vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 187 Rn. 27) lediglich formelhaft (UA S. 16) vorgenommen hat. Eine solche Gesamtschau darf - nicht anders als hinsichtlich der auf die Täterschaft bezogenen Beweiswürdigung - sich nicht darauf beschränken, die jeweiligen Indizien gesondert zu erörtern und auf ihren jeweiligen Beweiswert zu prüfen (vgl. nur BGH, Urteil vom 11. Oktober 2016 - 5 StR 181/16, NStZ 2017, 600, 601). So verhält es sich jedoch vorliegend.

Das Landgericht handelt mehrere Indiztatsachen nacheinander ab, denen es Gewicht mit einer Beweisrichtung gegen die Willenskomponente des bedingten Tötungsvorsatzes zumisst. Es versäumt jedoch, diese Umstände von indizieller Bedeutung in ihrer Zusammenschau zu würdigen und zu erwägen, ob sich in der Gesamtbetrachtung eine andere Bewertungsrichtung ergeben kann.

Zudem sind Umstände nicht in den Blick genommen worden, deren Berücksichtigung - wie bereits ausgeführt - sich nach den getroffenen Feststellungen und der sonstigen Beweiswürdigung aufdrängten.

(1) Soweit das Landgericht im Hinblick auf das Vorgehen mit dem Messer von einer Spontantat ausgeht, findet dies keine tragfähige Stütze in den sonstigen Feststellungen. Dem hier fraglichen Tatgeschehen war bereits eine auch tätliche Auseinandersetzung vorausgegangen, die durch das Eingreifen Dritter beendet worden war. Der Angeklagte hat eine erneute Konfrontation mit dem Zeugen M. gesucht und sich - nach den Feststellungen nahe liegend - dafür durch eine Bewaffnung vorbereitet. Selbst unter Berücksichtigung der Alkoholisierung des allerdings alkoholgewöhnten Angeklagten ist die Spontaneität der Tat nicht ausreichend belegt.

(2) Entsprechendes gilt im Hinblick auf das vom Tatgericht als gegen die Willenskomponente sprechend gewertete Fehlen eines „überzeugenden konkreten“ Tatmotivs. Zwar war die Strafkammer nicht gehindert, aus der festgestellten Freundschaft zwischen dem Angeklagten und dem geschädigten Zeugen einen gegen das Willenselement sprechenden Schluss zu ziehen. Abgesehen von der rechtsfehlerhaften Verknüpfung des vom Landgericht nicht gefundenen Tatmotivs mit der höheren Hemmschwelle, eine Tötungshandlung vorzunehmen, hätte es jedoch bei der Frage des Motivs die vorausgegangene Auseinandersetzung sowie die im Tatzeitpunkt hochgradige Aggressivität des Angeklagten berücksichtigen müssen. Diese hat vor allem in dem Vorgehen gegen den bis dahin gänzlich unbeteiligten Zeugen A. Ausdruck gefunden.

4. Auf der rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz beruht der Schuldspruch bezüglich der zum Nachteil des Zeugen M. begangenen Tat. Da der Angeklagte erst durch das Eingreifen Dritter sowie das anschließende Verbringen in den Küchenraum von weiteren körperlichen Angriffen mit dem Messer auf den Zeugen abgehalten werden konnte, scheidet ein strafbefreiender Rücktritt von vornherein aus.

Die Rechtsfehler in der Beweiswürdigung bedingen die Aufhebung der insgesamt zu dieser Straftat getroffenen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).

5. Die Aufhebung der Verurteilung wegen der gegen den Zeugen M. begangenen Straftat entzieht auch der Gesamtfreiheitsstrafe die Grundlage.

6. Der wegen der vorgenannten Tat ergangene Schuldspruch und der zugehörige Strafausspruch enthalten keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten, worauf die Prüfung des Senats gemäß § 301 StPO wegen der wirksamen Beschränkung des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft begrenzt ist (BGH, Urteil vom 20. September 2017 - 1 StR 112/17, StRR 2017, Nr. 12, 2 Rn. 32 mwN).

III.

Revision des Angeklagten

Die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision des Angeklagten erzielt keinen Erfolg. Die Beschränkung des Rechtsmittels ist wirksam. Anhaltspunkte für eine untrennbare Verknüpfung mit dem Schuldspruch bestehen nicht. Eine nicht lediglich erheblich verminderte, sondern sogar aufgehobene Schuldfähigkeit des Angeklagten ist ausgeschlossen.

1. Weder die Verhängung der beiden Einzelstrafen noch der Gesamtstrafenausspruch enthalten Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten. Nach dem die tatrichterliche Strafzumessung betreffend eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts, der für die Entscheidung des Tatgerichts über das Vorliegen eines minder schweren Falls ebenfalls gilt (näher dazu BGH, Urteile vom 19. Januar 2017 - 4 StR 334/16, NStZ-RR 2017, 117 f. und vom 25. April 2017 - 1 StR 606/16, wistra 2017, 400 Rn. 13 f. mwN), ist es insbesondere nicht zu beanstanden, dass das Landgericht auch unter Berücksichtigung des vertypten Milderungsgrundes aus § 21 StGB für die Tat zum Nachteil des Zeugen M. nicht zu einem minder schweren Fall gemäß § 224 Abs. 1 letzter Halbs. StGB gelangt ist.

2. Auch die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erweist sich im Ergebnis als nicht rechtsfehlerhaft. Das sachverständig beratene Landgericht hat in nicht zu beanstandender Weise einen hinreichend konkreten Therapieerfolg wegen der völlig unzureichenden Sprachkenntnisse (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 29. Juni 2016 - 1 StR 254/16, StV 2017, 592, 594 mwN) des Angeklagten verneint.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 179

Externe Fundstellen: NStZ 2018, 206 ; StV 2019, 230

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede