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Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 450/98, Urteil v. 17.11.1998, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 450/98 - Urteil vom 17. November 1998 (LG Ravensburg)

Verwerfung der Revision; Beweiswürdigung; Zeuge; Aussage; Widersprüche; Abweichungen; Belastungszeuge; Prozessuale Tat; Historischer Lebenssachverhalt; Hinweispflicht bei Änderung der in Betracht gezogenen Tatzeit; Förmlicher Hinweis; Rechtliches Gehör; Amtsermittlungsgrundsatz; Aussagekonstanz; Gesamtwürdigung der Indizien; Bewußt falsche Aussage

Art 103 Abs. 1 GG; § 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 264 StPO; § 265 StPO

Leitsätze

1. In Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht und der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung in einem wesentlichen Punkt von seiner früheren Tatschilderung abweicht, muß der Tatrichter regelmäßig darlegen, daß insoweit keine bewußt falschen Angaben vorgelegen haben (im Anschluß an BGH NJW 1998, 3788 = StV 1998, 580, für BGHSt bestimmt). (BGHSt)

2. Das Fehlen eines förmlichen Hinweises auf eine für die Verteidigung wesentliche Änderung der Tatzeit gegenüber deren Bezeichnung in der zugelassenen Anklage stellt keinen Verfahrensfehler dar, wenn der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung darüber unterrichtet war, daß das Gericht in der Hauptverhandlung auch die später im Urteil angenommene Tatzeit in Betracht zog. (Bearbeiter)

3. Zwar folgt aus § 265 Abs. 4 StPO in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG und § 244 Abs. 2 StPO, daß der Tatrichter den Angeklagten nicht im unklaren lassen darf, wenn er die Verurteilung auf tatsächliche Umstände stützen will, die der Sachverhaltsschilderung in der zugelassenen Anklage nicht zu entnehmen sind. Zur Unterrichtung des Angeklagten bedarf es aber keines förmlichen Hinweises, wie ihn § 265 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StPO bei Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts bzw. bei Hinzutreten von vom Strafgesetz vorgesehenen erschwerenden Umstände verlangen. Es genügt, daß der Angeklagte aus dem Gang der Hauptverhandlung erfährt, daß das Gericht neue tatsächliche Gesichtspunkte in seine die Tatfrage betreffenden Überlegungen einbezogen hat und daß er Gelegenheit erhält, sich dazu zu äußern und Beweisanträge zu stellen oder Beweiserhebungen anzuregen (BGH StV 1996, 584, 585). (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 2. April 1998 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Kindern und sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Ein Verfahrenshindernis liegt nicht vor. Das Landgericht hat auch nicht gegen § 264 Abs. 1 StPO verstoßen, indem es im Urteil die Tatzeit der ersten Tat abweichend von deren genauer Datierung in der Anklage um mehrere Tage verschoben hat. Es hat den durch die zugelassene Anklage gezogenen äußeren Rahmen des Verfahrensgegenstands nicht verlassen. Denn durch die Einzelheiten des von der Geschädigten geschilderten Ablaufs der Tat, die bei Gelegenheit einer Radtour des Angeklagten mit seinen Kindern von Ravensburg nach Konstanz aus Anlaß des 11. Geburtstags der Geschädigten begangen worden ist, wird der historische Lebenssachverhalt so eindeutig bestimmt, daß die Umdatierung im Urteil nichts an der Nämlichkeit der Tat im prozessualen Sinn ändert (vgl. BGH, Urt. vom 29. Juli 1998 - 1 StR 152/98; BGHSt 40, 44, 46).

II.

Unbegründet ist die ebenfalls auf die erste der angeklagten Taten bezogene Verfahrensrüge, nach der das Landgericht bei der Änderung der Tatzeit gegenüber deren Bezeichnung in der zugelassenen Anklage seine Hinweispflicht verletzt habe.

1. Dieser Rüge liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde: Nach der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage hatte der Angeklagte die Tat am 15. Juni 1993, dem 11. Geburtstag der Geschädigten, in der Wohnung seiner damaligen Freundin und späteren Ehefrau in Konstanz begangen. An diesem Tag habe der Angeklagte gemeinsam mit der Geschädigten und ihren zwei Brüdern eine Radtour von Ravensburg nach Konstanz gemacht und in der dortigen Wohnung übernachtet. Im Urteil ist dagegen festgestellt, daß der Angeklagte am 15. Juni 1993 - einem Dienstag - beruflich unterwegs war. Die Radtour nach Konstanz habe erst an dem auf den Geburtstag folgenden Wochenende stattgefunden; dann sei die Tat begangen worden.

Die Revision rügt, das Gericht habe den Angeklagten in der Hauptverhandlung auf die in Aussicht genommene Verschiebung der Tatzeit nicht hingewiesen.

2. Das Hauptverhandlungsprotokoll enthält dazu keinen förmlichen Hinweis. Der Senat hat dienstliche Äußerungen der Berufsrichter und der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft eingeholt, ob der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung über die Möglichkeit der Veränderung der Tatzeit informiert worden ist. Aus den Äußerungen geht hervor, daß die Frage der Tatzeit wiederholt mit den Verfahrensbeteiligten erörtert worden ist. Die Verteidigung hat daraufhin in ihrer Stellungnahme zu den dienstlichen Äußerungen ihr anfängliches Rügevorbringen, der Angeklagte sei auch nicht "informell" darauf hingewiesen worden, daß ein anderer Tattag als der 15. Juni 1993 in Betracht komme, fallengelassen. Sie hält jedoch ihre Beanstandung aufrecht, es sei kein förmlicher Hinweis des Gerichts auf die Veränderung der Tatzeit erfolgt. Ein solcher Hinweis sei aber in Fällen der Tatzeitänderung erforderlich und von der Beweiskraft des Protokolls der Hauptverhandlung gemäß § 274 StPO erfaßt.

3. Im Fehlen eines förmlichen Hinweises auf eine für die Verteidigung wesentliche Änderung der Tatzeit gegenüber deren Bezeichnung in der zugelassenen Anklage sieht der Senat keinen Verfahrensfehler, wenn der Angeklagte durch den Gang der Hauptverhandlung darüber unterrichtet war, daß das Gericht in der Hauptverhandlung auch die später im Urteil angenommene Tatzeit in Betracht zog.

a) Diese Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings noch nicht abschließend geklärt.

Nach der Rechtsprechung aller Strafsenate folgt aus § 265 Abs. 4 StPO in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG und § 244 Abs. 2 StPO, daß der Tatrichter den Angeklagten nicht im unklaren lassen darf, wenn er die Verurteilung auf tatsächliche Umstände stützen will, die der Sachverhaltsschilderung in der zugelassenen Anklage nicht zu entnehmen sind. Zur Unterrichtung des Angeklagten bedarf es aber keines förmlichen Hinweises, wie ihn § 265 Abs. 1 StPO für die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes vorschreibt und wie ihn Absatz 2 der Vorschrift verlangt, wenn erst in der Hauptverhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene rechtsfolgenverschärfende Umstände sich ergeben. Es genügt, daß der Angeklagte aus dem Gang der Hauptverhandlung erfährt, daß das Gericht neue tatsächliche Gesichtspunkte in seine die Tatfrage betreffenden Überlegungen einbezogen hat und daß der Angeklagte Gelegenheit erhält, sich dazu zu äußern und Beweisanträge zu stellen oder Beweiserhebungen anzuregen (BGHSt 19, 141, 144; 28, 196, 197; BGH StV 1996, 584, 585 m.w.Nachw.).

Ob diese Übereinstimmung auch für den Sonderfall einer Änderung der Tatzeit gilt, ist fraglich. Der 5. Strafsenat hat in BGHSt 19, 88, 89 bei Abweichung von einer in der zugelassenen Anklage genau bezeichneten Tatzeit einen förmlichen, nur durch das Protokoll der Hauptverhandlung beweisbaren Hinweis verlangt, wenn gegenüber der geänderten Tatzeit eine andere Verteidigung in Betracht kommt. Später hat er seine Auffassung dahin eingegrenzt, daß dies nur Fälle betreffe, in denen die Tatzeit für den Schuldvorwurf von ausschlaggebender Bedeutung sei (BGH, Urt. vom 1. März 1966 - 5 StR 21/66 und vom 24. Februar 1976 - 5 StR 764/75). Ob den Entscheidungen BGHR StPO § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 6 und 12 eine geänderte Rechtsauffassung zugrunde liegt oder ob dort lediglich das Beruhen des Urteils auf einem Rechtsfehler ausgeschlossen wurde, wird nicht deutlich.

Andere Strafsenate haben die Tatzeitänderung - teils tragend - dem Fall sonstiger Änderungen der Sachlage gleichbehandelt (BGH NStZ 1981, 190, 191; 1984, 422, 423; 1998, 26, 27; StV 1991, 502, 503; 1995, 116; BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 8; BGH, Beschl. vom 6. Mai 199B - 1 StR 196/97).

Einer Unterscheidung zwischen Fällen der Tatzeitänderung und anderen Änderungen der Sachlage könnte der Senat nicht folgen. Andere Abweichungen vom Tatbild der Anklage, etwa bei Annahme der Verwendung eines anderen Tatwerkzeugs oder des Vorliegens einer anderen pflichtwidrigen Handlung des Fahrlässigkeitstäters, können im Einzelfall für die Verteidigung gleiches Gewicht besitzen. Der Gesetzgeber hat auch dafür keine förmliche Hinweispflicht vorgesehen (vgl. Niemöller, Die Hinweispflicht des Strafrichters bei Abweichungen vom Tatbild der Anklage, 1988 S. 42 m.w.Nachw.).

b) Die Frage, wie Fälle der Tatzeitänderung zu behandeln sind, bedarf hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung. Denn das Urteil könnte jedenfalls nicht auf der Verletzung einer Pflicht zur Erteilung eines förmlichen Hinweises beruhen.

Dafür gelten die Regeln des Freibeweises. Zwar kann wegen der Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 StPO nicht die Erteilung eines förmlichen Hinweises, wohl aber die Erwartung des verteidigten Angeklagten, möglicherweise auch aufgrund einer veränderten Tatzeitbestimmung verurteilt zu werden, freibeweislich festgestellt werden (Niemöller aaO S. 81). Diese Erwartung wird hier schon durch die Begründung eines vom Verteidiger zu Beginn der Hauptverhandlung für den Angeklagten gestellten Beweisantrags belegt. Darin wurde aufgegriffen, daß die Geschädigte den Tatzeitpunkt "nunmehr auf das Wochenende vor oder nach dem 15.06.1993 zeitlich festlegt". Nachdem das Gericht dem Beweisbegehren in diesem Antrag gefolgt war, holte es Wettergutachten für die beiden genannten Wochenenden ein und führte diese in die Hauptverhandlung ein. Dies geschah erkennbar zur Klärung der Frage, ob zu jener Zeit die Witterung der Schilderung in der Zeugenaussage der Geschädigten über die Fahrradfahrt entsprach. Dies verdeutlichte dem Angeklagten, daß das Gericht auch die beiden Wochenenden als Tatzeit in Betracht zog. Dies wird durch die dienstlichen Äußerungen der Richter und der Staatsanwältin bekräftigt und von der Verteidigung auch nicht in Abrede gestellt.

c) Der Senat weist zur Klarstellung darauf hin, daß er auch in seinem Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 - (NJW 1998, 3788 = StV 1998, 580, für BGHSt bestimmt) in dem dort geforderten Hinweis keine Förmlichkeit im Sinne des § 274-StPO gesehen hatte. Vielmehr wurden erhöhte Anforderungen an den Inhalt gerichtlicher Hinweise für solche Fälle gestellt, in denen die zugelassene Anklage - durch die Natur der Sache bedingt - im Tatsächlichen ungenau geblieben war und erst in der Hauptverhandlung eine weitere Konkretisierung vorgenommen werden konnte. An diese Fälle einer "Nachbesserung" der Anklage sind - dem Rechtsgedanken des 200 Abs. 1 StPO folgend - besondere Anforderungen zu stellen.

III.

Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Sachrüge deckt ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Insbesondere ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden. Zwar werden von der Revision auch mit der "Rüge der Verletzung des § 261 StPO" sachlich-rechtliche Einwendungen dagegen erhoben, daß sich das Urteil nicht dazu verhält, aus welchen Gründen es abweichend von der Anklage als Tatzeit der ersten Tat das Wochenende nach dem 15. Juni 1993 angenommen, aber gleichwohl die besondere Konstanz der Aussage der Geschädigten hervorgehoben hat. Diese Angriffe der Revision dringen jedoch nicht durch.

Allerdings läßt sich den Urteilsgründen entnehmen, daß der ursprünglich angenommene Tatzeitpunkt, der nur aus der Aussage der Geschädigten als einziger Belastungszeugin entnommen worden sein konnte, nicht zutrifft. Denn für den 15. Juni 1993 als zunächst angenommenem Tattag hatte der Anklagte ein Alibi. Die Änderung der Tatzeitfeststellung im Urteil gegenüber der zugelassenen Anklage beruht wiederum auf der Aussage der Geschädigten in der Hauptverhandlung. Wegen dieser Änderung der Zeugenaussage der Geschädigten in einem für die Verteidigung wichtigen Punkt war das Landgericht hier jedoch rechtlich nicht daran gehindert, von einer hohen Aussagekonstanz als wichtigem Glaubwürdigkeitskriterium auszugehen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedarf es in Fällen von Aussage gegen Aussage einer lückenlosen Gesamtwürdigung aller Indizien (vgl. nur BGH StV 1995, 5, 6; 1995, 6, 7; 1997, 63; 1997, 245, 246; 1998, 250, 251). Allein auf Angaben des einzigen Belastungszeugen, dessen Aussage in einem wesentlichen Detail als bewußt falsch anzusehen ist, kann eine Verurteilung nicht gestützt werden (Senatsurteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 - aaO). Will der Richter der Aussage im übrigen folgen, müssen Indizien für deren Richtigkeit vorliegen, die außerhalb der Aussage selbst liegen. Daher muß der Richter dann, wenn die Aussage dieses Zeugen in einem wesentlichen Punkt von seinen früheren Angaben abweicht, im Urteil darlegen, daß keine bewußt falschen Angaben vorgelegen haben. Andernfalls kann das Revisionsgericht nicht prüfen, ob der Tatrichter den Grundsätzen des Senatsurteils vom 29. Juli 1998 (aaO) gefolgt ist.

Hiergegen hat das Landgericht aber nicht verstoßen. Es hat den von der Revision angenommenen Widerspruch in den Angaben der Geschädigten vielmehr ausgeräumt. Es hat erklärt, warum die Aussage der Geschädigten zur Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens wegen einer am "15. Juni 1993" begangenen Tat geführt hat, welche jedoch nach den Urteilsfeststellungen an einem anderen Tag begangen wurde. Das Urteil verweist darauf, daß der polizeiliche Vernehmungsbeamte in der Hauptverhandlung ausgesagt hat, die Geschädigte habe bei ihrer Vernehmung im Ermittlungsverfahren von der Tatbegehung an ihrem "11. Geburtstag" gesprochen, aber nicht das Datum dieses Tages genannt. Der zur Frage der Glaubwürdigkeit vernommene psychologische Sachverständige habe erläutert, daß die Erinnerung der Geschädigten an die Radtour und das Geschenk eines Fahrrades aus Anlaß dieses Geburtstages von ihr als Anknüpfungspunkt für die zeitliche Einordnung der Tat verwendet wurde. Diesen Ausführungen ist das Landgericht gefolgt. Die Datierung der Tat in der zugelassenen Anklage ist demnach auf ein Mißverständnis zurückzuführen, nicht auf eine bewußt falsche Tatzeitangabe der Geschädigten. Bei dieser Sachlage bestand kein Anlaß für weitere Ausführungen im Urteil.

Andere Änderungen in Aussagen der Geschädigten ergeben sich aus dem Urteil nicht. Ergänzendes Vorbringen der Revision, das über den Urteilsinhalt hinausgeht, kann der Senat auf die Sachrüge nicht berücksichtigen (BGHSt 35, 238, 241). Aber auch im übrigen ist dem Revisionsgericht eine Rekonstruktion der Beweisaufnahme grundsätzlich versagt (vgl. BGH NStZ 1997, 450 m. w. Nachw.).

Bearbeiter: Ulf Buermeyer