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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1080

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 7/21, Urteil v. 26.08.2021, HRRS 2021 Nr. 1080


BGH 3 StR 7/21 - Urteil vom 26. August 2021 (LG Osnabrück)

Reichweite und Grenzen der Aufklärungspflicht; Beurteilung der Glaubhaftigkeit in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen.

§ 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Aufklärungspflicht zwingt das Gericht zwar grundsätzlich, jedem Beweismittel nachzugehen, bei dem nach der konkreten Sachlage die sinnvolle Möglichkeit besteht, dass es zu einer Änderung des Beweisergebnisses führen kann. Sie geht aber nicht so weit, dass auch Beweismittel zugezogen werden müssen, bei denen diese Möglichkeit zwar gedanklich abstrakt nicht völlig auszuschließen ist, die nach den bekannten Maßstäben aber keine vernünftigen Anhaltspunkte dafür bieten, dass sie das bisher gewonnene Beweisergebnis tatsächlich in Frage stellen könnten.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 25. September 2020 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels, die dadurch entstandenen besonderen Kosten des Adhäsionsverfahrens sowie die der Neben- und Adhäsionsklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten sowie - unter Absehen von einer Entscheidung über den Adhäsionsanspruch im Übrigen - zu einer Schmerzensgeldzahlung an die Nebenklägerin in Höhe von 5.000 € verurteilt. Hiergegen wendet er sich mit der auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützten Revision. Sein Rechtsmittel erweist sich als unbegründet.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte versuchte in der Tatnacht auf einem Schützenfest mehrfach erfolglos, mit der ihm unbekannten 19jährigen Nebenklägerin und ihren Freunden ins Gespräch zu kommen. Nachdem die Nebenklägerin gegen 4.20 Uhr allein das Festgelände verlassen hatte, näherte er sich ihr und fasste sie an den Arm, was sie sich verbat. Er bot ihr an, sie zu Fuß zu einem Treffpunkt zu bringen, an dem sie kurze Zeit später abgeholt werden sollte. Dieses Angebot nahm die nicht ortskundige Nebenklägerin an. Nach einem Stück gemeinsamer Wegstrecke zeigte er ihr vor einem Mehrfamilienhaus einen BMW und behauptete, dies sei sein Auto, mit dem er sie zu dem Treffpunkt fahren werde. Er müsse dafür den Fahrzeugschlüssel aus der Wohnung holen und schlage vor, dass sie kurz mit hineinkomme. Sie willigte ein und schloss selbst die Tür auf, weil der Angeklagte Schwierigkeiten damit hatte. Nicht ausschließbar war er von nun an aufgrund einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 2,63 %O in seiner Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit erheblich vermindert.

In der Wohnung offenbarte der Angeklagte der Nebenklägerin, dass er sie nicht fahren werde und gar keinen Führerschein besitze. Als sie daraufhin hinausgehen wollte, versperrte er ihr die Wohnungstür, drückte sie gegen die Wand und versuchte, sie zu küssen. Sie wehrte ihn ab und äußerte, dass sie das nicht wolle. Spätestens jetzt beschloss der körperlich überlegene Angeklagte, die Nebenklägerin gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Er entgegnete, dass er sie gleichwohl „ficken“ werde, griff ihren Arm und zerrte sie ins Wohnzimmer. Dort zog er sie und sich selbst aus und versuchte, ihren Intimbereich zu lecken. Dann drückte er ihren Kopf herunter und steckte seinen erigierten Penis in ihren Mund. Um der Situation zu entkommen, gab die verängstigte Nebenklägerin vor, etwas trinken zu wollen. Er zog sie daraufhin durch die Wohnung, gab ihr Wasser und zwang sie danach weiter zum Oralverkehr. Anschließend führte er gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen erst auf dem Sofa, dann auf dem Boden den vaginalen Geschlechtsverkehr an ihr aus. Als sie versuchte, ihn in den Genitalbereich zu treten, schlug der Angeklagte ihren Kopf auf den Boden und drohte damit, auch anal in sie einzudringen, wenn sie nicht mitmache. Daraufhin wagte sie beim weiteren Geschlechtsverkehr keine Gegenwehr mehr.

Der Angeklagte nahm wahr, dass die Nebenklägerin anschließend am ganzen Körper zitterte. Ihre Bitte, sie gehen zu lassen oder ihr einen Krankenwagen zu rufen, schlug er aus. Sie nutzte einen Toilettengang dafür, SMS mit Hilferufen zu verschicken. Schließlich flüchtete sie gegen 6 Uhr morgens durch das Badezimmerfenster, klingelte bei ihr unbekannten Nachbarn und brach dort weinend zusammen. Sie erlitt durch die Tat Verletzungen an den Armen, eine Rippenprellung und schwere, andauernde psychische Beeinträchtigungen.

2. Der Angeklagte hat den Tatvorwurf bestritten und sich dahin eingelassen, dass die sexuellen Handlungen einvernehmlich geschehen seien. Die Nebenklägerin habe jederzeit gehen können. Ihr starkes Zittern habe er wahrgenommen, aber keine Notwendigkeit gesehen, einen Krankenwagen zu rufen. Die dem widersprechenden Feststellungen hat das Landgericht maßgeblich aufgrund der Aussagen der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung sowie bei drei polizeilichen Befragungen getroffen und sie im Übrigen auf weitere Beweismittel gestützt.

3. Rechtlich hat die Strafkammer die Tat als Vergewaltigung (§ 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 52 Abs. 1 StGB) gewürdigt. Die Strafe hat sie dem gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen des § 177 Abs. 6 StGB entnommen.

II.

1. Der Aufklärungsrüge, mit welcher der Angeklagte beanstandet, dass das Landgericht die Nebenklägerin nicht „toxikologisch-psychiatrisch“ hat begutachten lassen, bleibt der Erfolg versagt. Der Angeklagte macht insoweit geltend, eine entsprechende Begutachtung hätte ergeben, dass die Nebenklägerin in Bezug auf das sexuelle Geschehen in der Wohnung unter einer drogen- und alkoholinduzierten Störung der Urteils- und Wahrnehmungsfähigkeit leide.

Die Verfahrensbeanstandung greift nicht durch, weil die vermisste Begutachtung sich angesichts des vom Landgericht sorgfältig in den Blick genommenen Konsums der Nebenklägerin und der anhand von drei Stunden nach der Tat bei ihr erhobenen Blutwerten mittels der anerkannten Parameter errechneten Blutalkoholkonzentration nicht aufgedrängt hat. Im Übrigen ist die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit eines Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage die ureigene Aufgabe des Tatgerichts; hierfür ist es regelmäßig selbst sachkundig (st. Rspr.; so schon BGH, Urteil vom 5. Juli 1955 - 1 StR 195/55, BGHSt 8, 130, 131; ferner KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 116, 126). Ein Ausnahmefall ist hier bei der erwachsenen Nebenklägerin nicht gegeben.

2. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts verfängt auch die Aufklärungsrüge nicht, nach der die von der Polizei zur Erstuntersuchung der Nebenklägerin herangezogene Ärztin hätte vernommen werden müssen. Der von jener erstellte Bericht wurde in der Hauptverhandlung auszugsweise verlesen. Persönlich gehört wurde die Ärztin nicht. Die Revision rügt insoweit eine Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO, denn die Vernehmung „hätte ergeben, dass die Nebenklägerin weder ein Schlagen ihres Kopfes auf den Boden durch den Angeklagten geschildert hat noch sich bei der Untersuchung des gesamten Körpers der Nebenklägerin ein wie auch immer gearteter Hinweis auf einen solchen Vorgang ergeben hat“. Hierdurch wäre ein Widerspruch im Aussageverhalten der Nebenklägerin aufgedeckt worden, der in die Beweiswürdigung hätte Eingang finden müssen, weshalb das Urteil auf dem Fehler beruhe.

Die Rüge ist unbegründet, weil sich die Strafkammer auch zu dieser vermissten Beweiserhebung nicht hat gedrängt sehen müssen. Die Aufklärungspflicht zwingt das Gericht zwar grundsätzlich, jedem Beweismittel nachzugehen, bei dem nach der konkreten Sachlage die sinnvolle Möglichkeit besteht, dass es zu einer Änderung des Beweisergebnisses führen kann. Sie geht aber nicht so weit, dass auch Beweismittel zugezogen werden müssen, bei denen diese Möglichkeit zwar gedanklich abstrakt nicht völlig auszuschließen ist, die nach den bekannten Maßstäben aber keine vernünftigen Anhaltspunkte dafür bieten, dass sie das bisher gewonnene Beweisergebnis tatsächlich in Frage stellen könnten (LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 49 mwN). Gemessen daran war die Strafkammer vorliegend nicht gehalten, jede mögliche Äußerung aufzuklären, welche die Nebenklägerin gegenüber Dritten zu irgendeinem Zeitpunkt über den Tatablauf getätigt haben mag. Die vorgerichtlichen Angaben, die sie zu drei verschiedenen Gelegenheiten gegenüber der Polizei gemacht hat - unter anderem gegenüber dem Beamten, der sie am Morgen nach der Tat von der besagten Ärztin zurück zur Polizeistation begleitete -, haben sich von denen in der Hauptverhandlung lediglich in unbeachtlichen Details unterschieden. Der von der Nebenklägerin geschilderte und vom Landgericht festgestellte Schlag mit dem Kopf auf den Boden hat in ihren Schilderungen kein zentrales Ereignis dargestellt, sondern im Rahmen eines längeren, sich örtlich verlagernden Tatablaufs innerhalb des Teilgeschehens auf dem Fußboden einen Umstand von vielen. Die Strafkammer hat diesem keine entscheidende Bedeutung beigemessen. Sie ist nicht davon ausgegangen, dass die Nebenklägerin den Schlag gegenüber der Ärztin erwähnte oder dass sie durch diesen Schmerzen oder Verletzungen erlitt. Selbiges hat die Nebenklägerin ausweislich der Urteilsgründe auch zu keinem Zeitpunkt behauptet. Weiterführende Erkenntnisse sind von der Befragung der Ärztin als Zeugin vom Hörensagen mehr als ein Jahr nach der Untersuchung nicht zu erwarten gewesen, zumal jene ausweislich des Revisionsvorbringens während der Untersuchung in Eile war und in ihrem schriftlichen Bericht das Kerngeschehen in dem einen Satz zusammenfasste, dass „nach Schilderung des Opfers (…) vaginaler und oraler Verkehr ohne Kondom stattgefunden“ habe.

3. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat ebenfalls keinen Fehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt.

a) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts hält die Beweiswürdigung rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat sich seine Überzeugung von der Richtigkeit der den Angeklagten belastenden Angaben der Nebenklägerin aufgrund einer sorgfältigen und umfassenden Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme gebildet. Dabei ist es von einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation ausgegangen. Es hat insbesondere ausführlich die Merkmale Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Aussage in den Blick genommen sowie eine Fehlbezichtigung geprüft und ist nach ausführlicher Bewertung aller wesentlichen Aspekte zu dem Ergebnis gelangt, dass die Angaben der Nebenklägerin erlebnisbasiert gewesen sind.

Diese Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage ist selbst unter Zugrundelegung der von der Rechtsprechung zu einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation entwickelten Kriterien (vgl. zu diesen etwa BGH, Urteil vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20, NStZ-RR 2021, 24 mwN) frei von einem Rechtsfehler. Hinzu kommt, dass eine vom Fehlen sonstiger Erkenntnisse gekennzeichnete Beweislage tatsächlich nicht vorgelegen hat. Der Strafkammer hat vielmehr eine Reihe von außerhalb der Angaben der Nebenklägerin liegenden Beweisergebnissen zur Verfügung gestanden, die sie in ihre Würdigung einbezogen hat. Dazu gehören unter anderem:

Bekundungen von Zeugen zum Tatvorgeschehen einschließlich der von der Nebenklägerin verbindlich getroffenen Verabredung, dass sie zeitnah an dem in ihrer Aussage näher bezeichneten Treffpunkt mit dem Auto abgeholt wird, und zu ihrer harsch abweisenden Reaktion, als der Angeklagte sich ihr außerhalb der Festwiese näherte und sie am Arm berührte; das Ergebnis der Auswertung ihres Mobiltelefons, anhand derer sich viele von ihr geschilderte Details (Telefonate, Hilfe-SMS, aufgebrauchtes Datenvolumen) haben verifizieren lassen; die durch neutrale Zeugen bestätigten Umstände, dass die Nebenklägerin unter Zurücklassung ihrer Schuhe und Socken sowie ihrer Handtasche einschließlich Portemonnaie und Papieren in der Nacht durch das Badezimmerfenster des Angeklagten kletterte, bei ihr fremden Menschen „Sturm“ klingelte und diese um Hilfe ersuchte; ihr von vielen Zeugen geschilderter desolater psychischer („fast hysterischer“) Zustand nach der Tat.

Dies alles sind objektive Umstände von Gewicht, die das Landgericht für seine Einschätzung von der Richtigkeit der Darstellung der Nebenklägerin herangezogen hat. Ein Rechtsfehler ist ihm dabei nicht unterlaufen; insbesondere liegen - anders als der Beschwerdeführer und der Generalbundesanwalt meinen - keine Erörterungsmängel vor. Das die Beweiswürdigung betreffende Revisionsvorbringen ist im Übrigen teils urteilsfremd, teils erschöpft es sich in einer eigenen Würdigung.

b) Die getroffenen Feststellungen tragen entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts den Schuldspruch auch hinsichtlich der Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB. Der Umstand, dass der Angeklagte die Nebenklägerin durch die Wohnung „zog“ beziehungsweise „zerrte“ und über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Positionen bei langanhaltender Gegenwehr gewaltsam den oralen und vaginalen Geschlechtsverkehr erzwang, belegt das Entstehen der vom Landgericht festgestellten leichten Verletzungen an Armen und Rippen („eingeklemmter Nerv“, „Hämatom“, „Prellung“) sowie einen entsprechenden Vorsatz des Angeklagten ohne Weiteres.

Es beschwert den Angeklagten nicht, dass die Strafkammer ihn nicht zugleich wegen einer in Tateinheit begangenen Freiheitsberaubung gemäß § 239 Abs. 1 StGB verurteilt hat. Gleiches gilt für den Umstand, dass das Landgericht seine verminderte Schuldfähigkeit angenommen hat, ohne insoweit nach der Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zu differenzieren (zur Unbeachtlichkeit der verminderten Fähigkeit zur Unrechtseinsicht vgl. etwa BGH, Urteil vom 25. März 2021 - 3 StR 408/20, juris Rn. 16 mwN; Beschluss vom 21. August 2019 - 3 StR 325/19, juris Rn. 6 mwN).

c) Die Strafzumessung ist ebenfalls frei von einem Rechtsfehler. Dass Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu schwerwiegenden psychischen Schäden beim Opfer führen können, ist allgemein bekannt. Liegen keine besonderen Umstände vor, bedarf die Annahme, dass solche Folgen für den Täter voraussehbar waren und mithin strafschärfend gewürdigt werden können, keiner näheren Darlegung (BGH, Beschluss vom 13. März 1997 - 1 StR 72/97, juris Rn. 19). Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte bei der Tat alkoholisiert war, was die Strafkammer im Rahmen der Strafzumessung ausdrücklich im Blick gehabt hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1080

Bearbeiter: Christian Becker