hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 234

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 567/19, Beschluss v. 21.01.2020, HRRS 2020 Nr. 234


BGH 3 StR 567/19 - Beschluss vom 21. Januar 2020 (LG Verden)

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung (keine Erledigung einer Vorstrafe durch sog. „Niederschlagung“; Ausschluss der Vollstreckung des noch offenen Strafrestes; zu erwartende Erfolglosigkeit der Vollstreckung).

§ 55 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Gemäß § 55 Abs. 1 S. 1 StGB ist eine in einer Vorverurteilung ausgesprochene (Geld-)Strafe für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung von Bedeutung, soweit sie nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen ist. Zu einer solchen Erledigung führt weder, dass die Vollstreckung eines noch offenen Strafrests im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 459e Abs. 3 StPO ausgeschlossen ist, noch, dass eine Vollstreckung in das Vermögen wegen zu erwartender Erfolglosigkeit im Sinne des § 459c Abs. 2 StPO unterbleibt. Auch die sog. „Niederschlagung“ der Geldstrafe durch die Staatsanwaltschaft, bei der von weiteren Vollstreckungsbemühungen abgesehen werden soll und eine Wiedervorlage der Akten zur weiteren Vollstreckung unterbleibt, führt nicht zu einer Erledigung der Strafe.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 10. Mai 2019, soweit es sie betrifft, im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Betruges in 17 Fällen und Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen und die Angeklagte von weiteren Tatvorwürfen freigesprochen. Die Angeklagte wendet sich mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen ihre Verurteilung. Das Rechtsmittel hat lediglich in Bezug auf die Gesamtstrafenbildung Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Strafkammer hat aus den Einzelstrafen für die 18 festgestellten Straftaten, welche die Angeklagte zwischen dem 11. September 2013 und dem 17. Februar 2017 beging, eine Gesamtstrafe gebildet. Einem Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 30. Dezember 2015 hat sie keine zäsurbildende Wirkung beigemessen und von der Festsetzung zweier Gesamtstrafen abgesehen. Zur Begründung hat sie darauf abgestellt, dass die Angeklagte zwar einen Rest der Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Leipzig in Höhe von 20 € noch nicht gezahlt habe. Allerdings habe die Staatsanwaltschaft Leipzig diesen noch offenen Strafrest „niedergeschlagen“, da er unter dem ausgeurteilten Tagessatz von 30 € liege und daher nicht vollstreckbar sei; ein Schreiben der Staatsanwaltschaft weise als „offene Forderung … 0,00 € aus“.

2. Die Begründung, mit der das Landgericht die vom Amtsgericht verhängte Strafe im Ergebnis als vollständig vollstreckt bewertet und auf die Bildung zweier Gesamtfreiheitsstrafen verzichtet hat, hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB ist die durch das Amtsgericht ausgesprochene Strafe für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung von Bedeutung, soweit sie nicht vollstreckt, verjährt oder erlassen ist. Eine derartige Erledigung ist durch die „Niederschlagung“ der Reststrafe nicht eingetreten. Die Strafe ist insbesondere nach den Urteilsfeststellungen bislang nicht vollständig vollstreckt worden.

a) Eine abschließende Vollstreckung ist nicht darin zu sehen, dass die Vollstreckung des noch offenen Strafrests im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 459e Abs. 3 StPO ausgeschlossen ist. Dies lässt nämlich die Möglichkeit einer weiteren Beitreibung nach § 459 StPO, § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 1 JBeitrG unberührt (vgl. § 50 Abs. 2 Satz 2 StVollstrO; Pohlmann/Jabel/Wolf, StVollstrO, 9. Aufl., § 50 Rn. 6).

b) Unterbleibt eine Vollstreckung in das Vermögen wegen zu erwartender Erfolglosigkeit im Sinne des § 459c Abs. 2 StPO, steht dies einer weiteren Beitreibung der Strafe bis zum Eintritt der Vollstreckungsverjährung ebenfalls nicht entgegen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 459c Rn. 6). Ein solches - teils als Niederschlagung bezeichnetes (vgl. entsprechend zu § 95 Abs. 2 OWiG KK/Mitsch, OWiG, 5. Aufl., § 95 Rn. 12) - Vorgehen hat mithin keine Auswirkung auf Bestand und Vollstreckbarkeit der Strafe.

Dies gilt auch, soweit die Staatsanwaltschaft Leipzig von keiner offenen Forderung mehr ausgeht. Mangels einer gesetzlichen Grundlage dafür, durch eine Niederschlagung die Vollstreckbarkeit einer rechtskräftigen Geldstrafe aufzuheben, handelt es sich hierbei lediglich um einen verwaltungsinternen Vorgang, nach dem ersichtlich von weiteren Vollstreckungsbemühungen abgesehen werden soll und eine Wiedervorlage der Akten zur weiteren Vollstreckung unterbleibt (vgl. VwVSäHO Nr. 2.1, 2.4, 2.5, 6.3 zu § 59; s. auch § 11 Abs. 1 EBAO; BeckOK KostR/Berendt, 28. Ed., EBAO § 11 Rn. 1 f.; zum Kostenanspruch BSG, Beschluss vom 29. September 2017 - B 13 SF 2/17 S, juris Rn. 9 mwN).

c) Ist aus den dargelegten Gründen die Geldstrafe noch nicht vollständig vollstreckt - und im Übrigen nicht verjährt oder erlassen -, besteht kein Anlass, sie im Rahmen des § 55 StGB wie eine insgesamt erledigte Strafe zu behandeln.

Die vom Landgericht herangezogene Erwägung, ein Verurteilter könnte sich durch nicht vollständige Zahlung einer Geldstrafe bewusst die Möglichkeit einer gespaltenen Gesamtstrafenbildung offenhalten, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen ist die Vollstreckungsbehörde, wie dargelegt, weiter in der Lage, die Vollstreckung in das Vermögen zu betreiben. Zum anderen hängt es jeweils von den - im Vorhinein kaum absehbaren - Besonderheiten der Strafenbildung im Einzelfall ab, ob aus Sicht des Betroffenen eine einzige Gesamtstrafe oder mehrere Gesamtstrafen vorzugswürdig erscheinen. Im Übrigen handelt es sich um die Konsequenzen der Gesetzeslage.

3. Die rechtsfehlerhafte Entscheidung über den Gesamtstrafenausspruch hat dessen Aufhebung zur Folge. Es ist nach den konkreten Umständen nicht auszuschließen, dass die Angeklagte durch die Festsetzung lediglich einer Gesamtfreiheitsstrafe beschwert ist. Da das Landgericht auf mehrere Einzelfreiheitsstrafen von neun Monaten und einem Jahr sowie in einem Fall von einem Jahr und sechs Monaten erkannt hat, kommt in Betracht, dass bei zwei Gesamtfreiheitsstrafen deren Dauer jeweils zwei Jahre nicht überstiege und mithin eine Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) zu prüfen wäre.

Die zugehörigen Feststellungen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO), weil sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind. Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, soweit sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

4. Bei der neuerlichen Gesamtstrafenbildung wird die Strafkammer zu beachten haben, dass hinsichtlich der Vorverurteilung der Vollstreckungsstand zum Zeitpunkt der Verkündung des angefochtenen Urteils (10. Mai 2019) maßgebend ist und eine Zäsurwirkung des amtsgerichtlichen Urteils durch eine mögliche Entscheidung nach § 53 Abs. 2 Satz 2, § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht entfiele (s. BGH, Beschluss vom 6. März 2018 - 3 StR 530/17, StV 2018, 489, 490 mwN). Zudem führt das Verbot der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) dazu, dass die Summe mehrerer neu gebildeter Gesamtstrafen die bisher verhängte Gesamtstrafe zuzüglich der einzubeziehenden Strafe nicht übersteigen darf.

5. Ergänzend bemerkt der Senat, dass die Strafkammer die Anklage insoweit nicht erschöpft hat, als sie bei Fall 18 der Anklage lediglich über die betrügerisch erlangte Zahlung von 850 € entschieden hat. Ihrer Kognitionspflicht unterlag jedoch auch die weitere in der Anklage genannte Zahlung von 1.800 € unabhängig davon, dass diese laut Anklageschrift „zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im November 2016", nach Überzeugung des Landgerichts indes „gegen Ende Oktober 2016" geleistet wurde. Eine Veränderung des Tatzeitpunkts hebt die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht ohne Weiteres auf. Eine solche Identität besteht hier trotz veränderter zeitlicher Einordnung, da die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der genauen Tatzeit nach anderen Merkmalen - Höhe des Geldbetrags, Person des Geschädigten, Mitteilung über Geldbedarf für eine neue Wohnung - individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2016 - 3 StR 454/15, juris Rn. 13 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 234

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 206; StV 2021, 39

Bearbeiter: Christian Becker