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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 538

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 454/15, Urteil v. 11.02.2016, HRRS 2016 Nr. 538


BGH 3 StR 454/15 - Urteil vom 11. Februar 2016 (LG Mönchengladbach)

(Schwerer) sexueller Missbrauch von Kindern; keine automatische Aufhebung der Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat bei Veränderung des Tatzeitpunkts; rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung aufgrund angenommener Bindung an Beweisregeln (keine Beschränkung auf Erinnerung der Zeugin in der Hauptverhandlung bei Schilderung der Tat gegenüber anderen Zeugen).

§ 176 StGB; § 176a StGB; § 200 StPO; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Veränderung des Tatzeitpunkts hebt die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat - hier: schwerer sexueller Missbrauch von Kindern - nicht ohne Weiteres auf. Eine solche Identität kann vielmehr trotz veränderter zeitlicher Einordnung bestehen bleiben, wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist.

Entscheidungstenor

Das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 3. Juli 2015 wird mit den Feststellungen aufgehoben,

auf die Revision der Nebenklägerin, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist;

auf die Revision der Staatsanwaltschaft, soweit der Angeklagte hinsichtlich der Taten 4. und 5. der Anklageschrift freigesprochen worden ist sowie im Rechtsfolgenausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin, an eine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf zurückverwiesen.

Die Revision des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Mit Urteil vom 21. Februar 2014 hatte das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen und des sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen. Auf die Revision der Nebenklägerin hat der Bundesgerichtshof dieses Urteil am 27. November 2014 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und sexuellen Missbrauchs von Kindern zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei weiteren Fällen hat es den Angeklagten erneut freigesprochen.

1. Die Revision des Angeklagten

Der Angeklagte wendet sich mit der auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision gegen seine Verurteilung. Die verfahrensrechtliche Beanstandung ist nicht näher ausgeführt und schon deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Mit der Sachrüge bleibt das Rechtsmittel aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts aufgeführten Gründen ebenfalls erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft

Dagegen hat die wirksam auf den Freispruch in den Fällen 4. und 5. der Anklage und den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft Erfolg.

a) Die Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft erweist sich allerdings ebenfalls, da unausgeführt, als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Zulässig ist das Rechtsmittel hingegen, soweit es sich mit materiellrechtlichen Beanstandungen gegen den Teilfreispruch in den Fällen 4. und 5. der Anklage sowie die Strafzumessung wendet.

b) Die Revision der Staatsanwaltschaft dringt mit der Sachrüge durch.

Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte die Nebenklägerin nach den beiden Taten, wegen derer es ihn verurteilt hat, in weiteren Fällen sexuell missbrauchte, wobei es auch zu Oral-, Anal- und Vaginalverkehr kam. Dennoch hat es den Angeklagten vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs in drei weiteren Fällen - u.a. den Fällen 4. und 5. der Anklage - freigesprochen, weil die von der Zeugin in der Hauptverhandlung geschilderten Missbrauchshandlungen den angeklagten Taten nicht zugeordnet werden könnten.

Die Voraussetzungen für einen Teilfreispruch waren indes nicht gegeben. Denn die Nebenklägerin, deren Angaben das Landgericht insgesamt für glaubhaft befunden hat, hat ausweislich der Urteilsgründe über Missbrauchstaten berichtet, die von den Anklagevorwürfen 4. und 5. umfasst sind.

aa) Als Tat 4. legt die Anklage dem Angeklagten zur Last, er habe drei bis vier Wochen nach dem ersten angeklagten Vorfall die Nebenklägerin, die in seiner Wohnung übernachtet habe, am ganzen Körper berührt, dann einen Finger in ihre Scheide eingeführt und schließlich mit ihr den vaginalen Geschlechtsverkehr ausgeübt.

Die Nebenklägerin hat in der Hauptverhandlung ausgesagt, dass es mehrfach zu vaginalem Geschlechtsverkehr gekommen sei. Der erste vaginale Geschlechtsverkehr habe in der Wohnung des Angeklagten stattgefunden. Es habe weh getan und sie habe danach geblutet.

Nach Auffassung des Landgerichts ist die Tatschilderung der Zeugin von der Anklage nicht umfasst. Bei der angeklagten Tat solle es sich um den ersten vaginalen Geschlechtsverkehr gehandelt haben. Da die Zeugin diesen aber zeitlich vor dem als Tat 3. vorgeworfenen Vorfall eingeordnet habe, passe ihre Darstellung nicht mit der angeklagten Tat zusammen. Auch habe sie ein zentrales Geschehen wie das Eindringen mit dem Finger dieser Tat nicht mehr zuordnen können.

Indes ergibt sich aus der Anklageschrift nicht, dass die dort geschilderte Tat 4. der erste vaginale Geschlechtsverkehr gewesen sei, weshalb sich die an diesen Umstand anknüpfende Beweiswürdigung des Landgerichts nicht als tragfähig erweist. Auch hat das Landgericht verkannt, dass eine Veränderung des Tatzeitpunkts die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht ohne Weiteres aufhebt. Eine solche Identität kann vielmehr trotz veränderter zeitlicher Einordnung bestehen bleiben, wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 133; vom 20. November 2014 - 4 StR 153/14, StraFo 2015, 68; Beschluss vom 13. März 1996 - 3 StR 43/96, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 19).

bb) Als Fall 5. wirft die Anklage dem Angeklagten einen letzten sexuellen Übergriff auf die Nebenklägerin im Oktober 2010 vor. Diesmal habe er die Zeugin, die ihn besucht habe, in seiner Wohnung entkleidet und mit ihr auf dem Bett „Geschlechts- und Analverkehr“ ausgeübt, wobei er auf das Bettlaken ejakuliert habe.

Auch insoweit hat sich das Landgericht nicht in der Lage gesehen festzustellen, dass es zu diesen Taten in den „angeklagten Situationen und zu den angeklagten Zeiten“ gekommen sei, so dass eine Zuordnung der Schilderungen der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung zum angeklagten Sachverhalt nicht möglich gewesen sei. Zwar habe die Zeugin hinsichtlich dieser Tat durchaus noch Einzelheiten in Erinnerung, doch könne sie diese nicht konkret dem letzten Vorfall zuordnen. Insbesondere werde anders als in der Anklage ein Analverkehr bei dieser letzten Tat nicht behauptet.

Auch insoweit ist der Auffassung der Strafkammer, die Schilderung der Zeugin weiche so massiv vom Anklagevorwurf ab, dass dieser nicht bestätigt werde, nicht zu folgen. Die Zeugin hat ausweislich der Urteilsgründe in der Hauptverhandlung von einem „letzten“ Vorfall berichtet, den sie zeitlich einordnen konnte und der hinsichtlich des Tatorts und des behaupteten Vaginalverkehrs mit dem ihm unter Ziff. 5. der Anklage angelasteten Geschehen übereinstimmt. Dass die Nebenklägerin, die eine Vielzahl von sexuellen Übergriffen behauptet hat, bestimmte Einzelheiten nicht konkret diesem letzten Vorfall zuordnen und sich auch an den offensichtlich in früheren Vernehmungen erwähnten Analverkehr nicht mehr erinnern konnte, verändert die individualisierenden Tatmodalitäten des angeklagten Geschehens nicht in einem Maße, dass die von der Nebenklägerin geschilderte Tat, die sie eindeutig als letzten Vorfall bezeichnet hat, mit der angeklagten Tat nicht mehr identisch sein kann.

cc) Die hinsichtlich der Verurteilung des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft führt im Ergebnis bereits deshalb zur Aufhebung des Strafausspruchs, weil dem zur neuen Entscheidung berufenen Tatrichter eine insgesamt stimmige Strafzumessung zu ermöglichen ist. Denn die Gesamtzahl der zum Nachteil der Nebenklägerin begangenen Straftaten kann für den Unrechtsgehalt der Einzeltaten von Bedeutung und deshalb im Fall einer Verurteilung wegen weiterer Missbrauchstaten ein bestimmender Strafzumessungsgrund sein. Auf die mit der zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision erhobenen Einzelbeanstandungen kommt es deshalb nicht an.

3. Die Revision der Nebenklägerin

a) Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Nebenklägerin, mit der diese sich gegen den gesamten Teilfreispruch wendet, ist hinsichtlich der Fälle 4. und 5. der Anklage aus den dargelegten Gründen (oben 2. b)) begründet.

b) Darüber hinaus hat sie auch hinsichtlich des Freispruchs im Fall 3. der Anklage Erfolg.

In diesem Fall wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vor, bei einer „weiteren Gelegenheit“ die auf der orangefarbenen Ausziehcouch in ihrem Zimmer liegende Nebenklägerin an Brust und Bauch gestreichelt zu haben. Anschließend habe diese bei ihm den Oralverkehr ausgeübt.

Hierzu hat die Zeugin in der Hauptverhandlung ausgesagt, sich zu erinnern, dass der Angeklagte mit ihr auf ihrer Bettcouch vaginalen Geschlechtsverkehr gehabt habe. Zu Oralverkehr sei es auf der orangefarbenen Couch ihrer Erinnerung nach nicht gekommen.

Ob, wie die Strafkammer meint, das von der Zeugin in der Hauptverhandlung berichtete Tatgeschehen nicht angeklagt war, kann dahinstehen, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts ist - eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstabs - rechtsfehlerhaft. Den diesbezüglichen Ausführungen ist zu entnehmen, dass die Geschädigte „die Tat wie angeklagt“ anderen Zeugen gegenüber geschildert hat. Die Annahme der Strafkammer, dass dennoch keine Beweismittel für die angeklagte Tat zur Verfügung stünden, weil entscheidend allein die Erinnerung der Zeugin in der Hauptverhandlung sei, ist rechtsfehlerhaft. Der Tatrichter ist nach § 261 StPO verpflichtet, die erhobenen Beweise zu würdigen und zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht. Eine Bindung an Beweisregeln besteht nicht (BGH, Beschlüsse vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20; vom 13. Februar 1998 - 3 StR 448/97, NStZ-RR 1998, 267; vom 4. September 2014 - 1 StR 341/14, NStZ 2015, 98-101; Urteil vom 9. April 2015 - 4 StR 401/14, NStZ 2015, 464, 465). Das hat die Strafkammer vorliegend verkannt und damit die Prüfung versäumt, ob sie sich - auch ohne dass die Zeugin in der Hauptverhandlung die Tat wie angeklagt geschildert hat - aufgrund der erwähnten Zeugenaussagen die Überzeugung verschaffen konnte, dass der Angeklagte die ihm angelastete Tat begangen hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 538

Bearbeiter: Christian Becker