hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 5

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 314/11, Beschluss v. 10.11.2011, HRRS 2012 Nr. 5


BGH 3 StR 314/11 - Beschluss vom 10. November 2011 (LG Lüneburg)

Eröffnungsbeschluss; Anklagegrundsatz; Einstellung des Verfahrens; prozessualer Tatbegriff (Identität der Tat; Auffassung des Lebens; individualisierende Tatmodalitäten); Verfall (entgegenstehende Ansprüche eines Verletzten).

§ 206a Abs. 1 StPO; § 264 StPO; § 111i Abs. 2 StPO; § 200 StPO; § 203 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Gericht muss seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Gericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden.

2. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt.

3. Bei der Untersuchung und Entscheidung muss die Identität der Tat gewahrt bleiben. Dies ist nicht der Fall, wenn das Gericht Umstände feststellt, die von den die angeklagten Taten individualisierenden Tatmodalitäten in erheblicher Weise abweichen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 18. März 2011 wird

a) bezüglich des Angeklagten G.

aa) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in den Fällen C. II. 2. b) der Urteilsgründe wegen Betruges in sechs Fällen verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;

bb) das vorbezeichnete Urteil - im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Betruges in fünf Fällen schuldig ist; - im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben;

b) bezüglich des Angeklagten E. das vorbezeichnete Urteil aufgehoben, soweit festgestellt ist, dass Ansprüche der Verletzten dem Verfall der Heizungsanlage Junker entgegenstehen; diese Feststellung entfällt. Hinsichtlich des Angeklagten G. wird die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

3. Der Angeklagte E. hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten G. wegen Betruges in elf Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Gegen den Angeklagten E. hat es wegen Betruges eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten verhängt und bestimmt, dass deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Zudem hat es festgestellt, dass Ansprüche der Verletzten dem Verfall der Heizungsanlage Junker, bestehend aus den in der Anlage des Urteils ersichtlichen Einzelteilen, entgegenstehen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Rechtsmittel der Angeklagten haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I. Revision des Angeklagten G.

Soweit das Landgericht den Angeklagten in den Fällen C. II. 2. b) der Urteilsgründe wegen Betruges in sechs Fällen verurteilt hat, fehlt es an den Verfahrensvoraussetzungen einer Anklageerhebung und eines Eröffnungsbeschlusses, so dass das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO einzustellen ist.

1. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 28. April 2010 war dem Angeklagten unter anderem zur Last gelegt worden, als Geschäftsführer der Fa. M GmbH in sechs Fällen zwischen dem 28. April und dem 26. Mai 2006 bei der Fa. Baustoffe B. Baumaterialien im Gesamtwert von 27.768,24 € bestellt zu haben, obwohl er gewusst habe, dass die Rechnungen wegen mangelnder Liquidität der Fa. M GmbH nicht bezahlt werden konnten, was in der Folgezeit mit Ausnahme einer Abschlagszahlung in Höhe von 1.000 € am 19. Juli 2006 auch unterblieben sei. Im Einzelnen habe es sich um folgende Bestellungen gehandelt: am 28. April 2006 im Wert von 6.315,50 €; am 30. April 2006 im Wert von 7.668,46 €; am 8. Mai 2006 im Wert von 2.099,82 €; am 16. Mai 2006 im Wert von 4.333,93 €; am 18. Mai 2006 im Wert von 7.280,93 € sowie am 26. Mai 2006 im Wert von 69,60 €.

Nach den Feststellungen des Landgerichts tätigte der Angeklagte im Zeitraum vom 21. April bis zum 12. Mai 2006 folgende sechs Bestellungen: am 21. April 2006 im Wert von 3.166,95 € netto/3.673,65 € brutto; am 24. April 2006 im Wert von 12.055,14 € netto/13.983,96 € brutto; am 4. Mai 2006 im Wert von 1.859,09 € netto/2.156,54 € brutto; am 5. Mai 2006 im Wert von 707,53 € netto/820,73 € brutto; am 10. Mai 2006 im Wert von 3.736,15 € netto/4.333,93 € brutto sowie am 12. Mai 2006 im Wert von 5.569,13 € netto/6.460,19 € brutto. Ausweislich der Urteilsgründe hat das Landgericht in der Hauptverhandlung einen Hinweis dahin erteilt, dass anstelle einer Verurteilung wegen der in der Anklageschrift mit Daten und Summen bezeichneten Taten auch eine Verurteilung wegen der festgestellten Taten in Betracht komme. Nähere Feststellungen zu den Baumaterialien, auf die sich die einzelnen Bestellungen bezogen, hat das Landgericht nicht getroffen.

2. Die auf diese Feststellungen gestützte Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand; das Verfahren ist insoweit einzustellen. Das vom Landgericht festgestellte Geschehen weicht so deutlich von den in der Anklageschrift geschilderten geschichtlichen Vorgängen ab, dass es sich nicht mehr als die von der Anklage bezeichneten Taten im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO darstellt.

a) Zwar muss das Gericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Gericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGH, Beschluss vom 7. November 1995 - 4 StR 608/95, NStZ-RR 1996, 203 mwN). Bei der Untersuchung und Entscheidung muss aber die Identität der Tat gewahrt bleiben (BGH, Beschluss vom 10. November 2008 - 3 StR 433/08, NStZ-RR 2009, 146, 147). Dies ist nicht der Fall, wenn das Gericht Umstände feststellt, die von den die angeklagten Taten individualisierenden Tatmodalitäten in erheblicher Weise abweichen.

b) So liegt es hier. Die Feststellungen des Landgerichts hinsichtlich der Modalitäten der jeweiligen Tatbegehung unterscheiden sich so wesentlich von den Anklagevorwürfen, dass mit ihnen andere als die angeklagten Taten beschrieben sind. Die Urteilsfeststellungen stimmen mit den Anklagevorwürfen lediglich bezüglich des geschädigten Unternehmens und der allgemeinen Art der bestellten Ware ("Baumaterialien") überein. Die hinsichtlich der erworbenen Gegenstände nicht konkretisierten einzelnen Taten erhalten ihr wesentliches Gepräge hier indes durch den Tatzeitpunkt sowie den jeweiligen Warenwert. Insoweit entsprechen sich Anklagevorwurf und Urteilsfeststellungen in keinem einzigen Punkt; alle sechs Bestelldaten und sämtliche Warenwerte weichen voneinander ab. Da es sich bei den abgeurteilten somit nicht um die angeklagten Taten handelt, wäre eine Verurteilung des Angeklagten nur nach Erhebung einer entsprechenden Nachtragsanklage möglich gewesen; der Hinweis des Landgerichts genügte hierfür nicht.

3. Die Einstellung des Verfahrens in den sechs Fällen C. II. 2. b) der Urteilsgründe führt zur Änderung des Schuldspruchs und wegen des Wegfalls der insoweit verhängten Einzelstrafen zur Aufhebung der Gesamtstrafe.

4. Der Senat weist darauf hin, dass über die genannten sechs angeklagten Betrugstaten noch keine Entscheidung ergangen ist; diese sind deshalb noch beim Landgericht anhängig.

II. Revision des Angeklagten E.

Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift zur Revision des Angeklagten E. ausgeführt:

"1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen Sachrüge hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Das angefochtene Urteil hält indes rechtlicher Nachprüfung nicht stand, soweit das Landgericht nach § 111i Abs. 2 StPO ausgesprochen hat, dass Ansprüche Verletzter einem Verfall der von dem Angeklagten aus der seiner Verurteilung zugrunde liegenden Tat (UA S. 33/35) erlangten Heizungsanlage entgegenstehen. Das Gericht hat übersehen, dass die Regelung des § 111i Abs. 2 StPO im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Die Vorschrift ist durch das 'Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten' vom 24. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2350) geschaffen worden und am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Ihre Anwendung auf bereits zuvor beendete Taten ist gemäß § 2 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 StGB, wonach insoweit das mildere alte Recht gilt, ausgeschlossen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2008 - 3 StR 460/08, wistra 2009, 241 f.; vom 12. August 2010 - 4 StR 293/10 Rdnr. 26, jeweils mwN).

Danach kommt hier ein Ausspruch nach § 111i Abs. 2 StPO - unabhängig vom Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der Bestimmung - hinsichtlich der von der Firma W. in C. betrügerisch erworbenen Heizungsanlage nicht in Betracht. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen wurde die Tat am 20. Juli 2006 (UA S. 11 und 34) begangen und war mit Erlangung des Besitzes des Angeklagten an der Heizungsanlage (dazu Fischer StGB 58. Aufl. § 263 Rdnr. 201) 'etwa vier bis sechs Wochen' später (UA S. 35) beendet. Das Urteil unterliegt daher insoweit der Aufhebung."

Dem stimmt der Senat zu.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 5

Bearbeiter: Ulf Buermeyer