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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 544

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 230/16, Beschluss v. 01.12.2016, HRRS 2017 Nr. 544


BGH 3 StR 230/16 - Beschluss vom 1. Dezember 2016 (LG Hannover)

BGHR; Wiederaufnahme der Klage auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel (Nova; Überprüfung des zweiten Eröffnungsbeschlusses durch das Revisionsgericht; Beurteilungsgrundlage; zum Zeitpunkt der Eröffnung vorliegender Akteninhalt; Berücksichtigung eines Beweisverwertungsverbots unabhängig vom Verwertungswiderspruch; Umfang der Bindung des Revisionsgerichts bei der Prüfung der besonderen Prozessvoraussetzungen).

§ 136a StPO; § 211 StPO

Leitsätze

1. Ob die Klage im Sinne des § 211 StPO auf Grund neuer Tatsachen oder Beweismittel (sog. Nova) wiederaufgenommen werden durfte, überprüft das Revisionsgericht als besondere Prozessvoraussetzung auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegenden Akteninhalts. (BGHR)

2. Bestand bei Eröffnung hiernach bezüglich der Nova ein Beweisverwertungsverbot, so ist dies im Revisionsverfahren ebenso wie im Eröffnungs- und Hauptverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen; eines Verwertungswiderspruchs des Angeklagten bedarf es nicht. (BGHR)

3. Allein die Entgegennahme von belastenden Informationen durch die Ermittlungsbehörden, die ein Zeuge durch Täuschung des Beschuldigten erlangt hat, führt nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Eine Pflicht, dies zu unterbinden, trifft die Ermittlungsbehörden grundsätzlich nicht. (BGHR)

4. Gemäß der den Senat bindenden verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG HRRS 2005 Nr. 133) ist § 210 Abs. 1 StPO dahin einschränkend auszulegen, dass in dessen Anwendungsbereich der Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens bei vorausgegangener rechtskräftiger Nichteröffnung nach § 211 StPO nicht einbezogen ist Vielmehr ist der Eröffnungsbeschluss in dem Zweitverfahren mit der einfachen Beschwerde anfechtbar, um die verfassungsrechtlich gebotene zeitnahe justizförmige Überprüfung der Nova zu gewährleisten. Im Revisionsverfahren steht § 336 S. 2 StPO deshalb einer Überprüfung des erneuten Eröffnungsbeschlusses nicht entgegen. (Bearbeiter)

5. Bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts im Rahmen der Eröffnungsentscheidung sind mögliche Beweisverwertungsverbote zu berücksichtigen, weil für die Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht nur der materielle Verdachtsgrad, sondern auch die tatsächliche Beweisbarkeitsprognose gegeben sein muss. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass Verwertungsverbote bereits durch den jeweiligen Gesetzesverstoß, nicht erst durch ein Untätigbleiben in der Hauptverhandlung begründet werden und bei der Eröffnungsentscheidung unabhängig von einer Beanstandung durch den Angeschuldigten von Amts wegen zu beachten sind. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 15. Oktober 2015 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes unter Einbeziehung einer Strafe aus einer früheren Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Erfolg.

I. Der Erörterung bedarf lediglich die besondere Prozessvoraussetzung des Vorliegens neuer Tatsachen oder Beweismittel gemäß § 211 StPO als Grundlage der Eröffnung des Hauptverfahrens bei vorausgegangener rechtskräftiger Nichteröffnung.

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

Das Landgericht hatte ursprünglich die vormals gegen den Angeklagten wegen der verfahrensgegenständlichen Tat (§ 264 StPO) erhobene Anklage mangels hinreichenden Tatverdachts nicht zur Hauptverhandlung zugelassen und die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Diese Entscheidung war mit der Verwerfung der dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde der Nebenkläger durch das Oberlandesgericht Celle rechtskräftig geworden.

Nachdem der Angeklagte in anderer Sache Anfang April 2014 in Untersuchungshaft genommen worden war, gestand er die verfahrensgegenständliche Tat den in derselben Justizvollzugsanstalt inhaftierten Zeugen K. und H. Sie hatten den Angeklagten während gemeinsamer Umschlusszeiten unter Vorspiegelung des Angebots, ihm bei der Beseitigung der bis dahin nicht aufgefundenen Leiche behilflich zu sein, gezielt zur hiesigen Tat befragt. Nachdem die beiden Zeugen ihr Wissen über die Äußerungen des Angeklagten den Ermittlungsbehörden weitergegeben hatten, nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wieder auf, die zum Auffinden der Leiche und schließlich zur Erhebung einer neuen Anklage führten. Diese ist mit Beschluss des Landgerichts vom 26. Juni 2015 zur Hauptverhandlung zugelassen worden.

2. Die Revision ist der Ansicht, für die Aussagen der Zeugen K. und H. habe ein Beweisverwertungsverbot bestanden, so dass sie keine tauglichen neuen Beweismittel im Sinne des § 211 StPO gewesen seien.

3. Das Landgericht ist bei seiner Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtsfehlerfrei vom Vorliegen neuer Tatsachen und Beweismittel nach § 211 StPO (sogenannter Nova) ausgegangen.

a) Aus § 210 Abs. 1 und 2 StPO, wonach ein Eröffnungsbeschluss für den Angeklagten nicht, für die Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde nur ausnahmsweise - im Fall der Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung - anfechtbar ist, ergeben sich für den Senat bei der Überprüfung des Eröffnungsbeschlusses des Landgerichts vom 26. Juni 2015 im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 211 StPO keine Einschränkungen. § 336 Satz 2 StPO, der ausdrücklich für unanfechtbar erklärte und mit der sofortigen Beschwerde anfechtbare Entscheidungen der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzieht, steht dem nicht entgegen.

Vor Einführung des § 336 Satz 2 StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 vom 5. Oktober 1978 (BGBl. I S. 1645) ging die höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, dass es sich bei dem Vorliegen von Nova im Sinne des § 211 StPO um eine besondere Prozessvoraussetzung handelt, die vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen ist (vgl. RG, Urteile vom 16. April 1912 - V 1263/11, RGSt 46, 67, 71 f.; vom 10. Mai 1921 - IV 20/21, RGSt 56, 91 f.; vom 1. Dezember 1922 - IV 457/22, RGSt 57, 158; vom 18. Februar 1926 - II 11/26, RGSt 60, 99 f.; BGH, Urteil vom 18. Januar 1963 - 4 StR 385/62, NJW 1963, 1019, 1020 [insoweit in BGHSt 18, 225 nicht abgedruckt]). Dies ist in späteren Entscheidungen und in der Kommentarliteratur übernommen worden, ohne dass die neu geschaffene Vorschrift des § 336 Satz 2 StPO problematisiert worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 1988 - 3 StR 460/88, BGHR StPO § 211 neue Tatsachen 1; vom 18. August 1993 - 5 StR 469/93, BGHR StPO § 211 neue Tatsachen 2; HKStPO/Julius, 5. Aufl., § 211 Rn. 12; SKStPO/Paeffgen, 5. Aufl., § 211 Rn. 13; Radtke/Hohmann/Reinhart, StPO, § 211 Rn. 6; Graf/Ritscher, StPO, 2. Aufl., § 211 Rn. 4; KK/Schneider, StPO, 7. Aufl., § 211 Rn. 13; KMR/Seidl, 63. EL, § 211 Rn. 24; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 211 Rn. 29; MüKoStPO/Wenske, § 211 Rn. 56).

In jüngerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Art. 103 Abs. 3 GG eine einschränkende Auslegung des § 210 Abs. 1 StPO dahin gebietet, dass in dessen Anwendungsbereich der Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens bei vorausgegangener rechtskräftiger Nichteröffnung nach § 211 StPO nicht einbezogen ist (Beschluss vom 3. September 2004 - 2 BvR 2001/02, StV 2005, 196 f.); Art. 103 Abs. 3 GG verbiete nicht nur jede Doppelbestrafung, sondern gewährleiste auch den Schutz vor doppelter Strafverfolgung. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf erkannt, dass der Eröffnungsbeschluss in dem Zweitverfahren mit der (einfachen) Beschwerde - im dortigen Ausgangsverfahren war diese sieben Monate nach der Eröffnungsentscheidung eingelegt worden - anfechtbar ist, und dies mit der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer zeitnahen justizförmigen Überprüfung der Nova begründet. Mit der Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde gemäß § 311 StPO in analoger Anwendung des § 210 Abs. 2 StPO hat es sich nicht - jedenfalls nicht ausdrücklich - auseinandergesetzt. Dies wäre deshalb in Betracht gekommen, weil die sofortige Beschwerde das einzig statthafte Rechtsmittel ist, welches das Gesetz in Bezug auf einen Eröffnungsbeschluss kennt, und sie weit eher eine zeitnahe Überprüfung der Eröffnungsentscheidung gewährleisten würde.

Weil diese verfassungsgerichtliche Rechtsprechung den Senat freilich bindet, hat er von der Statthaftigkeit der (einfachen) Beschwerde auszugehen, mit der Folge, dass schon deshalb die Vorschrift des § 336 Satz 2 StPO der revisionsgerichtlichen Kontrolle eines nach § 211 StPO gefassten Eröffnungsbeschlusses nicht entgegensteht.

b) Die Überprüfung des Eröffnungsbeschlusses in dem Zweitverfahren ist auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Eröffnung vorliegenden Akteninhalts vorzunehmen. Bei der Eröffnungsentscheidung handelt es sich auch im Fall des § 211 StPO um eine vorläufige Tatbewertung anhand der dem Gericht vorliegenden Akten, die nicht im Nachhinein deshalb unrichtig wird, weil sich das Wahrscheinlichkeitsurteil nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung nicht bestätigt. Hat das Eröffnungsgericht dieses Wahrscheinlichkeitsurteil ohne Rechtsverstoß getroffen, bleibt die besondere Prozessvoraussetzung für das neue Verfahren daher bestehen (vgl. LR/Stuckenberg aaO, Rn. 25, 29; ferner KK/Schneider aaO; MüKoStPO/Wenske aaO, Rn. 31, 51 f.).

c) Prüfungsmaßstab für das Revisionsgericht ist die Frage, ob die Tatsachen oder Beweismittel für das eröffnende Gericht im Sinne des § 211 StPO neu und erheblich gewesen sind. Als neu sind sie zu bewerten, wenn sie dem Gericht, das die Eröffnung zuvor abgelehnt hatte, aus den Akten nicht ersichtlich waren (vgl. MüKoStPO/Wenske aaO, Rn. 20; LR/Stuckenberg aaO, Rn. 11; KK/Schneider aaO, Rn. 4). Sie sind dann erheblich, wenn sie vom Standpunkt des eröffnenden Gerichts aus geeignet gewesen sind, allein oder im Zusammenwirken mit den übrigen, dem Erstgericht schon bekannt gewesenen Tatsachen und Beweismitteln die Frage nach dem Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts im Sinne des § 203 StPO nunmehr anders zu beurteilen als bisher (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1963 - 4 StR 385/62, NJW 1963, 1019, 1020; OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. November 2001 - 3 Ws 662/01, NStZ-RR 2002, 78; KK/Schneider aaO, Rn. 5; LR/Stuckenberg aaO, Rn. 12; MüKoStPO/Wenske aaO, Rn. 23).

aa) Bei dieser Prüfung hat ein mögliches Beweisverwertungsverbot nicht schon deswegen außer Betracht zu bleiben, weil - so Formulierungen in einigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (vgl. Urteile vom 28. Oktober 1986 - 1 StR 507/86, NStZ 1987, 132, 133; vom 12. Januar 1996 - 5 StR 756/94, BGHSt 42, 15, 22; vom 19. März 1996 - 1 StR 497/95, NJW 1996, 2239, 2241 [insoweit in BGHSt 42, 86 nicht abgedruckt]; ähnlich Beschluss vom 11. Juli 2008 - 5 StR 202/08, NStZ 2008, 643; s. andererseits - „Rügepräklusion“ infolge Nichtausübung eines „prozessualen Gestaltungsrechts“ - Beschlüsse vom 9. November 2005 - 1 StR 447/05, NJW 2006, 707; vom 20. Oktober 2014 - 5 StR 176/14, BGHSt 60, 38, 43 f.; vom 27. September 2016 - 4 StR 263/16, juris) - bereits dessen Entstehung von einem hierauf bezogenen rechtzeitigen Widerspruch des Angeklagten in der Hauptverhandlung abhängig wäre. Strenggenommen bedeutete dies, dass das Verwertungsverbot zum Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung noch gar nicht bestanden haben könnte (zur Unbeachtlichkeit des vor der Hauptverhandlung erklärten Widerspruchs s. BGH, Beschluss vom 17. Juni 1997 - 4 StR 243/97, NStZ 1997, 502 f.). Eine solche Schlussfolgerung ist indes ersichtlich noch nicht gezogen worden. Vielmehr wird allgemein davon ausgegangen, dass bei der Prüfung des hinreichenden Tatverdachts im Rahmen der Eröffnungsentscheidung mögliche Beweisverwertungsverbote zu berücksichtigen sind, weil für die Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht nur der materielle Verdachtsgrad, sondern auch die tatsächliche Beweisbarkeitsprognose gegeben sein muss (auf das Problem eingehend - soweit ersichtlich - nur MüKoStPO/Wenske, § 203 Rn. 30 f.; vgl. auch LR/Stuckenberg aaO, § 203 Rn. 15; KK/Schneider aaO, § 203 Rn. 7). Es kann nicht zweifelhaft sein, dass Verwertungsverbote bereits durch den jeweiligen Gesetzesverstoß, nicht erst durch ein Untätigbleiben in der Hauptverhandlung begründet werden und bei der Eröffnungsentscheidung unabhängig von einer Beanstandung durch den Angeschuldigten von Amts wegen zu beachten sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. März 2004 - 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99, NJW 2004, 999, 1007; BGH, Beschlüsse vom 4. April 1990 - StB 5/90, BGHSt 36, 396; vom 15. Mai 2008 - StB 4 und 5/08, NStZ 2008, 643; Becker, Referat zum 67. DJT, 2008, S. L 45, 55 f. mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 203 Rn. 2).

bb) Zum Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung bestanden nach der vom Senat vorgenommenen Auswertung des Inhalts der Sachakten ebenso wie nach den Urteilsfeststellungen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Ermittlungsbehörden das Vorgehen der Zeugen K. und H. zurechnen lassen müssten und damit ein Beweisverwertungsverbot wegen einer möglichen Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit des sich auf sein Schweigerecht berufenden Angeklagten in Betracht kommen könnte. Somit kann dahingestellt bleiben, ob das Revisionsgericht bei der Prüfung der besonderen Prozessvoraussetzung auch hinsichtlich nicht doppelrelevanter Tatsachen an die vom Landgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen gebunden ist (so LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 32; SSWStPO/Sättele, 2. Aufl., § 244 Rn. 19; die „beachtlichen Argumente“ anerkennend MüKoStPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn. 42, Fn. 211) oder - trotz der höheren Richtigkeitsgewähr der Feststellungen des sachnäheren Tatgerichts - eigene Feststellungen im Wege des Freibeweises zu treffen hat (so die hM, vgl. etwa BGH, Urteile vom 3. Februar 1960 - 2 StR 576/58, BGHSt 14, 137, 139; vom 10. Juli 2014 - 3 StR 140/14, NStZ-RR 2014, 318, 319; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 29; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 337 Rn. 6, jew. mwN; explizit für § 211 StPO BGH, Urteil vom 18. Januar 1963 - 4 StR 385/62, NJW 1963, 1019, 1020; inzident auch RG, Urteil vom 18. Februar 1926 - II 11/26, RGSt 60, 99 f.).

Den Akten lassen sich keine Hinweise darauf entnehmen, dass die Ermittlungsbehörden die genannten Zeugen in irgendeiner Weise zu deren Vorgehen veranlasst, sie dabei gefördert, unterstützt, bestärkt oder sonst beeinflusst hätten (s. zu den rechtlichen Maßstäben im Einzelnen BGH, Urteile vom 28. April 1987 - 5 StR 666/86, BGHSt 34, 362; vom 27. September 1988 - 1 StR 187/88, BGHR StPO § 136a Abs. 1 Zwang 2; vom 8. Oktober 1993 - 2 StR 400/93, BGHSt 39, 335; vom 21. Juli 1998 - 5 StR 302/97, BGHSt 44, 129; vom 26. Juli 2007 - 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11; Beschlüsse vom 13. Mai 1996 - GSSt 1/96, BGHSt 42, 139; vom 31. März 2011 - 3 StR 400/10, NStZ 2011, 596; EGMR, Urteile vom 5. November 2002 - 48539/99, JR 2004, 127; vom 10. März 2009 - 4378/02, NJW 2010, 213). Die Verteidigung hat erstmals mit Schriftsatz vom 21. September 2015, mithin einen Tag vor Beginn der Hauptverhandlung behauptet, dass die Angaben der Zeugen K. und H. durch unzulässige Vorfeldermittlungen gewonnen worden und beide durch das In-Aussicht-Stellen von Vergünstigungen zu „Werkzeugen der Ermittlungsbehörden“ geworden seien.

Angesichts des eigeninitiativen Handelns der Zeugen, die für sich eine vorzeitige Haftentlassung oder Hafterleichterungen erhofften und ihr Wissen den Ermittlungsbehörden nur stückweise und nicht in vollem Umfang freiwillig mitteilten, liegt nach Aktenlage keine den Ermittlungsbehörden zurechenbare, den Nemo tenetur-Grundsatz verletzende Informationsgewinnung vor.

(1) Der zeitliche Ablauf des Geschehens um die geständigen Angaben des Angeklagten stellt sich wie folgt dar:

Der Angeklagte wurde am 3. April 2014 unter dem dringenden Tatverdacht eines weiteren Mordes festgenommen und befand sich seitdem in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Nachdem am 15. April 2014 ein ehemaliger Zellengenosse gegenüber der Polizei bekundet hatte, ihm gegenüber habe der Angeklagte geständige Andeutungen zur verfahrensgegenständlichen Tat gemacht, erhielt sie am 22. April 2014 von einem Zeitungsredakteur einen Hinweis darauf, dass der Angeklagte gegenüber einem anderen, mittlerweile entlassenen Mithäftling diese Tat gestanden habe. Am 24. April 2014 nahm die Polizei, um dem Hinweis nachzugehen, telefonisch Kontakt mit der Justizvollzugsanstalt auf und erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass sich der Angeklagte sehr unauffällig und zurückgezogen verhalte, allerdings bei einem Besuch der Sanitätsabteilung mit dem inhaftierten Zeugen K. - dessen Angaben zufolge am 23. April 2014 - in Kontakt getreten sei. Am 28. April 2014 wurde der Zeuge erstmals von einem von der zuständigen Polizeibehörde im Wege der Amtshilfe ersuchten Polizeibeamten aufgesucht; diesem berichtete er, er wolle die Tat aufklären und habe den Angeklagten fast „geknackt“. Er bat um gemeinsame Zellenumschlüsse mit dem Angeklagten, die es in der Folgezeit allerdings nicht gab. Bei diesem ersten Gespräch offenbarte der Zeuge, dass er eine Haftverkürzung erstrebe und die anderen Gefangenen in sein Vorhaben eingeweiht habe, damit er das Vertrauen des Angeklagten gewinnen könne.

Am 5. Mai 2014 teilte die Justizvollzugsanstalt der Polizei mit, der Angeklagte habe die verfahrensgegenständliche Tat gegenüber dem Zeugen K. gestanden. Daraufhin suchten am 7. Mai 2014 zwei Polizeibeamte den Zeugen im Beisein seines Rechtsanwalts auf; der Zeuge bestätigte das Geständnis des Angeklagten, erklärte allerdings, er beabsichtige erst dann umfassend auszusagen, wenn mit der für ihn zuständigen Staatsanwaltschaft geklärt sei, inwieweit sich seine Angaben positiv auf die anstehende Entscheidung über die Aussetzung des restlichen Drittels seiner Haftstrafe zur Bewährung auswirkten. Der für das Ermittlungsverfahren zuständige Staatsanwalt wies am 8. Mai 2014 den Rechtsanwalt des Zeugen K. telefonisch darauf hin, dass er mangels Zuständigkeit diesem und auch dem Zeugen H. keine Zusagen erteilen könne.

Etwa einen Monat später, am 5. Juni 2014, fand die erste polizeiliche Vernehmung der beiden Zeugen statt, wobei der Zeuge K. das - zuvor zurückgehaltene - erste „schriftliche Geständnis“ des Angeklagten vom 1. Mai 2014 übergab. Dass er zu diesem Zeitpunkt im Besitz einer handschriftlichen Skizze vom Ablageort der Leiche und eines zweiten „schriftlichen Geständnisses“ war, das der Angeklagte in der Zeit vom 16. bis 20. Mai 2014 unterzeichnet hatte, offenbarte der Zeuge indes nicht. Die Skizze wurde am 30. Juni 2014 von seinem Rechtsanwalt der Polizei übergeben, nachdem am 22. Juni 2014 ein Brief der Zeugen K. und H. angehalten worden war, mit dem sie sich bezüglich ihrer Aufklärungsarbeit an die Presse wandten. Ebenfalls über die Presse wurde Anfang September 2014 bekannt, dass noch das zweite „schriftliche Geständnis“ des Angeklagten existierte, woraufhin ein Durchsuchungsbeschluss für die Zelle des Zeugen K. erwirkt und vollzogen wurde. Im Rahmen der diesbezüglich geführten weiteren Vernehmung des Zeugen vom 18. September 2014 händigte er das zweite „schriftliche Geständnis“ des Angeklagten aus und räumte ein, dieses zurückbehalten zu haben, um durch eine Weitergabe an die Presse Druck wegen seiner eigenen vorzeitigen Entlassung aus der Haft aufzubauen und etwas Geld zu verdienen.

(2) Die Zeugen K. und H. sagten ausweislich der Protokolle über die polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Vernehmungen vom 5. Juni, 22. Juli, 30. September und 10. Dezember 2014 vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses wie folgt aus:

Beide Zeugen erklärten durchgehend und übereinstimmend, selbst auf die Idee gekommen zu sein, das Vertrauen des Angeklagten zu gewinnen und ihn so zu geständigen Angaben zu veranlassen. Beide Zeugen bekundeten die dem Angeklagten gegenüber verwendete „Legende“ als Organhändler und die ihm angebotene Hilfe bei der Leichenbeseitigung. Sie gaben an, dass sie den regulären Umschluss im überwachten Freizeitraum oder die Freistunde mit dem Angeklagten verbracht hätten, hingegen ein gemeinsamer Zellenumschluss oder ein gemeinsames Essen - auch auf entsprechende Bitte - nicht stattgefunden habe. Die Aussagen der Zeugen stimmen auch darin überein, dass sie von niemandem, auch nicht der Polizei, um Mithilfe bei der Aufklärung des Falles gebeten worden seien oder Informationen erhalten hätten. Ihr Wissen hätten sie ausschließlich aus den Medien gewonnen oder von dem Angeklagten erhalten. Auch den Rechtsanwalt hätten sie erst unterrichtet, nachdem der Angeklagte die verfahrensgegenständliche Tat eingestanden und das erste schriftliche Geständnis vom 1. Mai 2014 unterzeichnet gehabt habe.

Die Angaben der beiden Zeugen bei ihren polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Einvernahmen entsprechen auch denjenigen, die sie in der Hauptverhandlung gemacht haben, so wie sie in den Urteilsgründen dargestellt und rechtsfehlerfrei gewürdigt sind.

(3) Nach alledem ist nicht ersichtlich, dass die Ermittlungsbehörden auf das Vorgehen der Zeugen K. und H. zur Erlangung der geständigen Angaben des Angeklagten Einfluss genommen hätten. Dies findet in den Akten keine Stütze, weder im Hinblick auf den Geschehensablauf noch im Hinblick auf die Angaben der Zeugen.

Insgesamt ergibt sich einerseits eine in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede vorhandene Bereitschaft und Motivation der Inhaftierten, geständige Angaben von Mitinhaftierten zu erlangen, um die Informationen um eigener Vorteile willen der Polizei oder der Presse anzudienen, andererseits eine zurückhaltende bis skeptische Haltung der Ermittlungsbehörden gegenüber derartigen Bemühungen. So hält etwa ein polizeilicher Vermerk vom 20. Mai 2014 fest, „einige Inhaftierte“ würden sich „wie 'geschwätzige Elstern' gerieren“. Auch die kurze Zeitspanne vom in dieser Sache am 28. April 2014 stattgehabten ersten Kontakt eines Polizeibeamten, der mit den Ermittlungen sonst nicht betraut war, mit dem Zeugen K. und dem vom Angeklagten am 1. Mai 2014 unterzeichneten ersten „schriftlichen Geständnis“ spricht gegen die Behauptung des Angeklagten, jener und der Zeuge H. seien durch das In-Aussicht-Stellen von Vergünstigungen zu „Werkzeugen der Ermittlungsbehörden“ geworden.

Allein die Entgegennahme von belastenden Informationen durch die Ermittlungsbehörden, die ein Zeuge durch Täuschung des Beschuldigten erlangt hat, führt indes nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Eine Pflicht, dies zu unterbinden, trifft die Ermittlungsbehörden grundsätzlich nicht. Soweit der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 21. Juli 1998 (5 StR 302/97, BGHSt 44, 129) davon ausgegangen ist, dass ein Beweisverwertungsverbot auch bei einem behördlichen Nichteinschreiten in Betracht kommt, hat dem der Ausnahmefall zugrunde gelegen, dass eine Mitinhaftierte, die nach eigenem Bekunden schon jahrelang mit der Polizei zusammengearbeitet hatte, die Angeklagte mittels abergläubischer Rachedrohungen, nicht ausschließbar unter Verabreichung von sedierenden Betäubungsmitteln zu Angaben veranlasste (sog. „Wahrsagerinnen-Fall“). Hiermit ist der vorliegende Fall nicht zu vergleichen.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Eine Erstattung der notwendigen Auslagen der Nebenkläger im Revisionsverfahren findet wegen deren gleichfalls erfolglosen Revisionen nicht statt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 473 Rn. 10a).

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 544

Externe Fundstellen: NJW 2017, 1828 ; NStZ 2017, 593 ; StV 2017, 780

Bearbeiter: Christian Becker