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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 245/00, Urteil v. 17.08.2000, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 4 StR 245/00 - Urteil v. 17. August 2000 (LG Magdeburg)

BGHSt 46, 130; Unzulässige Änderung der in der Anklageschrift angegebenen Tatzeiten nach Zulassung der Anklage; In dubio pro reo; Zweifelsgrundsatz; Nicht erschöpfende Aburteilung von der Anklage umfaßter Taten; Tatkonkretisierung in der schriftlichen Anklage (Tatzeitraum); Nachtragsanklage; Grundsatz des "Vorrangs des Freispruchs vor der Einstellung"; Anhängigkeit

§ 264 StPO; § 266 StPO

Leitsätze des BGH (BGHSt)

1. Eine Änderung der in der Anklageschrift angegebenen Tatzeiten, durch die bisher von der Anklage nicht erfaßte Straftaten in die Strafverfolgung einbezogen werden sollen, ist nach Zulassung der Anklage auch dann nicht zulässig, wenn es sich bei den Angaben in der Anklageschrift um ein Versehen der Staatsanwaltschaft gehandelt hat und diese der Änderung zustimmt.

2. Ist eine nicht angeklagte Tat abgeurteilt worden, so unterliegt auch das freisprechende Urteil auf zulässige Revision der Staatsanwaltschaft der Aufhebung. Das beim Landgericht geführte Verfahren ist einzustellen. Der Grundsatz des "Vorrangs des Freispruchs vor der Einstellung" gilt hier nicht.

3. Hält der Tatrichter rechtsirrig eine Tat für nicht angeklagt und sieht er daher von einer Entscheidung über diese Tat ab, so ist das Verfahren in diesem Umfang weiterhin bei ihm anhängig; eine Entscheidungsbefugnis des Revisionsgerichts in der Sache besteht insoweit nicht.

Entscheidungstenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird

1. das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 21. Januar 2000 aufgehoben, soweit der Angeklagte von dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen für den Tatzeitraum März 1993 bis einschließlich Februar 1994 freigesprochen worden ist;

insoweit wird das Verfahren eingestellt und trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten;

2. das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte von dem Vorwurf des in der Wohnung L. begangenen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen freigesprochen worden ist;

insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die übrigen Kosten des Rechtsmittels, an eine andere - als Jugendschutzkammer zuständige - Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

II. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in 324 Fällen freigesprochen. Ferner hat es angeordnet, daß der Angeklagte für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen ist. Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt, erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des freisprechenden Urteils. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat teilweise Erfolg; im übrigen ist es unbegründet.

I.

Die - unverändert zugelassene - Anklage vom 24. Februar 1997 hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, in der Zeit "von März 1994 bis Mai 1996" in 324 Fällen sexuelle Handlungen an der am 27. Januar 1985 geborenen F. C. vorgenommen zu haben. Hierzu hat das Landgericht in den Gründen der angefochtenen Entscheidung ausgeführt:

"Die vorbezeichnete Anklageschrift enthält insoweit einen Fehler, als hier offensichtlich der Zeitraum März 1993 bis Mai 1995 gemeint sein sollte. Dies ergibt sich aus der Begleitverfügung zur Anklageschrift Ziffer 4 (Bd. I, Bl. 147/148 der Akten). Hiernach beruht der Inhalt der Anklageschrift, soweit Straftaten zum Nachteil der F. C. betroffen sind, auf der Zeugenvernehmung der F. C. durch die sachbearbeitende Staatsanwältin am 19. 12.1996 (Bd. I, Bl. 100 ff. der Akten). Innerhalb dieser Zeugenvernehmung hatte F. C. bekundet, dass die sexuellen Handlungen des Angeklagten vom 2. Schuljahr an (im Alter von 8 Jahren) begannen und bis zum Beginn des 5. Schuljahres andauerten; Jahreszahlen nannte F. hierbei nicht. Gemäß der o.g. Begleitverfügung wurde daher seitens der Staatsanwaltschaft von einem Tatzeitraum Mitte der 2. Klasse (März 1994) bis Ende der 4. Klasse (Mai 1996) ausgegangen. Tatsächlich muß es sich dann aber um den Zeitraum März 1993 bis Mai 1995 gehandelt haben, da sich F. zum Zeitpunkt ihrer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung vom 19.12.1996 in der 6. Klasse befand (gemäß der Zeugenvernehmung der D. T. vom 19.12.1996, Bd. I, Bl. 95 ff. der Akten, die zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung in die 6. Klasse ging, war F. zum damaligen Zeitpunkt ihre Klassenkameradin). Im übrigen hat F. innerhalb der o.g. staatsanwaltschaftlichen Vernehmung bekundet, nach ihrer Verbringung in den Kinder- und Jugendnotdienst und anschließend in das E.-W.-Kinderheim habe es keine sexuellen Handlungen des Angeklagten ihr gegenüber mehr gegeben. Die Verbringung ins Kinderheim fand jedoch, was bereits aus verschiedenen Aktenvermerken ersichtlich ist und auch durch die Zeugin S. W. (Heimerzieherin) in der Hauptverhandlung bestätigt wurde, im September 1995 statt, wobei sich F. vorher noch maximal zwei Monate in einer Übergangseinrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes aufgehalten hat. Bei dem in der Anklageschrift angenommenen Tatzeitraum März 1994 bis Mai 1996 handelt es sich daher offensichtlich um einen Berechnungsfehler der sachbearbeitenden Staatsanwältin, worauf vom Vorsitzenden gleich zu Beginn der Hauptverhandlung hingewiesen wurde. Die sachbearbeitende Staatsanwältin, welche auch Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung war, hat dem zugestimmt."

II.

Das Landgericht hat den Angeklagten auf der Grundlage, daß Gegenstand der Anklage somit (ausschließlich) Straftaten zum Nachteil der F. C. im Zeitraum März 1993 bis Mai 1995 seien, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, da nicht festgestellt werden könne, daß es während dieser Zeit zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gegenüber F. C. gekommen sei. Es hat allerdings die Möglichkeit offen gelassen, daß der Angeklagte sich im Jahre 1995 in der damaligen Wohnung in der L. mehrfach an F. vergangen hat. An der Aburteilung dieser Straftaten hat es sich jedoch gehindert gesehen, da nicht ausgeschlossen werden könne, daß sie erst nach Mai 1995 und somit außerhalb des angeklagten Zeitraumes begangen worden seien. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beschwerdeführerin beanstandet im Ergebnis zu Recht, daß das Landgericht die von der Anklage umfaßten Taten nicht erschöpfend abgeurteilt hat.

1. Gegenstand der zugelassenen Anklage vom 24. Februar 1997 sind 324 Mißbrauchstaten begangen in dem Zeitraum März 1994 bis Mai 1996. Auf diese Taten erstreckte sich gemäß § 264 StPO die Kognitionspflicht des Landgerichts. Die in der Hauptverhandlung vorgenommene "Korrektur" des Tatzeitraumes war rechtlich unzulässig und konnte daher nicht den durch die Anklage vorgegebenen Verfahrensgegenstand nachträglich ändern.

a) Zwar wird bei funktionellen Mängeln der Anklageschrift, etwa bei unzureichender Identifizierung der Tat(en), eine Behebung des Mangels durch eine entsprechende Klarstellung noch in der Hauptverhandlung für zulässig erachtet (vgl. BGH GA 1973, 111, 112; 1980, 108, 109; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. § 201 Rdn. 26 m.w.N.). So liegt der Fall hier jedoch nicht. Die Anklage vom 24. Februar 1997, in der die Grundzüge der Art und Weise der Tatbegehung, ein bestimmter Tatzeitraum und die Anzahl der Mißbrauchsfälle angegeben werden, erfüllt noch die Anforderungen, die an die Tatkonkretisierung in Fällen einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen gegenüber einem Kind zu stellen sind (vgl. BGHSt 44, 153, 154/155 m.w.N.). Zudem diente der Hinweis des Gerichts hier nicht der näheren Tatkonkretisierung, vielmehr sollte der in der schriftlichen Anklage bezeichnete Tatzeitraum durch einen anderen ersetzt werden.

b) Allerdings braucht eine Veränderung des Tatzeitraumes die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben (vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 8 und 19). Dies setzt aber voraus, daß die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert ist (BGH a.a.O.). Das ist hier nicht der Fall. Allein der Umstand, daß die insgesamt 324 angeklagten sexuellen Übergriffe - ohne weitere nähere Zuordnung - in verschiedenen Wohnungen, in denen das Tatopfer zu den Tatzeitpunkten jeweils lebte, stattgefunden haben sollen, genügt hierfür nicht.

c) Ersichtlich war das Landgericht der Auffassung, zu einer "Korrektur" des in der Anklage wiedergegebenen Tatzeitraumes anhand der "Begleitverfügung zur Anklageschrift" und des sonstigen Akteninhalts befugt zu sein. Dem kann nicht gefolgt werden.

aa) Zwar sind Prozeßhandlungen, also auch Anklagen, auslegungsfähig. Allerdings darf der Inhalt sich nicht bloß aus völlig außerhalb der Erklärung liegenden Umständen ergeben (vgl. Roxin Strafverfahrensrecht 25. Aufl. § 22 Rdn. 5). So ist es zwar zulässig, zur Verdeutlichung und ergänzenden Erläuterung des Anklagesatzes auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zurückzugreifen (st. Rspr., vgl. BGHSt 5, 225, 227; BGH GA 1973, 111; 1980, 108, 109). Der Rückgriff auf den sonstigen Akteninhalt ist jedoch nicht statthaft (vgl. Rieß in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 207 Rdn. 57 sowie zum Ganzen auch Puppe NStZ 1982, 230 ff.). Dies folgt schon aus der Funktion der Anklage im Strafverfahren. Ihr Inhalt bestimmt zusammen mit dem Eröffnungsbeschluß die Grundlage der Hauptverhandlung. Aus ihr müssen die Verfahrensbeteiligten, namentlich der Angeklagte zum Zwecke seiner Verteidigung, zweifelsfrei entnehmen können, innerhalb weicher tatsächlicher Grenzen sich die Hauptverhandlung und die Urteilsfindung gemäß §§ 155, 264 StPO zu bewegen haben. Davon hängt auch ab, welche tatsächlichen Vorgänge von der Rechtskraft einer Verurteilung oder eines Freispruchs erfaßt werden. Bereits diese Gesichtspunkte zeigen, daß eine "Auslegung" der Anklage anhand des sonstigen Akteninhalts, die notwendigerweise zu Unsicherheiten über den eigentlichen Verfahrensgegenstand führen würde, rechtlich nicht zulässig sein kann. Dies gilt erst recht - auch im Hinblick auf die Regelung in § 152 Abs. 1 StPO - für eine Korrektur des Anklagesatzes, wie sie hier das Landgericht vorgenommen hat. Das Landgericht war vielmehr verpflichtet, vor Erlaß des Eröffnungsbeschlusses, anhand des Akteninhalts zu prüfen, ob der Angeklagte innerhalb des in der Anklage bezeichneten Tatzeitraumes der ihm zur Last gelegten Straftaten hinreichend verdächtig ist (§ 203 StPO). Bei Vorliegen eines "offensichtlichen Berechnungsfehlers" hätte es die Anklage an die Staatsanwaltschaft zur "Nachbesserung" zurückgeben und - wenn eine solche verweigert würde - die Eröffnung des Hauptverfahrens (teilweise) ablehnen müssen.

bb) An dem aufgezeigten Ergebnis ändert auch nichts, daß - wie das Urteil mitteilt - die sachbearbeitende Staatsanwältin, die auch Sitzungsvertreterin in der Hauptverhandlung war, der Änderung des Tatzeitraumes zugestimmt hat. Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens kann die öffentliche Klage nicht mehr zurückgenommen werden (§ 156 StPO). Damit verliert die Staatsanwaltschaft die Dispositionsbefugnis über die Klage (BGHSt 29, 224, 229). Sie kann daher auch nicht mehr die angeklagte prozessuale Tat "auswechseln". Ist dem Angeklagten nach Eröffnung des gerichtlichen Verfahrens im Rahmen der in der Anklage bezeichneten Tat(en) strafbares Verhalten nicht nachzuweisen, so ist er freizusprechen. Erscheint der Angeklagte der Staatsanwaltschaft statt dessen anderer Straftaten (im Sinne des § 264 StPO) hinreichend verdächtig, so wird die Staatsanwaltschaft diese - gegebenenfalls im Wege der Nachtragsanklage (§ 266 StPO) - (neu) anzuklagen haben.

2. Der aufgezeigte Rechtsfehler wirkt sich auf den Bestand der angefochtenen Entscheidung wie folgt aus:

a) Soweit der Angeklagte von Mißbrauchstaten begangen in dem von der Anklage vom 24. Februar 1997 nicht umfaßten Tatzeitraum März 1993 bis Februar 1994 freigesprochen worden ist, mangelt es dem erstinstanzlichen Verfahren an den Prozeßvoraussetzungen einer Anklage und eines Eröffnungsbeschlusses. Dies führt insoweit zur Aufhebung des Urteils; zugleich ist das in diesem Umfang beim Landgericht geführte Verfahren einzustellen (BGHSt 27, 115, 117). Allerdings wird in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung vertreten, in einem solchen Fall, in dem über eine nichtangeklagte Tat befunden werde, sei für eine Einstellung neben der Urteilsaufhebung kein Raum. Ein erfolgreiches Rechtsmittel führe nämlich grundsätzlich dazu, daß die Entscheidung hergestellt werde, die bei richtiger Sachbehandlung schon der in der Vorinstanz tätig gewesene Richter hätte treffen müssen; eine darüber hinausgehende Einstellung des Verfahrens scheide aus, weil eine weitere Tat nicht Gegenstand des Verfahren geworden sei (BayObLG VRS 57, 39; 58, 432; KG VRS 64, 42; OLG Koblenz VRS 63, 372; OLG Stuttgart VRS 71, 294). Das ist zwar an sich zutreffend, dabei wird aber übersehen, daß auch das beim Landgericht (teilweise) ohne Anklage geführte Verfahren zu einem ordnungsgemäßen Abschluß gebracht werden muß. Anderenfalls könnte sonst keine dem Angeklagten günstige Entscheidung über die - erstinstanzlichen - Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen getroffen werden.

Der Grundsatz des "Vorranges des Freispruches vor der Verfahrenseinstellung" steht der Einstellung nicht entgegen. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß bei Vorliegen bestimmter Verfahrenshindernisse die an sich gebotene Einstellung des Verfahrens dann nicht in Betracht kommt, wenn die Hauptverhandlung bereits ergeben hat, daß der Angeklagte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen freizusprechen wäre. Dies hat der Bundesgerichthof im Anschluß an das Reichsgericht (vgl. RGSt 66, 51, 53; 72, 296, 300; anders aber noch RGSt 42, 399, 401) erstmals bei Fehlen des erforderlichen Strafantrages so entschieden (BGHSt 1, 231, 235; 7, 256, 261) und in der Folge bei Eingreifen eines Straffreiheitsgesetzes (BGHSt 13, 268, 272/273) und für den Fall der Verneinung des öffentlichen Interesses im Kartellbußgeldverfahren (BGHSt 20, 333, 335) so ausgesprochen. In jüngeren Entscheidungen ist die Gültigkeit dieses "Grundsatzes" auch für die Fälle des Eintritts von Verfolgungsverjährung (vgl. BGHSt 44, 209, 219; BGH NStZ-RR 1996, 299) bejaht worden. Aus den bisher entschiedenen Einzelfällen kann jedoch nicht ohne weiteres ein allgemeiner, für alle Prozeßvoraussetzungen geltender Grundsatz hergeleitet werden (zweifelnd schon BayObLGSt 1963, 44, 47). Im Fall der Amnestie liegt es auf der Hand, daß bei einer Einstellung trotz Spruchreife im Sinne eines Freispruchs sich letztlich der Sinn und Zweck des Straffreiheitsgesetzes ins Gegenteil verkehren, eine zugunsten des Angeklagten gedachte Anordnung sich im Ergebnis zu seinen Ungunsten auswirken würde (vgl. BGHSt 13, 273). Ähnlich verhält es sich auch in den übrigen bisher entschiedenen Fällen. Ihnen ist gemeinsam, daß der Angeklagte aufgrund ihn begünstigender gesetzlicher Regelungen in Bezug auf einzelne Straftatbestände von einer (weiteren) Strafverfolgung ausgenommen wird. Das gerichtliche Verfahren kann aber im übrigen - etwa wegen der tateinheitlichen Verwirklichung weiterer Delikte - gegebenenfalls fortgeführt werden.

Hier liegt es jedoch anders: Die Anklage stellt, wie die Bestimmungen der §§ 151, 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO zeigen, die Grundlage und unabdingbare Voraussetzung für das gerichtliche Verfahren insgesamt dar. Durch sie wird das Verfahren erst bei Gericht anhängig, ohne sie darf eine Sachentscheidung nicht, und zwar unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt, ergehen. Daß es hierbei nicht um die Frage "Einstellung oder Freispruch" geht, zeigt sich schon daran, daß - wie ausgeführt - hier nicht das gesamte mit einer Anklage eingeleitete Verfahren eingestellt wird, sondern nur das fehlerhaft ohne Anklage beim Landgericht durchgeführte Verfahren. Jedenfalls dann, wenn es - wie hier - an einer Anklage völlig fehlt, ist somit für einen Freispruch kein Raum; über eine Sache, die beim Tatgericht nicht anhängig geworden ist, kann und darf auch das Rechtsmittelgericht nicht in der Sache selbst entscheiden.

b) Das Urteil unterliegt auch der Aufhebung, soweit der Angeklagte von dem Vorwurf freigesprochen worden ist, sich vor Juni 1995 in der Wohnung L. an dem Kind F. sexuell vergangen zu haben. Das Landgericht war der Auffassung, den Angeklagten insoweit unter Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" freisprechen zu müssen, da nicht ausgeschlossen werden könne, daß die dort begangenen Taten erst nach Mai 1995 und damit außerhalb des von ihm angenommenen Anklagezeitraumes begangen worden seien. Die Anwendung des Zweifelssatzes mußte hier jedoch ausscheiden, da - wie bereits dargelegt - auch der Zeitraum nach Mai 1995 bis einschließlich Mai 1996 von der Anklage mitumfaßt ist.

3. Das Urteil hat Bestand, soweit der Angeklagte hinsichtlich der angeblich ab März 1994 bis Mai 1995 begangenen Straftaten, soweit sie sich nicht in der Wohnung L. ereignet haben sollen, freigesprochen worden ist. Insoweit hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler ergeben. Insbesondere genügt das Urteil - entgegen dem Revisionsvorbringen - diesbezüglich noch den Anforderungen, die an ein freisprechendes Erkenntnis zu stellen sind.

4. Hinsichtlich der möglicherweise im Zeitraum Juni 1995 bis Mai 1996 begangenen Straftaten hatte das Landgericht - aus seiner Sicht konsequent von einer Entscheidung abgesehen, da Straftaten, die in diesen Zeitraum fallen würden, nach seiner (irrigen) Meinung nicht "Gegenstand der Anklage [waren] und in diesem Verfahren auch nicht abgeurteilt werden konnten" (UA 4). Das Landgericht hat somit nur über die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten im Tatzeitraum März 1993 bis Mai 1995 eine freisprechende Entscheidung gefällt. Da aber - wie dargelegt - der dem Mai 1995 nachfolgende Zeitraum ebenfalls von der Anklage umfaßt wurde, ist auch hierüber eine Entscheidung zu treffen. Diesbezüglich ist das Verfahren beim Landgericht anhängig geblieben; insoweit besteht für das Revisionsgericht keine Entscheidungsbefugnis (vgl. BGHR StPO § 352 Prüfung 1; BGH, Urteil vom 27. Juli 2000 - 4 StR 189/00 m.w.N.; Meyer-Goßner JR 1985, 452, 453 f.). Es ist aber geboten, dieses - noch bei der bisherigen Jugendschutzkammer anhängig gebliebene Verfahren zu dem zurückverwiesenen Verfahren entsprechend § 4 StPO, hinzuzuverbinden.

5. Durch die Teilaufhebung des Urteils wird die Entscheidung über die Entschädigungspflicht für die erlittene Untersuchungshaft gegenstandslos (vgl. D. Meyer, Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung 4. Aufl. § 8 Rdn. 29).

Externe Fundstellen: BGHSt 46, 130; NJW 2000, 3293; StV 2002, 642

Bearbeiter: Karsten Gaede