HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1155
Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 333/24, Beschluss v. 03.06.2025, HRRS 2025 Nr. 1155
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 2. Februar 2024
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Bestimmens eines Minderjährigen zur Förderung des Handeltreibens mit Cannabis in Tateinheit mit Handeltreiben mit Cannabis und des Handeltreibens mit Cannabis schuldig ist,
b) im gesamten Strafausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Bestimmen Minderjähriger zum Absatz von Betäubungsmitteln“ und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 22. Februar 2022 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und davon einen Monat wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt. Ferner hat es Einziehungsentscheidungen getroffen. Die dagegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Der Schuldspruch bedarf in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Änderung, weil am 1. April 2024 das Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis vom 27. März 2024 (KCanG, BGBl. I Nr. 109) in Kraft getreten ist und die neue Rechtslage bei dem nach § 2 Abs. 3 StGB in Verbindung mit § 354a StPO gebotenen konkreten Gesamtvergleich im Einzelfall für den Angeklagten günstiger ist als die Rechtslage nach dem Tatzeitrecht. Im Fall II 2b ist der Strafrahmen des § 34 Abs. 3 KCanG niedriger als der vom Landgericht zur Anwendung gebrachte Strafrahmen des § 29a Abs. 1 BtMG. Im Fall II 2a kann der Senat sicher davon ausgehen, dass das Landgericht, das den Strafrahmen des § 30a Abs. 3 BtMG zur Anwendung gebracht hat, einen minder schweren Fall des § 34 Abs. 4 KCanG angenommen hätte.
Der Angeklagte ist deshalb in Fall II 2a der Urteilsgründe nicht des Bestimmens eines Minderjährigen zur Förderung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 1 BtMG in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, sondern des Bestimmens eines Minderjährigen zur Förderung des Handeltreibens mit Cannabis gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 2 KCanG in Tateinheit mit Handeltreiben mit Cannabis gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG schuldig.
In Fall II 2b der Urteilsgründe tritt an die Stelle der Strafbarkeit wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG die Strafbarkeit wegen Handeltreibens mit Cannabis gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG. Während die nicht geringe Menge im Betäubungsmittelrecht ein Qualifikationsmerkmal darstellt, ist sie bei Cannabis nach § 34 Abs. 3 Satz 1 und 2 Nr. 4 KCanG nur noch ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall und als solches nicht in die Urteilsformel aufzunehmen (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 21. Mai 2024 - 5 StR 84/24, Rn. 2).
§ 265 Abs. 1 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, da sich der Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.
2. Die Schuldspruchänderung zieht die Aufhebung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe nach sich. Die zugehörigen Feststellungen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO); ergänzende Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen, sind möglich.
3. Die Gesamtstrafe ist auch deshalb aufzuheben, weil die Urteilsgründe nicht alle Tatsachen angeben, die für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB von Bedeutung sind.
a) Das angefochtene Urteil bezieht sich auf Taten des Angeklagten vom 20. und 21. April 2021 (Fall II 2a der Urteilsgründe) und vom 20. Juli 2021 (Fall II 2b der Urteilsgründe). Da der Angeklagte diese Taten vor dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 22. Februar 2022 begangen hat und die dort verhängte Bewährungsstrafe bislang nicht erlassen worden ist, waren die Einzelstrafen aus diesem Urteil - wie von der Strafkammer zutreffend erkannt - grundsätzlich in die verhängte Gesamtstrafe einzubeziehen. Das Landgericht hat jedoch übersehen, dass der Angeklagte die dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 22. Februar 2022 zugrunde liegenden Taten vom 13. Januar 2021, 15. Februar 2021 und 3. März 2021 zum Teil vor dem Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 15. Februar 2021 und dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 2. Februar 2021 begangen hat, das allerdings ohne Rücksicht auf den Tatzeitpunkt dort keine Zäsurwirkung entfaltet (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2024 - 2 StR 534/24, NStZ-RR 2025, 116 f.). Die Verurteilungen vom 15. Februar 2021 und vom 22. Februar 2022 könnten daher teilweise untereinander gesamtstrafenfähig sein. Ist eine neu abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen begangen, die untereinander nach der Regelung des § 55 Abs. 1 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus der Strafe für die neu abzuurteilende Tat und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden (BGH, Beschluss vom 27. September 2022 - 4 StR 321/22, NStZ-RR 2022, 371 mwN). Im Übrigen ermächtigt und verpflichtet § 55 StGB den Tatrichter, in rechtskräftige frühere Gesamtstrafen einzugreifen; die Rechtskraft einer Gesamtstrafe stellt auch dann kein Hindernis dar, wenn nicht alle in ihr zusammengefassten Einzelstrafen in eine neue Gesamtstrafe einzubeziehen sind, sie vielmehr zu verschiedenen Gesamtstrafen zusammengefügt werden oder als Einzelstrafe bestehen bleiben sollen (BGH, Beschluss vom 29. September 2009 - 1 StR 451/09, NStZ-RR 2010, 9 mwN).
b) Ob die Bildung der Gesamtstrafe danach dem Gesetz entsprach, ist anhand der getroffenen Feststellungen nicht zu beantworten. Denn die Strafkammer macht keine näheren Angaben zur Erledigung der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Aachen vom 15. Februar 2021. Sie gibt lediglich an, dass die Strafe zusammen mit derjenigen aus dem Urteil vom 2. Februar 2021 in einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gemäß § 460 StPO vom 26. Mai 2021 einbezogen wurde; eine dies hindernde Zäsurwirkung des Strafbefehls des Amtsgerichts Aachen vom 27. November 2019 scheint dabei aufgrund von dessen zwischenzeitlicher Erledigung verneint worden zu sein. Entscheidend ist der Vollstreckungsstand der Strafe zum Zeitpunkt der Gesamtstrafenlage, die der von der Strafkammer vorgenommenen Gesamtstrafenbildung entgegenstehen könnte (vgl. BGH, Urteil vom 25. Februar 2021 - 3 StR 204/20, Rn. 12 mwN), mithin der Vollstreckungsstand zum Zeitpunkt des Urteils des Amtsgerichts Aachen vom 22. Februar 2022. Ob die mögliche Zäsurwirkung des Strafbefehls vom 15. Februar 2021 nicht nur die am 13. Januar 2021, sondern auch die am 15. Februar 2021 begangene Tat aus diesem Urteil erfasste, hängt zudem davon ab, ob der Strafbefehl nach dieser Tat erlassen worden ist. Insofern hätte es näherer Angaben zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung bedurft (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2019 - 4 StR 488/19, Rn. 5 mwN). Im Fall der Unaufklärbarkeit der für § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB bedeutsamen zeitlichen Verhältnisse ist nach dem Zweifelssatz zu entscheiden, wobei es darauf ankommt, was für den Täter in der konkreten Situation günstiger ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2019 - 4 StR 488/19, Rn. 7 mwN; LR-StPO/Sander, 27. Aufl., § 261 Rn. 203).
4. Von der Aufhebung des Strafausspruchs bleibt die Entscheidung über die Kompensation wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung unberührt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2023 - 3 StR 422/23, Rn. 19 mwN). Die Einziehungsentscheidung begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.
5. Soweit eine Gesamtstrafe mit den Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 22. Februar 2022 zu bilden ist, wird der neue Tatrichter Gelegenheit haben, gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB auch über die Anrechnung erbrachter Bewährungsleistungen zu befinden. Das Landgericht hat zu dieser zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe keine Feststellungen zu Bewährungsauflagen und ihrer Erfüllung getroffen, sondern lediglich mitgeteilt, dass die Strafvollstreckung „noch nicht vollständig erledigt“ sei.
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1155
Bearbeiter: Felix Fischer/Karsten Gaede