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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1218

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 36/22, Beschluss v. 03.11.2022, HRRS 2022 Nr. 1218


BGH AK 36-39/22 - Beschluss vom 3. November 2022

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr; Verdunkelungsgefahr; besondere Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen); mitgliedschaftliche Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (Konkurrenzen).

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129 StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

Die Beschuldigten sind am 6. April 2022 aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 4. sowie 5. April 2022 festgenommen worden und befinden sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand der Haftbefehle ist jeweils der Vorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und der Begehung weiterer Delikte.

Im Einzelnen wird vorgeworfen - dem Beschuldigten R., sich seit Ende März 2020 in fünf Fällen mitgliedschaftlich als Rädelsführer an einer Vereinigung beteiligt zu haben, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten - insbesondere Körperverletzungsdelikte gemäß §§ 223 ff. StGB - gerichtet gewesen sei, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht seien, davon in zwei Fällen tateinheitlich dazu (Taten vom 10. Februar und 31. Oktober 2021) vorsätzlich eine andere Person mit einem Beteiligten gemeinschaftlich körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben, in einem Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 20. März 2021) durch dieselbe Handlung vorsätzlich eine andere Person mit einem Beteiligten gemeinschaftlich körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt und sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen worden seien, als Täter oder Teilnehmer beteiligt zu haben sowie in einem weiteren Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 21. November 2020) sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen worden seien, als Täter oder Teilnehmer beteiligt zu haben (§ 224 Abs. 1 Nr. 4, § 223 Abs. 1, § 129 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, § 125 Abs. 1 Nr. 1, §§ 52, 53 StGB); - dem Beschuldigten A., sich seit Ende März 2020 in vier Fällen als Mitglied an einer Vereinigung beteiligt zu haben, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten - insbesondere Körperverletzungsdelikte gemäß §§ 223 ff. StGB - gerichtet gewesen sei, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht seien, dabei in einem Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 7. November 2020) durch dieselbe Handlung einen Amtsträger, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen gewesen sei, bei einer Diensthandlung tätlich angegriffen und dabei versucht zu haben, vorsätzlich eine Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich zu misshandeln oder an der Gesundheit zu schädigen, sowie vorsätzlich eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben, in einem weiteren Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 14./15. August 2021) vorsätzlich eine andere Person mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben und in einem weiteren Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 31. Oktober 2021) vorsätzlich eine andere Person mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5, Abs. 2, § 223 Abs. 1, § 129 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, § 114 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1, §§ 52, 53 StGB, §§ 1, 105 JGG); - dem Beschuldigten An., sich seit März 2020 in vier Fällen als Mitglied an einer Vereinigung beteiligt zu haben, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten - insbesondere Körperverletzungsdelikte gemäß §§ 223 ff. StGB - gerichtet gewesen sei, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht seien, davon in zwei Fällen tateinheitlich dazu (Taten vom 10. Februar und 31. Oktober 2021) vorsätzlich eine andere Person mit einem Beteiligten gemeinschaftlich körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben und in einem weiteren Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 14. Januar 2022) durch dieselbe Handlung vorsätzlich eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt, einen Amtsträger, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen gewesen sei, bei einer Diensthandlung tätlich angegriffen und einem Amtsträger, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen gewesen sei, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt Widerstand geleistet zu haben (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 230 Abs. 1 Variante 2, § 129 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, § 113 Abs. 1, § 114 Abs. 1 und 2, §§ 52, 53 StGB, §§ 1, 105 JGG); - dem Beschuldigten K., sich von März bis November 2020 und seit September 2021 in vier Fällen, davon in drei Fällen als Rädelsführer, als Mitglied an einer Vereinigung beteiligt zu haben, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten - insbesondere Körperverletzungsdelikte gemäß §§ 223 ff. StGB - gerichtet gewesen sei, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht seien, davon in einem Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 4. Februar 2022) vorsätzlich eine andere Person mit einem Beteiligten gemeinschaftlich körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt und einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt zu haben sowie in einem weiteren Fall tateinheitlich dazu (Tat vom 16. März 2022) vorsätzlich eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs und mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt zu haben (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4, § 240 Abs. 1, § 129 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, §§ 52, 53 StGB, §§ 1, 3, 105 JGG).

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat nach mündlichen Haftprüfungen in Bezug auf den Beschuldigten R. am 12. September 2022 und in Bezug auf den Beschuldigten A. am 29. April 2022 beschlossen, dass die jeweiligen Haftbefehle aufrechterhalten bleiben.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen bei allen vier Beschuldigten vor.

1. Die Beschuldigten sind der ihnen zur Last gelegten Taten - mit Ausnahme einer den Beschuldigten An. betreffenden Tat vom 14. Januar 2022 - dringend verdächtig.

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Die rechtsextrem ausgerichtete Kampfsportgruppe “ " wurde im Jahr 2019 in E. unter anderem von den Beschuldigten R. und An. gegründet. Ihr gehörten Mitglieder im unteren zweistelligen Bereich an, so auch alle vier Beschuldigte, wobei sich regelmäßig etwa zehn aktiv einbrachten. Trainingsort war das Gebäude der Landesgeschäftsstelle der in E. Die Organisation war auf eine längere Zugehörigkeit der einzelnen Mitglieder angelegt und stellte bestimmte Anforderungen an diese sowohl in ideologischer als auch in körperlicher Hinsicht, etwa ein Mindestleibesgewicht von 80 Kilogramm. Interessenten hatten sich vor einer vollen Zugehörigkeit zunächst während einer Anwärterzeit, die ein halbes Jahr bis ein Jahr dauerte, zu bewähren. Es wurde ein monatlicher Mitgliedsbeitrag von zuletzt 20 € erhoben. Zum Ausdruck der Verbundenheit trugen die Mitglieder einheitliche Kleidung mit der Organisationsbezeichnung, die beispielsweise als Anerkennung für einen Angriff auf einen Polizeibeamten bei einer Demonstration oder zum Abschluss der Erprobungszeit übergeben sowie bei unzureichender Beteiligung entzogen werden konnte. Zweck des Zusammenschlusses waren nicht allein sportliche Ertüchtigungen, sondern auch - spätestens ab März 2020 - gewaltsame Angriffe auf Polizeibeamte, politische Gegner und sonstige nach der eigenen nationalsozialistischen Anschauung zu bekämpfende Personen. Damit war verbunden, die Angegangenen körperlich zu misshandeln und zu verletzen. Die Mitglieder sollten grundsätzlich ein Messer mit sich tragen. Der Einsatz von Gewalt sollte mit dazu beitragen, in E. einen „Nazikiez“ zu schaffen.

Alle vier Beschuldigte gehörten dem Zusammenschluss “ " an, kannten dessen Zwecke und Ausrichtung, bekannten sich zu ihrer Zugehörigkeit beispielsweise durch Kleidung mit entsprechender Bezeichnung und nahmen am Training sowie weiteren gemeinsamen Aktionen teil.

Der Beschuldigte R. hatte eine bestimmende Rolle inne, kümmerte sich um das regelmäßige Training, die Teilnahme an anderen Veranstaltungen, die interne Disziplin und die Beschaffung von Kleidung mit Organisationsnamen, entschied, wer solche erhielt oder abzugeben hatte oder sich ein Tattoo mit der für die Gruppe stehende Zahl “ " stechen lassen durfte, und führte die Kasse.

Der Beschuldigte K. begab sich bereits im Sommer 2020 mit anderen Mitgliedern in Bekleidung mit der Aufschrift “ " zu Demonstrationen. Allerdings beteiligte er sich danach bis in den August 2021 hinein kaum, nahm am Training nicht teil, wurde daher nicht als „Vollmitglied“ angesehen und musste Kleidung mit Aufdruck des Gruppennamens abgeben. Sodann brachte er sich vermehrt ein und übernahm zunehmend in Abstimmung mit dem Beschuldigten R. Führungsaufgaben, insbesondere im Nachwuchsbereich nach der vermeintlichen Auflösung der Gruppierung im Herbst 2021.

Um staatlichen Verfolgungsmaßnahmen vorzubeugen, wurde über eine digitale Plattform am 30. November 2021 „die Einstellung des Projektes“ verkündet. Gleichwohl bestand der Zusammenschluss nach eigenem Selbstverständnis fort; es fanden weiter gemeinsame Aktivitäten statt. Die Tätigkeiten wurden nunmehr unter dem Schirm der Jugendorganisation der , den “ ", ausgeübt.

bb) Entsprechend der Ausrichtung, zur Durchsetzung der eigenen politischen Überzeugung die gewaltsame Auseinandersetzung mit anderen Personen zu suchen und als Ordnungsmacht aufzutreten, kam es zu verschiedenen Aktionen und zumindest folgenden Taten:

(1) Der Beschuldigte A. nahm am 7. November 2020 mit drei anderen Angehörigen von “ " an einer Versammlung in L. teil, die sich gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie richtete. Er stand zu dem nicht vor Ort anwesenden Beschuldigten R. in Telefonkontakt. Gegen 16:16 Uhr warf er aus der Menge der Demonstranten eine leere Glasflasche in Richtung der eingesetzten Polizeibeamten und beabsichtigte dabei die Verletzung anderer Menschen. Die Flasche traf den Kopf eines Mannes, der eine leichte Kopfverletzung erlitt, und einen Bereitschaftspolizisten, der davon wegen seiner Schutzausrüstung unbeeinträchtigt blieb.

(2) Die Beschuldigten R. und A. trafen am Mittag des 21. November 2020 in L. als Teil einer Menge von rund fünfzig gewaltbereiten Personen aus der rechtsextremen Szene im Zusammenhang mit Demonstrationen auf eine größere Gruppe aus dem linken Spektrum. Nachdem diese jene angegriffen hatte, kam es zu einer beidseitig gewaltsam geführten Auseinandersetzung, an der sich der Beschuldigte R. beteiligte. Er trug einen mit “ " beschrifteten Pullover.

(3) Am 10. Februar 2021 begaben sich der Beschuldigte R. und der von ihm kurzfristig informierte Beschuldigte An. gegen 21 Uhr zu einer Halle in E., da die Mutter des Beschuldigten R. diesem von dort randalierenden Personen berichtet hatte. Die beiden Beschuldigten trafen auf wenigstens drei Männer, denen sie ohne Vorwarnung Faustschläge gegen den Kopf versetzten. Der Beschuldigte R. schlug zumindest einen der Geschädigten so heftig, dass dieser bewusstlos zu Boden ging und Brüche des Jochbeins, der Kieferhöhle und des Augenhöhlenbodens erlitt. Zwei andere Geschädigte trugen Prellungen davon.

(4) Der Beschuldigte R. nahm am Nachmittag des 20. März 2021 mit vier weiteren Mitgliedern von “ " in Ka. an einer Demonstration gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie teil. Als der Beschuldigte mit seinen Begleitern auf einige Personen mit roten Fahnen traf und sie dem linken Spektrum zuordnete, griff er eine von ihnen an. Diese konnte sich jedoch der Konfrontation entziehen. Sodann vermummte sich die Gruppe um den Beschuldigten; er stellte mit einem seiner Begleiter einen anderen als „links“ eingeordneten Mann und schlug ihm mit der Faust gegen Kehlkopf, Kiefer und Kinn. Der Angegriffene erlitt starke Schmerzen und leichte Verletzungen im Mundinnenbereich sowie am Kinn.

(5) Der Beschuldigte A. besuchte in der Nacht vom 14. auf den 15. August 2021 mit weiteren Mitbeschuldigten eine Kirmesveranstaltung in W. Dort entdeckte er jemanden, den er dem linken politischen Spektrum zurechnete und mit einem Überfall auf eine als Treffpunkt der Gruppierung dienende, vom Beschuldigten R. betriebene Kneipe im Januar 2021 in Verbindung brachte. Er fragte nach am Überfall Beteiligten und sagte, er werde den Angesprochenen umbringen. Als dieser versicherte, mit dem Angriff nichts zu tun zu haben, versetzte der Beschuldigte A. ihm mit großer Wucht einen Kopfstoß ins Gesicht. Er ging davon aus, dem blutend Flüchtenden die Nase gebrochen zu haben. Am selben Abend kam es zu einer weiteren Schlägerei unter Beteiligung von Gruppenmitgliedern.

(6) Bei einer Feier an einem Club in E. am 31. Oktober 2021 attackierte der Beschuldigte An. einen anderen mit Faustschlägen und Tritten, um ihn für ein vermeintliches Verhältnis mit seiner Freundin zu bestrafen. Er hatte das Vorgehen zuvor mit den Beschuldigten R. und A. abgestimmt, die dementsprechend durch körperliche Gewalt ein Eingreifen von Umherstehenden unterbanden. Der Geschädigte ging bewusstlos zu Boden und erlitt mindestens eine Platzwunde. Nach der Tat forderte der Beschuldigte An. den vor Ort gebliebenen Beschuldigten A. telefonisch dazu auf, dafür zu sorgen, dass niemand eine Aussage gegenüber der Polizei mache.

(7) Am 14. Januar 2022 fand in dem Lokal in E., das der Beschuldigte R. führte, eine Polizeikontrolle anlässlich der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie statt. Der Beschuldigte An. kam ebenso wie der Beschuldigte A. hinzu, um den Beschuldigten R. zu unterstützen, wurde von Beamten aber heraus geleitet. In einem anschließenden Telefonat rühmte er sich, einem Beamten ins Gesicht geschlagen zu haben.

(8) Am Abend des 4. Februar 2022 erschien der Beschuldigte K. mit weiteren Mitgliedern der „Jugend“ von “ " bei einer Feier an einem E. er Garagenhof. Er hatte erfahren, dass sich dort privat ein 19-jähriger Polizeibeamter befand, den er gewaltsam angehen wollte. Als dieser auf Aufforderung nicht freiwillig herauskam, stieß ein Begleiter des Beschuldigten ihn aus der Garage nach draußen. Vor Ort hatten sich weitere Mitglieder positioniert und die Zufahrt blockiert. Der Beschuldigte K. bezeichnete den Attackierten als „Bullenschwein“ und erklärte, sie seien Mitglieder von “ ", hinter ihnen stünden mächtige Leute, er sei Anführer der „Jugendwehrgruppe“. Als der Geschädigte lachte, riss der Beschuldigte ihm eine Bierflasche aus der Hand, schlug ihm fünfmal kräftig in das Gesicht und verursachte einen mehrfachen Splitterbruch des Kieferknochens sowie Brüche an einer Augenhöhle und einem Jochbein. Als der Geschädigte floh, holte der Beschuldigte ein Messer hervor und sagte, er werde ihn finden und dafür sorgen, dass er wegziehe. Dem Verletzten gelang es schließlich, mittels einer Leiter über einen Zaun zu steigen und die Örtlichkeit zu verlassen.

(9) Am Abend des 16. März 2022 griff der Beschuldigte K. in Begleitung dreier weiterer Anhänger der „Jugend“ von “ " in E. nach gemeinsamer Absprache einen Drogenkonsumenten an, um ihn für den Konsum und seine Bezeichnung einer anderen als „Nazihure“ abzustrafen. Diese hatte den Angegangenen an eine abgelegene Stelle gelockt. Der Beschuldigte K. versetzte ihm einen Stoß und gab Pfefferspray ab. Ein Mittäter schlug dem Geschädigten mehrfach mit der durch Quarzhandschuhe verstärkten Faust ins Gesicht und brachte ihn so zu Boden. Sodann schlug der - nunmehr ebenfalls Quarzhandschuhe tragende - Beschuldigte K. ihm gegen den Kiefer, der Mittäter trat mindestens einmal gegen den Kopf. Der Geschädigte hatte starke Schmerzen und blutete; zudem brach ein Stück eines Zahnes ab.

b) Der dringende Tatverdacht beruht wesentlich auf Erkenntnissen aus Telekommunikations- und Pkw-Innenraumüberwachungen, auf gesicherten Chatnachrichten und - namentlich zu einzelnen Körperverletzungen - auf den Angaben von Zeugen. Näheres zur Entstehung der Gruppierung und ihrem Aufbau ist beispielsweise einem Telefonat vom 2. November 2021 zu entnehmen, in dem der Beschuldigte R. darüber berichtete. Dass sie nach der offiziellen Auflösung fortbestand, ergibt sich etwa aus den bekundeten Äußerungen des Beschuldigten K. bei der Tat am 4. Februar 2022. Wegen der Einzelheiten wird auf die Ausführungen in den Haftbefehlen und in der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 4. Oktober 2022 Bezug genommen.

Soweit dem Beschuldigten An. in dem ihn betreffenden Haftbefehl zur Last gelegt wird, am 14. Januar 2022 einen Polizeibeamten ins Gesicht geschlagen zu haben (s. oben unter a) bb) [7]), haben die weiteren Ermittlungen den sich aus Angaben des Beschuldigten in einem Telefonat ergebenden Verdacht bislang nicht erhärtet. In der Gaststätte eingesetzte Polizeibeamte haben angegeben, es sei zu keiner körperlichen Auseinandersetzung und keinem Schlag gekommen. Ein dringender Tatverdacht ist insofern aktuell nicht gegeben.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich alle Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und weiterer einzelner Delikte strafbar gemacht haben.

aa) Die Voraussetzungen einer kriminellen Vereinigung im Sinne von § 129 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB sind nach gegenwärtigem Ermittlungsstand erfüllt. Danach sind die für eine Vereinigung erforderlichen organisatorischen, personellen, zeitlichen und interessenbezogenen Elemente gegeben (vgl. näher zu den Voraussetzungen BGH, Urteil vom 2. Juni 2021 - 3 StR 21/21, BGHSt 66, 137 Rn. 19 ff.). Da die angestrebten politischen Ziele gerade durch Körperverletzungsdelikte erreicht werden sollten, war die Vereinigung nach Zweck oder Tätigkeit zudem auf die Begehung von Straftaten gerichtet, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Die Strafandrohung für Körperverletzungen beträgt - ungeachtet hinzukommender Qualifikationen - bis zu fünf Jahren Haft (§ 223 Abs. 1 StGB).

Bei jedem einzelnen Beschuldigten besteht der dringende Verdacht, sich an der Vereinigung als Mitglied beteiligt zu haben. Nach dem dargelegten Sachverhalt ergeben sich jeweils sowohl eine einvernehmliche Eingliederung der Beschuldigten in die Organisation (die Mitgliedschaft) als auch eine aktive Tätigkeit zur Förderung ihrer Ziele (die Beteiligungshandlungen).

Nach der maßgeblichen Verdachtslage handelte der Beschuldigte R. als Rädelsführer. Inwieweit dies auch für den Beschuldigten K. gilt, bedarf derzeit keiner Vertiefung. Die Rädelsführerschaft bei Tätern der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung stellt gemäß § 129 Abs. 5 Satz 2 StGB nach der Neufassung durch das 54. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2440) nicht mehr wie bei § 129 Abs. 4 Satz 1 StGB aF ein zwingend anzuwendendes Beispiel eines besonders schweren Falls, sondern lediglich eine Strafzumessungsregel in Form eines Regelbeispiels dar (s. BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - 3 StR 10/20, juris Rn. 82 mwN).

Entgegen einem Verteidigungsvorbringen fehlen insgesamt Anhaltspunkte dafür, dass eine Strafbarkeit nach § 129 Abs. 3 StGB ausgeschlossen ist. Insbesondere sprechen die gegenwärtigen Ermittlungsergebnisse nicht dafür, dass die Begehung von Körperverletzungsdelikten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung war (§ 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB).

bb) Darüber hinaus besteht mit Blick auf die oben konkret dargelegten Vorfälle der dringende Verdacht, dass die einzelnen Beschuldigten im Zusammenhang mit ihrer mitgliedschaftlichen Beteiligung zumindest noch folgende weiteren Tatbestände verwirklicht haben:

(1) der Beschuldigte R. eine gefährliche Körperverletzung in drei Fällen in Bezug auf die Taten vom 10. Februar, 20. März und 31. Oktober 2021 (oben unter a) bb) [3], [4] und [6]), dabei in einem Fall (unter [4]) in Tateinheit mit Landfriedensbruch, sowie in Bezug auf die Tat vom 21. November 2020 (unter [2]) einen Landfriedensbruch (§ 125 Abs. 1 Nr. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4); (2) der Beschuldigte A. eine gefährliche Körperverletzung in drei Fällen in Bezug auf die Taten vom 7. November 2020, 14./15. August und 31. Oktober 2021 (unter [1], [5] und [6]), davon in einem Fall (unter [1]) in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - 4 StR 95/20, BGHSt 65, 231) und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB); (3) der Beschuldigte An. eine gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen in Bezug auf die Taten vom 10. Februar und 31. Oktober 2021 (unter [3] und [6]; § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, §§ 1, 105 JGG); (4) der Beschuldigte K. eine gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen in Bezug auf die Taten vom 4. Februar und 16. März 2022 (unter [8] und [9]; § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB, §§ 1, 105 JGG).

cc) Die zuvor genannten Delikte stehen jeweils in Tateinheit zu der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung; denn die Beschuldigten haben nach dem derzeit zugrunde zu legenden Sachverhalt die einzelnen Straftaten jeweils als Mitglied einer kriminellen Vereinigung in Verfolgung deren Ziele begangen (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juli 2015 - 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308 Rn. 24 mwN). Weil sie sich über die einzelnen Straftaten hinaus als Mitglieder in die kriminelle Vereinigung, etwa durch Teilnahme am gemeinsamen Training, einbrachten, liegt zudem eine weitere mitgliedschaftliche Beteiligung vor. Ob insoweit beim Beschuldigten K. angesichts einer allenfalls geringen Aktivität über rund ein Jahr von einer Zäsur der mitgliedschaftlichen Beteiligung und daher von zwei Fällen der keinen anderen Straftatbestand erfüllenden Mitgliedschaft auszugehen ist (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 30. März 2001 - StB 4 und 5/01, BGHSt 46, 349, 355 ff.; vom 14. Juli 2016 - StB 23/16, BGHR StGB § 129a Abs. 1 Mitgliedschaft 3 Rn. 11 f.) und ob die Beschuldigten sich wegen weiterer Delikte strafbar gemacht haben, bedarf für die Frage der Haftfortdauer derzeit keiner Entscheidung.

2. Die Ermittlungszuständigkeit des Generalbundesanwalts und die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zum Erlass der Haftbefehle folgen aus § 142a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 74a Abs. 1 Nr. 4 GVG, § 169 Abs. 1 StPO. Eine besondere Bedeutung des Falles im Sinne von § 74a Abs. 2 GVG hat der Generalbundesanwalt zu Recht angenommen (vgl. zum Maßstab BGH, Beschlüsse vom 22. September 2016 - AK 47/16, juris Rn. 23; vom 10. November 2016 - StB 33/16, juris Rn. 25; vom 13. Januar 2009 - AK 20/08, BGHSt 53, 128 Rn. 33 ff.). Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung fällt unter anderem ins Gewicht, dass die Vereinigung nationalsozialistisch ausgerichtet war, unter Missachtung der staatlichen Gewalt ein Stadtgebiet unter ihren Einfluss bringen wollte, sich überregional mit rechtsradikalen Kräften vernetzte und Straftaten in verschiedenen Bundesländern beging.

3. Es bestehen bei sämtlichen vier Beschuldigten die Haftgründe der Flucht- und der Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 und 3 StPO.

a) Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich die Beschuldigten, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass sie sich ihm zur Verfügung halten werden. Da ihnen jeweils neben der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung mehrere Fälle gefährlicher Körperverletzung zur Last liegen, haben sie erhebliche Freiheits- oder Jugendstrafen zu befürchten, auch wenn sie noch jung und teilweise unbestraft sind. Wegen ihrer Vernetzung im rechtsextremistischen Milieu liegt nahe, dass sie für den Fall der Flucht auf Unterstützung aus diesem Bereich bauen.

b) Im Übrigen sind für den Fall, dass die Beschuldigten nicht in Haft gehalten werden, mit großer Wahrscheinlichkeit Verdunkelungshandlungen zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass sie unmittelbar oder mittelbar auf die namentlich bekannten Zeugen in unlauterer Weise einwirken werden, um diese an weiteren Aussagen, auch im Rahmen einer etwaigen Hauptverhandlung, zu hindern. Diese Gefahr wird etwa dadurch belegt, dass sich die Beschuldigten bereits in der Vergangenheit entsprechend um die unstatthafte Einwirkung auf die Beweislage bemüht haben.

Nach dem bisherigen Beweisergebnis wandte sich beispielsweise der Beschuldigte R. an zwei der am 10. Februar 2021 verletzten Männer und machte Vorgaben für den Inhalt etwaiger Zeugenaussagen. Einen Tag nach der Tat vom 31. Oktober 2021 beantwortete der Beschuldigte A. die Aufforderung des Beschuldigten An., den Geschädigten von einer Aussage abzuhalten, ohne Weiteres zustimmend. Der Beschuldigte K. forderte nach der Tat vom 4. Februar 2022 Zeugen auf, das Geschehen nicht zu bekunden und stattdessen anzugeben, nichts gesehen zu haben. Zudem erörterte er mit seiner Lebensgefährtin eine Idee des Beschuldigten R., wie er bei einem etwaigen Gerichtsverfahren durch bestimmte Falschaussagen in Schutz genommen werden könne.

c) Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch mildere Maßnahmen als deren Vollzug (§ 116 Abs. 1 und 2 StPO) erreicht werden. Insbesondere sind mildere Maßnahmen nicht geeignet, um der Verdunkelungsgefahr hinreichend zu begegnen. Dies gilt auch für die von einem Beschuldigten vorgebrachte Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung.

Wegen der weiteren Details wird auf die Haftbefehle und die Haftfortdauerbeschlüsse verwiesen.

4. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer. Die Ermittlungen betreffen, soweit es um die Haft geht, vier Beschuldigte und über eine mehrjährige mitgliedschaftliche Beteiligung hinaus neun verschiedene Tatkomplexe. Die Sachakten belaufen sich aktuell auf 78 Ordner. Bei der Durchsuchung von 25 Objekten am Tag der Festnahmen sind hunderte Asservate und eine Vielzahl von Datenträgern sichergestellt worden. Deren mit Nachdruck betriebene Auswertung hat, zumal wegen zu überwindender Zugriffssicherungen, noch nicht abgeschlossen werden können. Nach dem Zusammenhang sind aus den zu prüfenden Inhalten Erkenntnisse zu erwarten, die für die Tatvorwürfe aus den Haftbefehlen und die damit verbundene Bewertung des Zusammenschlusses als kriminelle Vereinigung bedeutsam sind. Eine willkürliche, von den Durchsuchungsbeschlüssen nicht gedeckte Nachsuche ist - anders als von einem Verteidiger angenommen - nicht ersichtlich. Ferner dauern Vernehmungen von Zeugen an.

5. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Beschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Beschuldigten im Tatzeitraum teils noch Heranwachsende waren, nicht zu der Bedeutung der Sache und den zu erwartenden Strafen außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1218

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede