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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 720

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 11/22, Beschluss v. 30.03.2022, HRRS 2022 Nr. 720


BGH 2 StR 11/22 - Beschluss vom 30. März 2022 (LG Aachen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (hinreichend konkrete Erfolgsaussicht; keine Unverhältnismäßigkeit).

§ 64 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 14. Oktober 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit eine Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung sowie wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, versuchter Körperverletzung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Überprüfung des Urteils hat im Schuld- und Strafausspruch aus den in der Zuschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Demgegenüber hält das Erkenntnis der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand, soweit eine Entscheidung über eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist.

a) Die Prüfung, ob diese Maßregel anzuordnen ist, drängte sich angesichts der Urteilsfeststellung auf. Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Zuschrift zutreffend ausgeführt:

„1. Das Landgericht führt aus, dass der Angeklagte „die Taten u.a. aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit begangen“ hat (UA S. 32). Damit bejaht es sowohl einen Hang des Angeklagten, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, als auch den symptomatischen Zusammenhang zwischen Hang und Tatbegehung.

2. Die Strafkammer erklärt ferner, dass sie „bei Vorliegen der rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen ihre Zustimmung gemäß § 35 BtMG erteilen“ wird (UA S. 32). Hiermit bringt sie zum Ausdruck, dass sie den Angeklagten für therapiebedürftig und -fähig hält; denn die Zurückstellung lässt sich - wenngleich sie nicht auf Fälle günstiger Therapiechancen beschränkt ist - nicht rechtfertigen, wenn die Behandlung von vornherein als aussichtslos erscheint. Diesen ermessensleitenden Umstand hat nicht nur die die Zurückstellung anordnende Vollstreckungsbehörde, sondern auch das zustimmende Gericht zu beachten (BGH, Beschluss vom 28. Mai 2018 - 3 StR 115/18, BeckRS 2018, 17116 Rn. 5 mwN). Auch unter Berücksichtigung der erfolglosen Therapie (UA S. 4) versteht sich damit nicht von selbst, dass es an einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB fehlt.

3. Der Angeklagte hatte bereits in der Nacht vom 31. Oktober 2015 auf den 1. November 2015 im berauschten Zustand einen ehemaligen Polizeibeamten zu Fall gebracht und diesen, während er auf dem Boden lag, sehr kraftvoll auf den Brustkorb und sodann zweimal gegen den Kopf getreten (UA S. 8 f.). Er wurde nunmehr wegen einer versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung verurteilt, bei der er ein Messer verwendete (UA S. 16). Bei dieser Sachlage ist nicht ohne weiteres ersichtlich, warum keine Gefahr bestehen sollte, dass er auch in Zukunft infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Dies gilt umso mehr, als die Strafkammer eine Strafaussetzung zur Bewährung unter anderem deshalb abgelehnt hat, weil die Lebensverhältnisse des erwerbslosen Angeklagten nicht gefestigt sind, er nach wie vor regelmäßig Betäubungsmittel konsumiert und dieser Konsum zu einer Enthemmung gegenüber Polizeibeamten führt, für deren Einsatz der Angeklagte immer wieder Anlass gibt (UA S. 32).

4. Schließlich wäre eine Unterbringung auch nicht mit Blick auf die sehr maßvolle Gesamtstrafe unverhältnismäßig. Die Ablehnung einer Unterbringung allein mit der Erwägung, die Höhe der Begleitstrafe bliebe zeitlich hinter der prognostischen Unterbringungsdauer zurück, wäre jedenfalls rechtsfehlerhaft (Senat, Beschluss vom 3. Februar 2021 - 2 StR 417/20, BeckRS 2021, 4958 Rn. 10 mwN).

5. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht. Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (Senat, Beschluss vom 27. April 2021 - 2 StR 101/21; BeckRS 2021, 17054 Rn. 13 mwN).“

b) Das zur neuen Verhandlung und Entscheidung berufene Tatgericht wird daher mit Hilfe eines Sachverständigen (§ 246a StPO) zu prüfen haben, ob die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 720

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß