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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 742

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 101/21, Beschluss v. 27.04.2021, HRRS 2021 Nr. 742


BGH 2 StR 101/21 - Beschluss vom 27. April 2021 (LG Aachen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen eines Hangs); rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Feststellung von Art und Ausmaß durch den Tatrichter).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Der Tatrichter ist verpflichtet, Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen. Das Revisionsgericht muss anhand der Ausführungen in den Urteilsgründen jedenfalls im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen können, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen, und ob sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eröffnenden Bewertungsspielraums hält.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 22. Oktober 2020

a) im Ausspruch über die Einziehung des Wertes von Taterträgen dahingehend ergänzt, dass die Angeklagte als Gesamtschuldnerin haftet,

b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, aa) soweit eine Entscheidung über die Anrechnung von Leistungen, die im Rahmen der für die einbezogene Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 15. September 2017 gewährten Strafaussetzung zur Bewährung erbracht worden sind, unterblieben ist, bb) hinsichtlich der Entscheidung über die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung, cc) soweit von einer Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist, dd) im Ausspruch über die Entschädigung für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen, unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in acht Fällen unter Einbeziehung der Strafe aus einem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 15. September 2017 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und angeordnet, dass zwei Monate dieser Strafe als verbüßt gelten. Darüber hinaus hat es den Wert von Taterträgen in Höhe von 5.020 € eingezogen. Das auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch sowie zur Zumessung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben. Auch die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 5.020 € erweist sich als rechtsfehlerfrei. Jedoch war die Einziehungsentscheidung aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 25. März 2021 um die gesamtschuldnerische Haftung der Angeklagten zu ergänzen.

2. Demgegenüber hält das angefochtene Urteil hinsichtlich der unterbliebenen Entscheidung über die Anrechnung von Leistungen, die im Rahmen der für die einbezogenen Strafe gewährten Strafaussetzung zur Bewährung erbracht worden sind, des Absehens von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt sowie der Kompensationsentscheidung rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Wird - wie hier mit der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Aachen vom 15. September 2017 - eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe nach § 55 Abs. 1 StGB in eine unbedingte Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen, entfällt damit die ursprünglich gewährte Strafaussetzung. Die Strafkammer war daher gehalten, gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2, § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB über die Anrechnung von Leistung zu entscheiden, die die Angeklagte zur Erfüllung von Auflagen aus dem Bewährungsbeschluss der einbezogenen Verurteilung erbracht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2018 - 4 StR 250/18, juris Rn. 6 mwN). Die fehlende Anrechnung ist hier auf die Sachrüge hin zu beachten (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 7. März 2001 - 2 StR 43/01, juris Rn. 3; BGH, Beschluss vom 15. August 2018 - 4 StR 250/18, aaO), da das angefochtene Urteil ausführt, der Angeklagten sei im Rahmen der durch das einbezogene Urteil gewährten Strafaussetzung aufgegeben worden, 100 Arbeitsstunden abzuleisten (UA S. 17), und die Angeklagte habe in einer Notunterkunft mehr als 350 Sozialstunden im Rahmen mehrerer Bewährungen geleistet (UA S. 12). Angesichts dessen hätte die Strafkammer darlegen müssen, welche Leistungen die Angeklagte für die Bewährungsauflage erbracht hat und diese gegebenenfalls durch eine die Vollstreckung verkürzende Anrechnung auf die Gesamtfreiheitsstrafe ausgleichen müssen.

b) Die Entscheidung, von einer Unterbringungsanordnung gemäß § 64 StGB abzusehen, hält rechtlicher Prüfung ebenfalls nicht stand. Die Begründung der Strafkammer, bei der Angeklagten sei „nicht (mehr) von einem Hang auszugehen“, lässt bereits besorgen, dass sie ihrer Prüfung ein zu enges Verständnis des Hanges im Sinne der Maßregel zugrunde gelegt hat. Zudem steht diese Wertung in einem unauflösbaren Widerspruch zu ihren Erwägungen, mit denen sie eine negative Kriminalprognose der Angeklagten nach § 56 Abs. 1 StGB sowie das Fehlen besonderer Umstände nach § 56 Abs. 2 StGB begründet hat. Dies zieht sowohl die Aufhebung der Entscheidung über die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wie auch über die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung nach sich.

aa) Das Landgericht hat, soweit für seine Entscheidung über die unterbliebene Anordnung der Maßregel relevant, folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

(1) Die im Urteilszeitpunkt 51-jährige Angeklagte wurde mit 19 Jahren heroinabhängig. Der Konsum steigerte sich bis Oktober 2017 auf 2 Gramm täglich. Neben Heroin konsumierte sie gelegentlich Cannabis und Kokain. Seit 2017 wird sie in Belgien mit Methadon substituiert. Während der Substitutionsbehandlung kam es zu mehrfachen Rückfällen mit Heroin.

(2) Die Strafkammer hat die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB abgelehnt. Sie ist - sachverständig beraten - davon ausgegangen, dass bei der Angeklagten „nicht mehr von einem Hang auszugehen (sei), Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren“. Zwar sei es zu zwei Rückfällen mit Heroin im Jahr 2020 gekommen. Die Angeklagte habe die eingenommene Methadondosis nunmehr auf nur noch 0,05 Milliliter reduziert. Ihr Suchtdruck sei „allenfalls noch ganz gering“ und reiche „nicht (mehr) aus, einen Hang im Sinne des § 64 StGB zu begründen“.

bb) Diese Wertungen der Strafkammer erweisen sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

(1) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende und durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Der übermäßige Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB ist ebenfalls dann gegeben, wenn die Betroffene aufgrund ihrer psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2019 - 2 StR 93/19, NStZ-RR 2020, 37, 38; BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2020 - 1 StR 155/20, juris Rn. 9; vom 22. Mai 2017 - 4 StR 78/17, juris Rn. 6; Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13, juris Rn. 10). Die Tatsache, dass eine Angeklagte kurzzeitig in der Lage war, ihren Rauschmittelkonsum zu verringern oder einzustellen, steht dem Vorliegen eines Hanges nicht entgegen (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2019, aaO; BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - 1 StR 155/20, aaO; Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13, aaO).

(2) Soweit die Strafkammer festgestellt hat, der Suchtdruck sei „allenfalls ganz gering“ und reiche „nicht (mehr) aus, einen Hang im Sinne des § 64 StGB zu begründen“, verkennt sie, dass die für einen derartigen Hang erforderliche Neigung keinen Grad einer psychischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein (nur noch) geringer Suchtdruck kann daher keinen fehlenden Hang begründen.

(3) Diese Wertung der Strafkammer steht zudem in einem unauflösbaren Widerspruch zu ihren Erwägungen, mit denen sie eine Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung abgelehnt hat. Denn die Strafkammer kommt bei der Kriminalprognose in einer - für sich genommen - nachvollziehbaren Gesamtwürdigung der Persönlichkeit der Angeklagten, ihrem Vorleben, den Umständen ihrer Taten, ihrem Verhalten nach den Taten und ihren Lebensverhältnissen zu der Überzeugung, dass von der Angeklagten weitere Betäubungsmitteltaten zu erwarten sind, da ihre „weitgehende Abstinenz … noch instabil“ sei. Dabei hat sie insbesondere gesehen, dass die Angeklagte trotz der seit Oktober 2017 erfolgenden Substitution im November 2018 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in drei Fällen (Tatzeiten 24. Mai 2018, 28. Mai 2018 und 18. Juli 2018) verurteilt wurde. Zudem attackierte sie am 5. März 2018 mit einer Mischintoxikation aus Alkohol (2,08 ‰) sowie Benzodiazepinen, Kokain, Opiaten und Cannabis mehrere Polizeibeamte körperlich und verbal. Hinzu traten zwei Rückfälle mit jeweils einmaligen Heroinkonsum im Jahr 2020. Ungeachtet der laufenden Substitution pflegte die Angeklagte weiterhin den zumindest gelegentlichen Konsum von Cannabis. Dieser Widerspruch zur Ablehnung eines Hangs im Sinne von § 64 StGB wird in den Urteilsgründen auch nicht aufgelöst.

cc) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nicht von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur die Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (vgl. BGH, Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 7 f.). Die Beschwerdeführerin hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht von ihrem Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. Senat, Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362). Angesichts der aufgezeigten Widersprüchlichkeit der Urteilsgründe war die Aufhebung des angefochtenen Urteils auch auf die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung zu erstrecken.

c) Der Ausspruch über die Entschädigung für die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat ebenfalls keinen Bestand.

aa) Nach den hierzu getroffenen Feststellungen hat die Staatsanwaltschaft am 25. Februar 2016 Anklage gegen die Beschwerdeführerin und einen Mittäter erhoben, die das Landgericht mit Beschluss vom 13. April 2016 zur Hauptverhandlung zugelassen hat. Nachdem der Mitangeklagte zur Hauptverhandlung am 19. August 2016 nicht erschienen war, hat die Strafkammer die Verhandlung ausgesetzt. „Wegen nicht in der Verantwortung der Angeklagten liegenden Umstände - insbesondere der fehlenden Ladungsmöglichkeiten“ des Mittäters „wie auch der Überlastung der Strafkammer mit Haftsachen“ hat die neuerliche Hauptverhandlung erst begonnen, nachdem das Verfahren gegen den Mitangeklagten am 27. April 2020 eingestellt worden war. Die Strafkammer hat hierin eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gesehen, weswegen sie angeordnet hat, dass zwei Monate der ausgesprochenen Gesamtfreiheitsstrafe als verbüßt anzusehen seien.

bb) Auf der Grundlage dieser Feststellungen erweist sich die angeordnete Entschädigung als rechtsfehlerhaft.

(1) Der Tatrichter ist verpflichtet, Art und Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil konkret festzustellen (vgl. Senat, Beschluss vom 5. November 2015 - 2 StR 364/15; Urteil vom 23. Oktober 2013 - 2 StR 392/13, NStZ-RR 2014, 21). Das Revisionsgericht muss anhand der Ausführungen in den Urteilsgründen jedenfalls im Sinne einer Schlüssigkeitsprüfung nachvollziehen können, ob die festgestellten Umstände die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK tragen, und ob sich die Kompensationsentscheidung innerhalb des dem Tatrichter insoweit eröffnenden Bewertungsspielraums hält (vgl. Senat, aaO).

(2) Hieran gemessen, hat die Strafkammer ihre Kompensationsentscheidung nicht tragfähig begründet. Es fehlt bereits an einer nachvollziehbaren Feststellung der Verfahrensverzögerung, denn es bleibt offen, welchen Verzögerungsumfang die Strafkammer ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat. Zudem fehlen Feststellungen zu den sich aus der konkreten Verzögerung ergebenden Belastungen für die Angeklagte (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 12. Februar 2014 - 2 StR 308/13, juris Rn. 31). Insofern besteht für den Senat keine Möglichkeit, die vom Tatgericht festgesetzte Kompensation zu überprüfen. Auch insoweit bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 742

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 256; StV 2022, 295

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner