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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 166

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 325/21, Beschluss v. 23.11.2021, HRRS 2022 Nr. 166


BGH 2 StR 325/21 - Beschluss vom 23. November 2021 (LG Limburg)

Urteilsgründe (Beweiswürdigung: tragende Tatsachen, rational nachvollziehbaren Überlegungen); minder schwerer Fall des Totschlags (Tatprovokation).

§ 261 StPO; § 267 StPO; § 213 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

§ 261 und § 267 StPO verpflichten den Tatrichter, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 17. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts geführte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen war der Nebenkläger in der Baufirma des Angeklagten angestellt. Weil er am 16. Juli 2020 nicht zur Arbeit erschien, kündigte ihm der Angeklagte telefonisch. Der Nebenkläger, der dem Angeklagten kurz zuvor einen lukrativen Auftrag vermittelt hatte, akzeptierte die Kündigung nicht. Auf Betreiben des Angeklagten sollte es deshalb zu einem klärenden Gespräch in der L. Innenstadt kommen, bei dem er dem Nebenkläger eine Abfindung anbieten wollte.

Am 20. Juli 2020 gegen 14.00 Uhr erwartete der einen „Kaffee zum Mitnehmen“ in der Hand haltende Angeklagte auf einer Bank vor dem Rathaus sitzend den Nebenkläger, der an diesem Morgen eine Linie Kokain konsumiert hatte. Beide begrüßten sich mit Handschlag, der aufgebrachte Nebenkläger lehnte es ab, sich ebenfalls auf die Bank zu setzen, machte dem Angeklagten lautstarke Vorwürfe und forderte eine Provision für den vermittelten Auftrag. Der Angeklagte, dem das lautstarke, verbal aggressive Auftreten des Nebenklägers in der Öffentlichkeit unangenehm war, bat diesen, nicht so zu schreien und bot eine Abfindung von 500 Euro an. Dies lehnte der Nebenkläger ab und schlug dem Angeklagten mit dem flachen Handrücken gegen die Brust, so dass der Inhalt des Kaffeebechers, den der Angeklagte in der Hand gehalten hatte, überschwappte und sich Kaffee auf dessen Hemd ergoss. Ob dieser Geste der Missachtung wütend und erschüttert über die Uneinsichtigkeit des Nebenklägers, zog der Angeklagte sein Messer aus der Gesäßtasche und griff den Nebenkläger mit „wahllosen Messerführungen gegen den Körper“ an, wobei er diesen zuerst am Oberkörper verletzte. Im Nachsetzen fügte er dem zurückweichenden Nebenkläger insgesamt fünf Stich- und Schnittverletzungen zu: zwei Schnittwunden am Thorax links, eine an der linken Halsseite und zwei tiefe Stichverletzungen am linken Oberschenkel. Als der Angeklagte die stark blutende Wunde am Bein des Nebenklägers erblickte, ließ er - obschon ihm weitere Stiche möglich gewesen wären - erschrocken über sein Tun von diesem ab und ergriff die Flucht. Er ging davon aus, dem Nebenkläger noch keine tödlichen Verletzungen beigebracht zu haben. In der Folge ließ er sich widerstandslos festnehmen. Die aufgrund einer Verletzung der Oberschenkelarterie lebensgefährlichen Verletzungen des Nebenklägers wurden operativ versorgt und sind weitgehend folgenlos verheilt.

II.

1. Die diesen Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist originäre Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. § 261 und § 267 StPO verpflichten den Tatrichter, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (Senat, Beschlüsse vom 6. Juli 2021 - 2 StR 3/20, und vom 11. März 2020 - 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts nicht gerecht. Maßgeblichen Beweiswürdigungen fehlt es an einer rational nachvollziehbaren Tatsachengrundlage. Die Feststellungen der Strafkammer, dem Messereinsatz des Angeklagten seien - anders als von diesem behauptet - weder Tätlichkeiten des Nebenklägers vorausgegangen, noch habe der Angeklagte das Messer offen gezeigt und so versucht, den Nebenkläger von sich fernzuhalten, sind nicht tragfähig belegt.

aa) Soweit das Landgericht Tätlichkeiten des Nebenklägers mit dessen Respekt vor dem Angeklagten als seinem Arbeitgeber ausschließt, ist dies angesichts seines im Übrigen festgestellten Verhaltens nicht nachvollziehbar. Das lautstarke verbal aggressive Auftreten des Nebenklägers gegenüber dem von sämtlichen Zeugen als besonnen, höflich und ruhig beschriebenen Angeklagten auf einem öffentlichen Platz und das Schlagen mit dem flachen Handrücken gegen dessen Brust waren Handlungen, die eindeutig nicht von Respekt, vielmehr von Missachtung gegenüber dem Angeklagten als seinem (ehemaligen) Arbeitgeber zeugen. So haben auch neutrale Zeugen den Nebenkläger als aufbrausenden, provozierenden Charakter beschrieben, der ein Problem damit habe, sich unterzuordnen.

bb) Ein durchgreifender Rechtsfehler liegt auch darin, dass die Strafkammer ihre Überzeugung, es habe keine Tätlichkeiten seitens des Nebenklägers gegeben, auf die Angaben mehrerer Tatzeugen stützt, die durch lautes Geschrei bzw. durch das Messer in der Hand des Angeklagten auf das Geschehen aufmerksam geworden sind. Aus den mitgeteilten Angaben dieser Zeugen ergibt sich gerade nicht, dass sie das unmittelbar tatauslösende Geschehen beobachtet haben und dass der Nebenkläger sich durchgehend passiv verhalten hat. Im Gegenteil hat der Zeuge B. ausgesagt, er habe zwei Männer miteinander rangeln sehen, bevor einer von beiden ein Messer aus seiner Gesäßtasche gezogen habe.

2. Auf diesen Erörterungsmängeln beruht das Urteil. Der Senat vermag angesichts der aufgezeigten Mängel bei der Beweiswürdigung nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einem anderen Beweisergebnis gekommen wäre. Die Aufhebung auch des Schuldspruchs ist geboten, um durch entsprechende widerspruchsfreie Feststellungen den richtigen Ausgangspunkt für eine angemessene Ahndung der Tat zu gewinnen. Gegebenenfalls wird der neue Tatrichter eine mögliche oder vermeintliche Notwehrlage zu prüfen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 23. September 2021 - 1 StR 321/21). Für den Fall einer erneuten Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung wird der Strafmilderungsgrund der Tatprovokation gemäß § 213 StGB auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller dafür maßgeblichen Umstände zu prüfen sein; der neue Tatrichter wird sich nicht darauf beschränken können, auf einen zwischen Täter und Opfer bestehenden „Konflikt im Arbeitsverhältnis“ abzustellen; vielmehr wird die unmittelbar tatauslösende Situation in die Prüfung miteinzubeziehen sein.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 166

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß