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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 611

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 157/21, Beschluss v. 17.03.2022, HRRS 2022 Nr. 611


BGH 2 StR 157/21 - Beschluss vom 17. März 2022 (LG Hanau)

Unterlassen (Abgrenzung zum aktiven Tun: Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit, dolus subsequens); Schuldfähigkeit (Einschränkung).

§ 13 StGB; § 15 StGB; § 16 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Bei einem Erfolgsdelikt muss der Täter im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung einen Vorsatz haben, der auf alle tatsächlichen Umstände bezogen ist, die die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands erfüllen (§ 16 Abs. 1 StGB). Ein der erfolgsursächlichen Handlung nachfolgender Vorsatz (sog. dolus subsequens) ist bedeutungslos. Dies führt im Rahmen der Abgrenzung von Tun und Unterlassen dazu, solche Verhaltensweisen außer Betracht zu lassen, die nicht vom Vorsatz des Angeklagten getragen waren.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 24. September 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensbeanstandungen kommt es nicht mehr an.

I.

1. Die Angeklagte, eine ausgebildete Krankenschwester, stand zur Tatzeit einer religiösen Gemeinschaft vor, die teilweise im Haus der Angeklagten und ihres Ehemanns mit ihren Kleinkindern lebte. Sie wirkte als von Gott berufene Traumanalystin und Heilbringerin und verstand es so, dass ihre Anhänger in Abhängigkeit zu ihr gerieten. Um die (auch nicht im Haus lebenden) Anhänger für deren berufliche Entwicklung und das wirtschaftliche Fortkommen der Gemeinschaft freizustellen, übernahm die Angeklagte die Betreuung der Kleinkinder, zu der sie sich selbst ohnehin ausschließlich befähigt sah. Die Mütter der von ihr betreuten Kinder unterstützten die Angeklagte nach ihrer Anweisung. Zu den Kindern, die sich in der Obhut der Angeklagten befanden, zählte auch das Tatopfer J. H., das vom 2. Lebensjahr bis zu seinem Todestag vorwiegend im Haushalt der Angeklagten lebte. Die Angeklagte befand, dass das brüllende, sich einnässende, nicht ausreichend oder nicht schnell genug essende und nur leise oder überhaupt nicht sprechende Kind die „Reinkarnation Hitlers und von den Dunklen besessen, ein machtsadistisches Schwein und ein fies dreckig grinsender Kerl“ sei. Aus diesem Grund wurde der Junge von ihr ständig misshandelt und vernachlässigt. Schon Wochen vor dem Tattag war die Angeklagte zu der Überzeugung gelangt, dass das Kind unbelehrbar und, werde es heranwachsen, ein nicht mehr beherrschbares störendes Hindernis im Hinblick auf die berufliche Entwicklung seiner Eltern und das damit verknüpfte wirtschaftliche Fortkommen der Gemeinschaft sein würde.

Die im Haus lebenden kleineren Kinder wurden während der mittäglichen und auch nächtlichen Schlafenszeiten von der Angeklagten, von einer von ihr zum Kinderdienst eingeteilten Mutter sowie gelegentlich auch von ihren Söhnen anfangs in Schlafsäcke gesteckt. Weil sie darin aber Armfreiheit hatten und sich hüpfend fortbewegen konnten, wurden auf Weisung der Angeklagten aus dünnen Bettlaken kleine Säcke ohne Armausschnitte mit einer am oberen Rand zuziehbaren Schnur genäht, um so die Bewegungsfreiheit der Kinder einzuschränken. Seit Anfang 1987 wurden die jüngsten Kinder, darunter auch J., tagsüber und gelegentlich auch nachts in einem solchen Sack, dessen kleine kreisrunde Öffnung am Hals anlag und zugezogen wurde, ins Bett gebracht. Die Arme verblieben dabei im Sack, die Kinder waren nahezu bewegungsunfähig. Im Sommer 1987 kam es im Zusammenhang mit der Verbringung der Kinder in diesen Sack zu einem Zwischenfall, als sich eines von ihnen selbst strangulierte und deshalb notfallmäßig im Krankenhaus versorgt werden musste.

Mit Beginn des Jahres 1988 ging die Angeklagte dazu über, J. während der Mittagsstunden auf seinem Liegeplatz im Badezimmer nicht mehr nur bis zum Hals in den Sack zu stecken, sondern den Sack rundum und über dem Kopf zu verschnüren. Soweit sie dies nicht selbst tat, gab sie hierzu die grundsätzliche Anweisung. Grund hierfür war, dass sich J. in einem Fall mit den Händen aus dem Sack hatte befreien können und im Badezimmer erreichbare Gegenstände in den Mund gesteckt hatte. Später nahm sie davon wieder Abstand und verzichtete auf das Einschnüren des Körpers von J., dessen Kopf sich aber weiter in dem oben verschnürten Sack befand.

Im Frühsommer 1988 zogen auch die Eltern von J. kurzzeitig in das Haus der Angeklagten. Anfangs schlief J. bei seinen Eltern, sie tolerierten die tagtägliche und weiter fortschreitende Misshandlung ihres in der Obhut der Angeklagten befindlichen Sohns, den die Angeklagte als „auf niedrigster Stufe stehendes lebensunwertes Geschöpf“ betrachtete. Seit Juli 1988 befanden die Eltern ihren Sohn als „noch schwieriger als sonst“. Daher schlief J. von diesem Zeitpunkt an auf einer Matratze im Badezimmer, unweit vom Schlafzimmer der Angeklagten.

Im August 1988 erhielt der damals 14-jährige Sohn der Angeklagten M. den Auftrag, den „Mistkerl“ von seinem Schlafplatz in die Küche zu bringen. Bei beiden Gelegenheiten lag J. über den Kopf eingeschnürt im Sack und schnaufte hörbar nach Luft. Der Sack war jeweils feuchtnass vom Schwitzen des Kindes. Bei der zweiten Gelegenheit, etwa zwei Wochen vor dem Todestag, hatte J. zudem ein hochrotes und aufgedunsenes Gesicht und rang schlotternd nach Luft. Sein Zustand verbesserte sich erst, als M. das Kind beruhigte und ihm zu trinken gab. Auf den Hinweis von M. an die Angeklagte auf den besorgniserregenden Zustand von J. erwiderte diese nur, dass alles „nur Show“ sei und er sich darum nicht kümmern solle.

Am Vorabend des Tattages brachte die Mutter von J., H., ihren Sohn gegen 21.00 Uhr zu Bett, indem sie ihn bis zum Hals in den für ihn vorgesehenen Sack einbrachte und auf der Matratze im Badezimmer ablegte. Gegen 9.00 Uhr am Morgen des 17. August 1988 sah sie erstmals nach ihrem Sohn. Sie fragte ihn, ob er sich eingenässt habe, was er der Wahrheit zuwider verneinte. Zur Strafe beabsichtigte sie, ihn weiter in diesem Zustand im Sack liegen zu lassen. Als sie dies J. sagte, fing dieser an zu brüllen und zu wüten wie ein „Blöder“. Auch dafür zeigte H. kein Verständnis; sie warf vielmehr J. vor, durch sein Geschrei die Angeklagte und ihren Ehemann zu wecken. Tatsächlich wachte der Ehemann, D., auf und kam ins Badezimmer. Er nahm J. aus dem Sack und setzte ihn in die Badewanne, wo er ihn kalt abduschte. J. schrie jetzt noch wütender als zuvor. Er blieb sich selbst im Badezimmer überlassen und beruhigte sich nicht. In der Folgezeit bis mittags kümmerte sich niemand mehr um das immer noch jammernde und schreiende Kind. Zum Mittagessen erhielt J. die erste Mahlzeit in Form einer Portion Haferbrei. Anschließend steckte die Mutter von J. ihren Sohn aufgrund der bestehenden Anweisung wieder in den kleinen Sack zurück und band diesen - so wie von der Angeklagten vorgeschrieben - über dessen Kopf zu, was ihr trotz heftiger Gegenwehr gelang. Sie legte ihn auf der Matratze ab und verließ das Badezimmer.

Gegen 13.40 Uhr ging sie mit D. aus dem Haus, um auf dem Markt Reste an Obst und Gemüse einzusammeln. Dabei wusste sie, dass die Angeklagte als alleinige erwachsene Obhutsperson im Haus zurückblieb. Diese nutzte die Abwesenheit und ging ins spätsommerlich aufgeheizte Badezimmer, in dem J. immer noch auf der Matratze lag und weiter schrie und brüllte. Dabei wusste sie aufgrund der vorangegangenen Erfahrungen, dass der im Sack abgelegte J. aufgrund Sauerstoffmangels in eine lebensgefährliche Situation geraten würde. Dies verstärkte sich dadurch, dass J. im Sack außergewöhnlich lange schrie und brüllte. Aufgrund ihrer Überzeugung, dass J. sie weder akzeptierte, nur zum Quälen da war und überdies für die Gemeinschaft und für die Eltern gefährlich und unberechenbar werden könnte, entschloss sie sich, seinen Tod herbeizuführen. Als sie im Bad stand, schloss sie ihrem Entschluss entsprechend das Badezimmerfenster und die Badezimmertür mit der Bemerkung: „jetzt kann Dich keiner mehr hören“ und überließ J. der von ihr geschaffenen Situation. Anschließend hielt sie sich mehrere Minuten vor der Badezimmertür auf, verwies den auf die Situation aufmerksam gewordenen Sohn M. auf sein Zimmer im Dachgeschoss und wartete - wie von ihr vorhergesehen - auf das Versterben von J. In der Folge bemerkte sie, dass dessen Schreie mehr und mehr „schlotternd“ wurden, und wartete solange, bis das Schreien abrupt aufhörte. Sie öffnete nur kurz die Badezimmertür und begab sich in die Küche, wo sie auf die Rückkehr von J. s Mutter und ihrem Ehemann wartete. Gegen 14.10 Uhr kamen beide vom Markt zurück. H. erklärte sie, es könne sein, dass „der Alte“ den J. einmal schneller holen werde als gedacht. D. rannte daraufhin in das Badezimmer und stellte die Leblosigkeit von J. fest. Er befreite ihn aus dem Sack und holte große Mengen von Haferbrei aus dem Mund des Kindes. Zeitgleich rief die Kindsmutter den Notarzt an, der um 14.30 Uhr erschien. Die Wiederbelebungsversuche durch D. blieben erfolglos. Weder dem Notarzt noch der Polizei gegenüber wurde der wahre Sachverhalt offenbart.

J. erstickte infolge von Speisebreiaspiration. Der Speisebrei gelangte in seine Lunge, weil der natürliche Reflex des Abhustens durch seine zuvor eingetretene tiefe Bewusstlosigkeit ausgeschlossen war. Mit der Aufnahme des Speisebreis kam es zu einer Verringerung des Sauerstoffs im Gehirn. Durch das Schreien und Brüllen verbrauchte J. zudem vermehrt Sauerstoff. In dem Sack war zudem kein uneingeschränkter Austausch von Sauerstoff und „Kohlenmonoxid“ mehr möglich, was zu einem stetigen Anstieg des „Kohlenmonoxidgehalts“ in dem Sack führte. Das Blut von J. übersäuerte, er fiel zwangsläufig in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Die Angeklagte befand sich während der Tat in keinem ihre Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigenden Zustand.

2. Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen verurteilt, begangen durch positives Tun. Bei der Frage, ob ein positives Tun vorliege, komme es auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit unter Betrachtung des Gesamtgeschehens an. Die Angeklagte habe die Anweisung an die Kindsmutter erteilt, den Sack über dem Kopf des Kindes zu verschnüren. Dieses aktive Tun in Verbindung mit ihrer Gewissheit, dass die Kindsmutter dieser Anweisung nachkomme, habe das äußere Ereignis gebildet, welches den tödlichen Kausalverlauf in Gang gesetzt habe. Hingegen sei das nachfolgende Unterlassen der Angeklagten, nämlich in der für J. schon herbeigeführten und bestehenden lebensgefährlichen Situation nicht noch einmal nach ihm zu schauen, dem aktiven Tun nachgeschaltetes Täterverhalten; es habe lediglich dazu gedient, den einmal durch aktives Tun in Gang gesetzten Geschehensablauf nicht mehr zu unterbrechen.

II.

Die Verurteilung wegen eines durch positives Tun begangenen Mordes hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Die vom Landgericht vorgenommene Einordnung des Verhaltens der Angeklagten als positives Tun begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar ist die Strafkammer im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass es bei der Frage, ob ein strafbares Tun oder Unterlassen vorliegt, auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ankommt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 1954 ? GSSt 3/53, BGHSt 6, 46, 59; vom 17. August 1999 ? 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607; Senat, Urteil vom 7. September 2011 ? 2 StR 600/10, NJW 2011, 3528, 3529). Sie hat allerdings in ihre Betrachtung des Gesamtgeschehens ein Ereignis einbezogen, das sie nicht hätte berücksichtigen dürfen.

a) Das Landgericht hat maßgeblich auf die Anfang 1988 erteilte Anweisung der Angeklagten an die Kindsmutter, den Sack über den Kopf des Kindes zu verschnüren, und auf die Gewissheit abgestellt, dass diese der Anweisung nachkam. Es hat darin (zu Recht) das äußere Ereignis gesehen, das den tödlichen Kausalverlauf in Gang gesetzt hat, hat allerdings nicht bedacht, dass zum Zeitpunkt der Handlungsanweisung an die Kindsmutter ein Tötungsvorsatz der Angeklagten nicht belegt ist. Die Strafkammer ist im Rahmen der Beweiswürdigung davon ausgegangen, dass die Angeklagte „spätestens zu dem Zeitpunkt, als sie wie gewohnt J. durch die Zeugin H. in der beschriebenen Weise im Bad ablegen ließ, Fenster und Tür des Badezimmers schloss, dessen Tod wollte“. Der an anderer Stelle im Urteil zu findenden Erwägung, die Angeklagte habe (in Kenntnis der Lebensgefährlichkeit eines solchen Ablegens des Kindes) gleichwohl das zum Tode führende Geschehen wissentlich in Gang gebracht und so den Tod von J. herbeigeführt, lässt sich genau so wenig wie der äußerst knappen Begründung des (bedingten) Tatvorsatzes der Angeklagten im Rahmen der rechtlichen Würdigung entnehmen, dass die Strafkammer vom Vorliegen eines Tötungsvorsatzes schon zum Zeitpunkt der Erteilung der Handlungsanweisung zeitlich weit vor dem Todestag ausgegangen ist.

Bei einem Erfolgsdelikt muss der Täter im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung einen Vorsatz haben, der auf alle tatsächlichen Umstände bezogen ist, die die Merkmale des gesetzlichen Tatbestands erfüllen (§ 16 Abs. 1 StGB). Ein der erfolgsursächlichen Handlung nachfolgender Vorsatz (sog. dolus subsequens) ist bedeutungslos (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2019 - 4 StR 348/19, NStZ-RR 2020, 79; Senat, Urteil vom 24. April 2019 - 2 StR 377/18, NStZ 2019, 468, 469; BGH, Urteil vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17, NJW 2018, 1621, 1622; Senat, Beschluss vom 7. September 2017 - 2 StR 18/17, NStZ 2018, 27; BGH, Beschluss vom 14. Juni 1983 - 4 StR 298/83, NStZ 1983, 452). Dies führt hier im Rahmen der Abgrenzung von Tun und Unterlassen dazu, solche Verhaltensweisen außer Betracht zu lassen, die nicht vom Vorsatz der Angeklagten getragen waren. Das Landgericht hätte deshalb bei seiner Prüfung die vor dem Tattag noch ohne Tötungsvorsatz erteilte Anweisung der Angeklagten nicht berücksichtigen dürfen.

b) Die Strafkammer hat bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen nicht in ihre Würdigung eingestellt, dass die Angeklagte das Badezimmerfenster und die Badezimmertür schloss, ebenso wenig hat es in den Blick genommen, dass die Angeklagte ihren Sohn, der zwischenzeitlich auf die Geschehnisse aufmerksam geworden war, wieder in sein Zimmer zurückschickte. Insbesondere der letztgenannte Umstand könnte ein als ein vom Vorsatz getragenes, für den Tod des Kindes kausal gewordenes positives Tun zu wertendes Verhalten sein, wenn die Angeklagte damit aktiv einen von ihrem Sohn eingeleiteten rettenden Kausalverlauf vereitelt hätte (vgl. Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., vor § 13, Rn. 159 mwN). Dies erscheint mit Blick darauf, dass der Sohn zuvor J. aus bedrohlicher Situation befreit, dabei die Lebensbedrohlichkeit der Situation erkannt und die Mutter darauf hingewiesen hatte, nicht ausgeschlossen. Nähere Feststellungen dazu, ob der Sohn M. aus seinem Zimmer die Treppe herunterkam, um J. zu helfen oder einfach auch nur „neugierig“ war, finden sich in den Urteilsgründen jedoch nicht. Auch den Zeugenangaben des Sohnes lassen sich Hinweise auf tatsächliche oder beabsichtigte Rettungsbemühungen nicht entnehmen. Schon aus diesem Grund war der Senat gehindert, mit Blick auf die Einwirkung der Angeklagten auf ihren Sohn ein positives Tun anzunehmen. Darauf, ob der Senat die fehlerhafte Würdigung des Landgerichts durch eine eigene ersetzen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 1999 - 1 StR 390/99, NStZ 1999, 607) oder ob dem § 265 StPO entgegenstünde, kommt es nicht mehr an.

c) Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt das Urteil insgesamt auf, um dem Tatrichter Gelegenheit zu geben, widerspruchsfreie Feststellungen zu den zum Tod von J. führenden objektiven Geschehensabläufen und zum jeweiligen subjektiven Vorstellungsbild der Angeklagten zu treffen. Dabei wird sich das Landgericht auch näher mit der Frage zu befassen haben, ob die Angeklagte nicht bereits vor dem eigentlichen Tattag, etwa im Zusammenhang mit Anweisungen nach den Rettungsbemühungen ihres Sohnes des Inhalts, der aus Sicht ihres Sohnes lebensgefährliche Zustand von J. sei „nur Show und er (solle) sich nicht darum kümmern“ (UA 17), (bedingten) Tötungsvorsatz aufgewiesen hat.

d) Der Senat macht von der Möglichkeit nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO Gebrauch und verweist die Sache an das Landgericht Frankfurt am Main.

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass auch die Prüfung einer Einschränkung der Schuldfähigkeit der Angeklagten nach §§ 20, 21 StGB eingehenderer Erörterung als bisher geschehen bedarf. Das Landgericht ist sachverständig beraten davon ausgegangen, dass bei der Angeklagten eine narzisstische Persönlichkeitsstörung gegeben sei, die allerdings tatzeitbezogen bei ihr einen forensisch relevanten Schweregrad nicht erreicht habe. Dabei hat die Strafkammer das „Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung als jesusgleich, ihre Überzeugung einmalig zu sein sowie ihr Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung und hochmütiger Attitüde sowie ihren Mangel an Empathie“ in den Blick genommen. Nicht auseinander gesetzt hat sich das Landgericht mit der besonderen Beziehung, die die Angeklagte nach den Feststellungen zu J. hatte. Sie bezeichnete ihn als „Reinkarnation Hitlers, der von Dunklen besessen, ein machtsadistisches Schwein und ein fies dreckig grinsender Kerl“ sei, und prophezeite, dass er „eine heranwachsende Gefahr für alle sei und es mit ihm und für die Gemeinschaft ein schlimmes Ende nehmen“ werde. Sie misshandelte und vernachlässigte J. deshalb von Beginn ihrer Obhut über Jahre hinweg, so dass dieser schweren körperlichen Schaden nahm: J. war dünn, untergewichtig und klein, konnte nicht sprechen und nicht selbständig laufen; er war von gebeugter Haltung mit dunklen Augenringen und greisenhaftem Antlitz. Es liegt auf der Hand, dass diese von der Angeklagten auch im Rahmen der Gemeinschaft geäußerte Einschätzung eines Kleinkindes keinerlei Bezug zur Realität aufweist und der auf dieser Einordnung beruhende Umgang mit J. weit außerhalb eines auch nur annähernd geordneten normalen Umgangs mit Kindern liegt. Ob hinter diesen Verhaltensweisen Züge einer (möglicherweise religiös bedingten) wahnhaften Verkennung der Realität stehen, ob diese (lediglich) Ausdruck der Strategie waren, mit der die Angeklagte die „Glaubensgemeinschaft“ in Abhängigkeit brachte, oder ob es hierfür noch andere Gründe gibt, die für die Schuldfähigkeit der Angeklagten von Bedeutung sein können, hätte vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen der Erörterung bedurft. Dies wird der neue Tatrichter, zweckmäßigerweise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen, nachzuholen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 611

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß