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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 934

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 34/19, Beschluss v. 25.07.2019, HRRS 2019 Nr. 934


BGH AK 34/19 - Beschluss vom 25. Juli 2019

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (Reservehaltung von Tatvorwürfen; Begriff „derselben Tat“; im Laufe der Ermittlungen bekanntwerdende neue Vorwürfe; Beginn einer neuen Sechsmonatsfrist; Zeitpunkt des Fristbeginns; keine Berücksichtigung der bisherigen Haftdauer).

§ 112 StPO; § 121 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der § 121 Abs. 1 StPO zugrunde liegende Tatbegriff weicht von demjenigen des § 264 Abs. 1 StPO ab. Er ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen und erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt geworden sind und in den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können; dies gilt unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (vgl. zuletzt BGH HRRS 2019 Nr. 650).

2. Durch die weite Interpretation des Tatbegriffs wird vermieden, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt werdende Taten des Beschuldigten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen (sog. Reservehaltung von Tatvorwürfen). Danach beginnt keine neue Sechsmonatsfrist zu laufen, falls ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt waren. Gleiches hat zu gelten, falls der Haftbefehl um Tatvorwürfe erweitert wird, die erst während der Ermittlungen im vorgenannten Sinne bekannt geworden sind, für sich allein den Erlass eines Haftbefehls jedoch nicht rechtfertigen (vgl. BGH HRRS 2017 Nr. 424).

3. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordenen Tatvorwürfe für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für deren Beginn ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist insoweit mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Entscheidend ist weiterhin nicht, welcher Ermittlungsbehörde zuerst der dringende Tatverdacht bekannt wurde, sondern wann dies bei verständiger Würdigung der vorliegenden Erkenntnisse in der Sache der Fall war.

Entscheidungstenor

Eine Haftprüfung durch den Senat ist derzeit nicht veranlasst.

Gründe

I.

Der Beschuldigte wurde am 18. Dezember 2018 festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof vom 12. Dezember 2018 (1 BGs 515/18).

Gegenstand dieses Haftbefehls war im Wesentlichen der Vorwurf, der Beschuldigte habe im September 2014 sowie im Februar und März 2018 gewerbsmäßig in zwei Fällen dem Russlandembargo der Europäischen Union zuwider gehandelt, indem er gelistete Güter, namentlich heiß-isostatische Pressen (HIP) im Gesamtwert von 1.712.900 €, die für eine Verwendung im Bereich der militärischen Trägertechnologie besonders geeignet sind, an militärische Empfänger in Russland (die Firmen V. und C.) ausführte, strafbar gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 7 Nr. 2 AWG i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Buchst. a der RusslandembargoVO (EU) Nr. 833/2014 vom 31. Juli 2014, §§ 52, 53 StGB.

Am 14. Mai 2019 hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs den vorgenannten Haftbefehl aufgehoben und durch einen neu gefassten Haftbefehl ersetzt (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2019 - 1 BGs 515/18). Gegenstand des neuen Haftbefehls ist - über die bereits dem ersten Haftbefehl zugrundeliegenden Tatvorwürfe hinaus - der Vorwurf, der Beschuldigte habe durch sechs weitere rechtlich selbständige Handlungen gegen das Russlandembargo der Europäischen Union verstoßen, indem er gewerbsmäßig in einem Fall in Russland eine der gelieferten HIP in Betrieb nahm, strafbar gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 7 Nr. 2 AWG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. c, Art. 1 Buchst. a und c der RusslandembargoVO (EU) Nr. 833/2014 vom 31. Juli 2014, sowie in fünf weiteren Fällen in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste erfasste Rüstungsgüter (Decaborane - Bestandteile u.a. von Raketentreibstoff) im Gesamtwert von 120.000 € an einen anderen militärischen Empfänger in Russland verkaufte und ausführte, strafbar gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 AWG i.V.m. § 74 Abs. 1 Nr. 12 AWV, § 80 Nr. 1 AWV, §§ 52, 53 StGB.

Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat mit Verfügung vom 13. Juni 2019 die Sachakten auf den vorsorglichen Antrag des Generalbundesanwalts vorgelegt, gemäß §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen. Der Generalbundesanwalt hält es für zweifelhaft, ob die Vorlagepflicht nach § 122 Abs. 1 StPO zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht.

II.

Der Senat gibt die Sache an den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zurück, weil eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO derzeit nicht veranlasst ist. Der Beschuldigte befindet sich zwar mittlerweile seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft. Im Hinblick auf die ihm mit dem Haftbefehl vom 14. Mai 2019 vorgeworfenen Taten ist jedoch eine neue Sechsmonatsfrist im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO in Gang gesetzt worden, deren Lauf am 1. März 2019 begonnen hat und deren Ablauf somit noch nicht bevorsteht.

1. Gemäß § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ vor dem Erlass eines Urteils nur unter besonderen Voraussetzungen länger als sechs Monate aufrechterhalten werden.

a) Der dieser Vorschrift zugrunde liegende Tatbegriff weicht von demjenigen des § 264 Abs. 1 StPO ab. Er ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen und erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt geworden sind und in den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können; dies gilt unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 6; vom 4. April 2019 - AK 12/19, juris Rn. 4; KK/Schultheis, StPO, 8. Aufl., § 121 Rn. 10; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 121 Rn. 14b; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 121 Rn. 11 jeweils mwN). Dadurch wird vermieden, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt werdende Taten des Beschuldigten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen (sog. Reservehaltung von Tatvorwürfen). Danach beginnt keine neue Sechsmonatsfrist zu laufen, falls ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt waren. Gleiches hat zu gelten, falls der Haftbefehl um Tatvorwürfe erweitert wird, die erst während der Ermittlungen im vorgenannten Sinne bekannt geworden sind, für sich allein den Erlass eines Haftbefehls jedoch nicht rechtfertigen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 7 mwN).

b) Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordenen Tatvorwürfe für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder - wie vorliegend - erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für deren Beginn ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist insoweit mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Nach bisheriger Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist. In solchen Fällen gebietet es der Gesetzeszweck nicht, die bisherige Haftdauer mit zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 9 mwN).

2. An diesen Maßstäben gemessen hat der erweiterte Haftbefehl vom 14. Mai 2019 eine neue Sechsmonatsfrist eröffnet, deren Lauf an dem Tag begann, an welchem der erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können; dies war am 1. März 2019 der Fall. Im Einzelnen gilt:

a) Der Beschuldigte ist der ihm über die dem ursprünglichen Haftbefehl zugrunde liegenden Taten hinaus vorgeworfenen jedenfalls weiteren zwei rechtlich selbständigen Handlungen gegen das Russlandembargo der Europäischen Union dringend verdächtig.

Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ist insoweit im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Inbetriebnahme einer heiß-isostatischen Presse Nach dem bereits dem Haftbefehl vom 12. Dezember 2018 gegenständlichen Sachverhalt hatte die Firma S., (im Folgenden: S.), deren Geschäftsführer der Beschuldigte war, vertreten durch diesen, eine HIP 200-300*450K des Herstellers EP. zum Gesamtpreis von 1.200.000 € an das russische Unternehmen E. in 127015 Moskau (im Folgenden: E.) verkauft und im Anschluss auch an den Endnutzer C. ( ) geliefert, welcher Angehöriger der russischen Streitkräfte war.

Nachdem sich der Beschuldigte im Folgenden vergeblich darum bemüht hatte, den Hersteller EP. zur Entsendung von Technikern nach Russland zu bewegen, um - wie durch ihn für die S. gegenüber seinem russischen Vertragspartner geschuldet - die an C. gelieferte HIP zu installieren und zu kalibrieren, nahm er diese zwischen Februar und Mai 2018 in eigener Person in T. (Russland) verbotswidrig in Betrieb (Fall 3 des Haftbefehls vom 14. Mai 2019).

bb) Lieferung von Decaboranen

(1) Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt zwischen Juli 2017 und dem 1. August 2018 verkaufte der Beschuldigte insgesamt 15 kg Decaborane, verpackt in 30 Einheiten zu je 0,5 kg, zum Gesamtpreis von 120.000 € an die russische G. mit Sitz in Moskau (im Folgenden: G.). Das Unternehmen ist dem russischen R. zuzuordnen, der unter anderem mit der Herstellung und Entwicklung von Raketen für militärische Zwecke befasst ist. Dem Beschuldigten war bekannt, dass Decaborane chemische Verbindungen aus der Gruppe der Borane sind und unter die Borhydride fallen; ferner wusste er, dass diese Verbindungen in Raketentreibstoff, Sprengstoffen und Pyrotechnik enthalten sind, daher als Rüstungsgüter in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste unter Position 0008 c) Nr. 3b erfasst werden und sowohl der Verkauf als auch die Ausfuhr derartiger Rüstungsgüter den Verboten des von der Europäischen Union mit Beschluss 2014/512/GASP vom 31. Juli 2014 gegen Russland verhängten Waffenembargos unterstehen (Fall 4 des Haftbefehls vom 14. Mai 2019).

(2) Nachdem der Beschuldigte die Chemikalien jeweils von der deutschen Firma Ch., bezogen hatte, nahm er folgende Einzelausfuhren an G. vor:

Zwischen dem 1. Juli 2017 und dem 14. August 2017 versandte er 0,5 kg Decaborane als Musterlieferung zum Preis von 7.000 € (Fall 5 des Haftbefehls vom 14. Mai 2019).

Zwischen dem 25. September 2017 und dem 27. Oktober 2017 versandte der Beschuldigte 1,5 kg Decaborane zum Preis von 20.000 € (Fall 6 des Haftbefehls vom 14. Mai 2019).

Am 28. März 2018 ließ der Beschuldigte 0,5 kg Decaborane zum Preis von 6.500 € über das Zollamt Ve. nach Russland ausführen (Fall 7 des Haftbefehls vom 14. Mai 2019).

Am 19. Juni 2018 ließ der Beschuldigte 2,0 kg Decaborane zum Preis von 26.000 € über Helsinki (Finnland) nach Russland ausführen (Fall 8 des Haftbefehls vom 14. Mai 2019).

b) Der dringende Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe ergibt sich aus Folgendem:

Die Tathandlungen zu Fall 3 werden belegt durch eine Gesamtschau aus der vom Beschuldigten für die „Inbetriebnahme“ der HIP gestellten Rechnung, der sichergestellten Notiz vom 17. Mai 2018 über eine Montage einer „HIP-Anlage“ an einem Sitz von C. sowie aus dem Vertrag zwischen S. und E. und aus Auskünften der EP. Die Ausführungen in der Schutzschrift der Verteidigung vom 18. Juli 2019 räumen den Tatverdacht nicht aus; weder ist die Behauptung falscher Übersetzung belegt, noch sind Umstände aufgezeigt, die den Schluss tragen, dass den Vermerken des Ermittlungsführers N. kein Beweiswert zukommen kann. Für die Behauptung, die gezahlten 37.500 € seien entgegen dem Wortlaut der diesbezüglichen Rechnung nicht für die technische Hilfeleistung bei der Inbetriebnahme, sondern als erste Rate für Lagerkosten und den Umbau der Presse geleistet worden, fehlt es an objektiven Anhaltspunkten in den bisherigen Ermittlungen.

In den Fällen 4 bis 8 folgt die hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit aus der Rechnung der S. vom 1. August 2017. Entgegen den Ausführungen der Verteidigung liegt es nahe, dass der Beschuldigte nicht nur Kleinstmengen als „Muster“ verkaufte; dagegen spricht schon die E-Mail des Beschuldigten an Ch. vom 5. Juli 2017, nach der die „Entscheidung über den Einkauf“ von 15 kg noch ausstehe, und die Korrespondenz aus der Zeit vor Rechnungsstellung. Dass der Beschuldigte vorsätzlich handelte, wird durch die mit dem Verkäufer der Chemikalien geführte E-Mail-Korrespondenz sowie durch die - erkennbar - wahrheitswidrigen Angaben des Beschuldigten in den Ausfuhrpapieren mit hoher Wahrscheinlichkeit belegt. Der Verdacht hinsichtlich der einzelnen Warensendungen in den Fällen 5 bis 8 an den russischen Käufer G. ergibt sich ebenso wie die Gewinnerzielungsabsicht aus den sichergestellten Rechnungsschreiben der S. und den Frachtbelegen.

Soweit die Verteidigung einwendet, die Rechnung auf Bl. 151 Band III der Sachakten sei „lediglich auf Bitte des Kunden geschrieben worden, damit der Kunde intern eine Genehmigung zur Überweisung von 120.000 € erhält“, tatsächlich sei indes keine Zahlung auf Konten des Beschuldigten erfolgt, steht dies dem dringenden Tatverdacht nicht entgegen. Zum einen gibt es keinen objektiven Beleg für die Behauptung der Scheinrechnung, zum anderen ist angesichts der Ermittlungsergebnisse anzunehmen, dass der Beschuldigte auch über die Möglichkeit verfügt, das Geld im Ausland anzunehmen und zu belassen, etwa in seinem Bankschließfach in Russland. Nach derzeitigem Stand der Ermittlungen rechtfertigen die in diesem Zusammenhang sichergestellten Schriftstücke die Annahme eines dringenden Verdachts, dass über 15 kg Decaborane nicht nur verhandelt wurde, sondern dass diese Menge auch geliefert worden ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten zu den Tatvorwürfen und den Umständen, die den dringenden Tatverdacht begründen, wird auf die Ausführungen in dem Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 14. Mai 2019 Bezug genommen.

c) In rechtlicher Hinsicht ergibt sich daraus Folgendes:

Die Tat zu Fall 3 erfüllt die Voraussetzungen eines Embargoverstoßes gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1a AWG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Buchst. c, Art. 1 Buchst. a und c der RusslandembargoVO. Der Beschuldigte erbrachte als Geschäftsführer der S. in Bezug auf eine Ware nach Art. 1 Buchst. a verbotene „technische Hilfe“ im Sinne des Art. 1 Buchst. c, indem er technische Unterstützung im Zusammenhang mit der Montage und Erprobung der HIP in Russland leistete. Für die S. als inländische juristische Person gilt die RusslandembargoVO nach Art. 13 Buchst. d innerhalb und außerhalb des Gebiets der Europäischen Union. Dieses persönliche Merkmal ist auch auf den als Vertreter seines Unternehmens auftretenden Beschuldigten anwendbar (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Die Fälle 4 bis 8 sind als Waffenembargoverstöße (Verstöße gegen das Verkaufs- und Ausfuhrverbot) gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2 AWG i.V.m. § 74 Abs. 1 Nr. 12 AWV (seit der Fassung vom 31. Oktober 2014) strafbar. § 80 Nr. 1 AWV verweist für die Tatbestände des Verkaufs und der Ausfuhr nach Russland auf § 17 AWG zurück. Die Decaborane sind in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste unter Position 0008 c) Nr. 3b [1] aufgeführt. Im Rahmen dieser Entscheidung kann offen bleiben, in welchem materiellrechtlichen Konkurrenzverhältnis der Verkauf und die anschließenden Teillieferungen der Decaborane stehen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 2014 - 3 StR 314/13, BGHSt 59, 271, 276 f.). Denn dies wirkt sich auf die Entscheidung, ob die erst nach Inhaftierung des Beschuldigten bekannt gewordenen Tatvorwürfe für sich betrachtet den Erlass eines Haftbefehls tragen, nicht aus.

Der Beschuldigte handelte in allen Fällen gewerbsmäßig (§ 18 Abs. 7 Nr. 2, § 17 Abs. 2 Nr. 2 AWG).

Die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs folgt aus § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a GVG. Die vorgeworfenen Handlungen waren geeignet, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden. Die Sache hat besondere Bedeutung, weil die Taten und die ihnen innewohnenden und sie begleitenden Umstände vor dem Hintergrund des gegen Russland verhängten Waffen- und Wirtschaftsembargos einen gewichtigen Angriff auf gesamtstaatliche Interessen und eine Schädigung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft begründen, zumal für den Antrieb von Raketen wesentliche Technologie aus Deutschland geliefert wurde. Mithin weisen die Tatvorwürfe auch eine die Bundesrepublik Deutschland betreffende sicherheitspolitische Dimension auf, die eine Verfolgung durch die Strafgerichtsbarkeit des Bundes gebietet.

3. Die dem Beschuldigten vorgeworfene verbotene Dienstleistung (Fall 3) und die Waffenembargoverstöße (Fälle 4 bis 8) sind nicht „dieselben“ Taten im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO, wie sie dem Beschuldigten in dem Haftbefehl vom 12. Dezember 2018 zur Last gelegt worden sind.

4. Es besteht - auch wenn allein die Fälle 3 bis 8 in den Blick genommen werden - der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Denn die Würdigung aller Umstände des Falles macht es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Der bisher unbestrafte 69-jährige Beschuldigte hat im Falle der Verurteilung schon wegen der ihm nunmehr vorgeworfenen weiteren Taten mit einer Fluchtanreiz bietenden langen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen. Er fügte mit erheblichem Aufwand und krimineller Energie den Belangen der Bundesrepublik Deutschland, namentlich ihren Sicherheitsinteressen und solchen ihrer Verbündeter, über einen längeren Zeitraum erheblichen Schaden zu. Er unternahm nach dem Scheitern der Bemühungen, die HIP durch belgische Techniker in Betrieb zu nehmen, selbst eine Reise nach Russland, um die HIP zu installieren und zu kalibrieren. In den Fällen 4 bis 8 übersandte er Gefahrgüter per einfacher Post nach Russland und nahm dabei die Gefährdung des Lebens und der Gesundheit Dritter - etwa kontrollierender Zollbeamter - in Kauf.

Feste familiäre oder berufliche Bindungen im Bundesgebiet, die dem Fluchtanreiz wirksam entgegenstünden, sind nicht ersichtlich. Von seiner zweiten Ehefrau ist der Beschuldigte seit 2012 geschieden. Er bewohnt allein eine Mietwohnung. Seine beiden erwachsenen Kinder aus erster Ehe leben nicht in seinem Haushalt; sein Sohn lebt in der Schweiz. Als russischer Staatsbürger mit russischem Reisepass verfügt der Beschuldigte zwar über eine Niederlassungserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz; nennenswertes Vermögen oder Immobilienbesitz hat er in Deutschland jedoch nicht. Er studierte in M. und schloss in Ma. sein Studium im Bereich „Technologie der metallverarbeitenden Industrie“ 1973 als Diplom-Ingenieur ab. Danach leistete er seinen Militärdienst in der russischen Armee, zuletzt im Rang eines Leutnants. Sodann arbeitete er als Ingenieur in Moskau und qualifizierte sich mit einem 1991 abgeschlossenen Studium zum Diplom-Wirt im Bereich „Internationale Wirtschaftsbeziehungen“. Seit 1992 arbeitete er in der Bundesrepublik; unter anderem gründete er 1998 die Firma S. und im Jahr 2000 die Firma S., die keine weiteren Mitarbeiter beschäftigt. Letztere unterhält seit ihrer Gründung nahezu ausschließlich Geschäftsbeziehungen zu Kunden in Russland; die Geschäfte führt der Beschuldigte von seiner gemieteten Privatwohnung aus und bezieht ein Geschäftsführergehalt von ca. 53.000 €. Neben seinen hervorragenden geschäftlichen Kontakten in seine Heimat - in die er eine rege Reisetätigkeit entfaltete - unterhält er dort ein Bankschließfach. Diese Bezüge zum Nicht-EU-Ausland erhöhen den Anreiz zur Flucht und begründen die ohne größere Schwierigkeiten umzusetzende tatsächliche Möglichkeit, sich dem Verfahren zu entziehen.

5. Weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO, insbesondere auch die von der Verteidigung angebotene Sicherheitsleistung nach Ermessen des Gerichts, sind nicht erfolgversprechend.

6. Schließlich steht die Anordnung der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle der Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Das gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dem in Haftsachen allgemein geltenden Beschleunigungsgebot besondere Bedeutung zukommt, falls sich - wie hier - die Haftdauer insgesamt verlängert, weil während des Vollzugs der Untersuchungshaft eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt worden ist und eine (erneute) Haftprüfung gemäß den §§ 121, 122 StPO deshalb nicht stattfindet (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 22. Juni 2016 - 1 Ws 257/16 H, juris Rn. 10; OLG Koblenz, Beschluss vom 3. Januar 2001 - (1) 4420 BL - III - 71/00, NStZRR 2001, 152, 153).

7. Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der Fälle 3 bis 8, die nach alldem für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigen, hat sich erst nach Erlass des Haftbefehls vom 12. Dezember 2018 ergeben.

a) Hinsichtlich der vom Generalbundesanwalt aufgeworfenen Frage, ob es für die Fristberechnung auf den Zeitpunkt des Bekanntwerdens bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft ankommt, gilt: Entscheidend ist nicht, welcher Ermittlungsbehörde zuerst der dringende Tatverdacht bekannt wurde, sondern wann dies bei verständiger Würdigung der vorliegenden Erkenntnisse in der Sache der Fall war. Denn wenn man auf den Moment des Bekanntwerdens durch die Staatsanwaltschaft abstellen wollte, würde dies die Möglichkeit für die Polizei eröffnen, den entscheidenden Zeitpunkt durch Zurückhalten der Erkenntnisse zu manipulieren; dies liefe dem Schutzzweck der Fristbestimmung des § 121 Abs. 1 StPO entgegen, eine Reservehaltung von Tatvorwürfen zu verhindern. Da im vorliegenden Fall die Umstände, die zur Annahme eines den Haftbefehl rechtfertigenden Tatverdachts führten, zuerst dem Zollfahndungsamt vorlagen, kommt es auf den diesbezüglichen Zeitpunkt an. Insoweit unmaßgeblich ist hingegen der Tag, an dem der Generalbundesanwalt den zu diesem Zeitpunkt bekannt gewordenen Ermittlungsstand (in dem Vermerk vom 20. Februar 2019) zusammengefasst und rechtlich bewertet und sodann unverzüglich den an die veränderte Sachlage angepassten Haftbefehl tatsächlich erwirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 6, 8).

b) Hier führten die Auswertungsergebnisse, die dem Zollfahndungsamt Stuttgart am 15. Februar 2016 vorlagen, im Zusammenhang mit den bis dahin geführten Ermittlungen zum Bekanntwerden von Umständen, nach denen sich die Verdachtsmomente zu einem dringenden Verdacht verdichteten. Mit den Vermerken vom 11. und 15. Februar 2019 legte das Zollfahndungsamt die verdachtsbegründenden Umstände dem Generalbundesanwalt vor; Anhaltspunkte dafür, dass sich schon zuvor ein dringender Tatverdacht hinreichend deutlich abzeichnete, sind nicht ersichtlich. Angesichts des Umfanges der sichergestellten Unterlagen ist es plausibel und nachvollziehbar, dass die Ermittlungen erst zu diesem Zeitpunkt den dringenden Tatverdacht ergaben. Insgesamt wurden neben den vorgeworfenen Ausfuhren gelisteter Güter, auf die die Ermittlungen beschränkt wurden, insgesamt 187 weitere Ausfuhren nicht gelisteter Güter an militärische Empfänger festgestellt. Dazu waren 125 Aktenordner, ein umfangreicher elektronischer Datenbestand und ca. 14.000 E-Mails, davon etwa 70% in russischer Sprache, auszuwerten.

8. Hinsichtlich der Fristberechnung ergibt sich daraus:

Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der (erweiterte) Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist; regelmäßig beginnt der Lauf der Sechsmonatsfrist an diesem Tage (vgl. BGH, Beschluss vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 6, 8; KG, Beschluss vom 15. August 2013 - 4 Ws 108/13, juris Rn. 13 mwN). Angesichts des Umfanges und der rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten der vorliegenden Fallkonstellation war der Erlass eines Haftbefehls indes hier in so kurzer Zeit nicht möglich; bei angemessener Prüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht und Sorgfalt bei der Formulierung ist davon auszugehen, dass die Antragstellung durch den Generalbundesanwalt und der Erlass des Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zwei Wochen benötigten. Damit war der Erlass eines erweiterten Haftbefehls erst am 1. März 2019 möglich; an diesem Tag begann der Lauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO. Ihr Ablauf steht noch nicht bevor.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 934

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 626; StV 2020, 402

Bearbeiter: Christian Becker