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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 704

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 450/19, Beschluss v. 29.03.2021, HRRS 2021 Nr. 704


BGH 2 StR 450/19 - Beschluss vom 29. März 2021 (LG Schwerin)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Abweichen von einem Sachverständigengutachten: Darlegungsanforderungen; Pseudoerinnerungen: nur begrenzte Überprüfbarkeit durch merkmalsorientierte Aussageninhaltsanalysen; zur Würdigung der Aktenkenntnis eines Zeugen); sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (geltende Verjährungsfrist vor dem Hintergrund der Gesetzesentwicklung; Verlängerung der Verjährungsfrist; anwendbare Fassung).

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 174 Abs. 1 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Es ist einem Tatgericht zwar nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Wenn es aber eine Frage, für die es geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss es die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass es mit Recht besseres Wissen in Anspruch nimmt.

2. Pseudoerinnerungen können nicht ohne weiteres durch merkmalsorientierte Aussageninhaltsanalysen überprüft werden; denn scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie in realen Erlebnisbeschreibungen.

3. Zur Beweiswürdigung, wenn ein Zeuge vor seiner Aussage Kenntnis vom Akteninhalt hatte.

4. Die Verjährungsfrist für Taten nach § 174 Abs. 1 StGB beträgt fünf Jahre. Der mit Wirkung vom 23. Juni 1994 eingefügte § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht, galt zunächst nicht für Straftaten im Sinne des § 174 StGB und zwar auch dann nicht, wenn das Vergehen tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch von Kindern zusammentraf. Erst in der geänderten Fassung, die ab dem 1. April 2004 galt, wurde das Ruhen der Verjährung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr des Opfers auch für die Strafbarkeit nach § 174 StGB eingeführt. Die Dauer des Ruhens der Verjährungsfrist wurde mit Wirkung vom 30. Juni 2013 auf die Vollendung des 21. Lebensjahres verlängert. Die Neufassungen finden auch für vor ihrem Inkrafttreten begangene Taten Anwendung, sofern deren Verfolgung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt ist; dies ergibt sich aus der erklärten Intention des Gesetzgebers und der Regelungssystematik des Gesetzes.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 14. März 2019

a) aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen 2.7 und 2.8 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; insoweit wird das Verfahren auf Kosten der Staatskasse, die auch die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt, gemäß § 206a Abs. 1 StPO eingestellt;

b) mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte im Übrigen verurteilt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache, soweit das Verfahren nicht eingestellt ist, zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen, sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in drei Fällen, sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei tateinheitlichen Fällen und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und bestimmt, dass davon sechs Monate als vollstreckt gelten. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit Verfahrensrügen und der Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die Verfahrensbeanstandungen nicht ankommt.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Im Zeitraum vom 1. Juni 1996 bis zum 24. November 2002 missbrauchte der Angeklagte seine Töchter F. M. (geboren am 25. November 1987) und Fr. R. (geboren am 11. November 1988) sexuell. Der Angeklagte versuchte seinen Töchtern zu vermitteln, dass dies etwas Normales sei. Bei Entdeckungsgefahr brach er die sexuellen Handlungen ab. Die Schwestern fühlten sich als Konkurrentinnen in der Beziehung zum Vater und gewöhnten sich an die sexuellen Kontakte. Sie ergriffen auch teilweise die Initiative.

a) Der erste Missbrauch des Angeklagten zum Nachteil der damals fast neunjährigen F. M. fand im Sommer 1996 statt. Abends saßen beide auf der Couch beim Fernsehen. Der Angeklagte begann damit, das Kind unter der Bekleidung an Brust und Scheide zu streicheln. Dann veranlasste er F. dazu, sich auf die Couch zu knien und sich an der Lehne abzustützen, worauf er von hinten in ihren After oder in die Vagina eindrang, möglicherweise in beide. Zugunsten des Angeklagten ist die Strafkammer ausschließlich von Analverkehr ausgegangen (Fall 2.1 der Urteilsgründe).

b) An einem warmen Tag im Jahr 1998 oder 1999, als die Ehefrau des Angeklagten nicht zu Hause war, ging der Angeklagte mit seiner Tochter F. auf den Dachboden, wo er sie anwies, sich rückwärts vor ihn zu stellen und nach vorn zu beugen. Dann drang er von hinten vaginal in sie ein. Als die Ehefrau an der Haustür zu hören war, brach der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ab (Fall 2.2 der Urteilsgründe).

c) Im Sommer 1998 führte der Angeklagte mit F. im Kinderzimmer vaginalen Geschlechtsverkehr aus. Weil die Zimmertür nicht geschlossen war, konnte Fr. dies beobachten. Als der Angeklagte die Beobachtung bemerkte, brach er den Geschlechtsverkehr ab und ging Fr. hinterher, um auf sie einzureden (Fall 2.3 der Urteilsgründe).

d) An einem Tag im Zeitraum zwischen 1998 und 2000 küsste und streichelte der Angeklagte seine Tochter F. in einem Schuppen auf dem Grundstück und führte anschließend den vaginalen Geschlechtsverkehr aus. Als die Großmutter den Hof betrat, brach der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ab (Fall 2.4 der Urteilsgründe).

e) Im Jahr 1999 fuhr der Angeklagte mit seiner Ehefrau und beiden Töchtern sowie mit seiner Schwester und deren Ehemann in Wohnmobilen nach Frankreich in Urlaub. Als er mit F. im Wohnmobil allein war, führte er den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr aus (Fall 2.5 der Urteilsgründe).

f) Im Zeitraum von 2000 bis 2001 überredete der Angeklagte seine Tochter F. zum Sex unter Beteiligung ihrer Schwester Fr. Auf Wunsch des Angeklagten stimulierten sich die Schwestern gegenseitig. Fr. leckte an der Scheide von F., diese leckte an Fr. Brust und manipulierte mit ihren Fingern an deren Scheide. Der Angeklagte stimulierte beide Töchter mit den Fingern und führte abwechselnd den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihnen aus (Fall 2.6 der Urteilsgründe).

g) An einem Tag im Zeitraum von 1999 bis 2001 machte der Angeklagte den von F. gewünschten Besuch bei ihrer Freundin D. davon abhängig, dass sie mit ihm schlief. Er führte darauf mit ihr den vaginalen Geschlechtsverkehr aus (Fall 2.7 der Urteilsgründe).

h) Eine Tat beging der Angeklagte in demselben Tatzeitraum auf dem Wasserbett im Elternschlafzimmer. Er streichelte die Brüste von F., drehte mit den Fingern an ihren Brustwarzen und leckte an der Vagina, bis sie zum Höhepunkt kam (Fall 2.8 der Urteilsgründe).

i) Im gleichen Tatzeitraum führte der Angeklagte mit Fr. den Vaginalverkehr in der „Missionarsstellung“ aus. Das wurde von F. beobachtet (Fall 2.9 der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat in allen Fällen § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB angewendet, ferner in den Fällen 1, 2 und 9 der Urteilsgründe die bis zum 31. März 1998 geltende Fassung des § 176 StGB und in den Fällen 3 bis 6 der Urteilsgründe die ab dem 1. April 1998 geltende Qualifikation gemäß § 176a Abs. 2 StGB. In den Fällen 2.7 und 2.8 der Urteilsgründe sei die Nebenklägerin im Zweifel zugunsten des Angeklagten bereits über 14 Jahre alt gewesen, weshalb nur § 174 StGB anzuwenden sei.

II.

Die Strafverfolgung wegen der Vorwürfe nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist verjährt. Daher ist das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen, soweit ausschließlich dieser Tatbestand anzuwenden war (Fälle 2.7 und 2.8 der Urteilsgründe).

1. Die Verjährungsfrist für Taten nach § 174 Abs. 1 StGB beträgt fünf Jahre. Der durch das 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 eingefügte § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruht, galt zunächst nicht für Straftaten im Sinne des § 174 StGB und zwar auch dann nicht, wenn das Vergehen tateinheitlich mit sexuellem Missbrauch von Kindern zusammentraf (vgl. Senat, Beschluss vom 6. August 2003 - 2 StR 235/03, juris). Erst in der durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vom 27. Dezember 2003 (BGBl. 2003 I, S. 3007) geänderten Fassung, die ab dem 1. April 2004 galt, wurde das Ruhen der Verjährung bis zum vollendeten 18. Lebensjahr des Opfers auch für die Strafbarkeit nach § 174 StGB eingeführt. Die Dauer des Ruhens der Verjährungsfrist wurde mit Wirkung vom 30. Juni 2013 durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (BGBl. 2013 I, S. 1805, 1807) auf die Vollendung des 21. Lebensjahres und mit Wirkung vom 27. Januar 2015 durch das 49. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10, 11) verlängert. Die Neufassungen finden auch für vor ihrem Inkrafttreten begangene Taten Anwendung, sofern deren Verfolgung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt ist; dies ergibt sich aus der erklärten Intention des Gesetzgebers und der Regelungssystematik des Gesetzes (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139 f.; BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393; Beschluss vom 24. Juni 2004 - 4 StR 165/04, NStZ 2005, 89 f.; Beschluss vom 7. April 2020 - 3 StR 90/20; Beschluss vom 3. März 2021 - 5 StR 571/20).

2. Hier ist die Strafverfolgungsverjährung zum Vorwurf nach § 174 StGB in allen Fällen eingetreten.

a) Im Fall 2.1 war die Tat im Zweifel zugunsten des Angeklagten am 1. Juni 1996 beendet, weshalb Verjährung der Strafverfolgung mit Ablauf des 31. Mai 2001 eingetreten, also vor Einführung der Geltung der Ruhensbestimmung.

b) Im Fall 2.2 war Tatzeit im Zweifel zugunsten des Angeklagten der 1. Januar 1997. Deshalb ist Verjährung mit Ablauf des 31. Dezember 2002 eingetreten, somit ebenfalls vor Inkrafttreten der Erstreckung der Ruhensbestimmung auf den Tatbestand des § 174 StGB.

c) In den Fällen 2.3 und 2.4 ist die Tatzeit jeweils auf den 1. Juni 1998 zu veranschlagen, weshalb Verjährung mit Ablauf des 31. Mai 2003 eingetreten ist. Der ab 1. April 2004 geltende Ruhenstatbestand kann insoweit auch nicht eingreifen.

d) Im Fall 2.5 ist von einer Beendigung der Tat am 1. Juni 1999 auszugehen. Die Verjährung wäre danach mit Ablauf des 31. Mai 2004 eingetreten. Jedoch gilt rückwirkend die an dem 1. April 2004 in Kraft getretene Fassung des § 78b StGB mit der Folge des Ruhens der Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. Das Ruhen der Verjährung reichte daher bis zum 24. November 2005 und die Verjährung begann am 25. November 2005; sie endet mit Ablauf des 24. November 2010. Darauf kann sich die am 30. Juni 2013 in Kraft getretene Erweiterung der Dauer des Ruhens der Verjährung gemäß § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erstrecken.

e) Im Fall 2.6 ist von einer Tatzeit am 1. Januar 2000 auszugehen. Insoweit wäre mit Ablauf des 31. Dezember 2004 die Verjährung der Strafverfolgung eingetreten. Jedoch gilt rückwirkend die Regelung des Ruhens bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Soweit die Tat zum Nachteil von F. M. begangen wurde, endete die Verjährung mit Ablauf des 24. November 2010, soweit sie zum Nachteil von Fr. R. begangen wurde, mit Ablauf des 10. November 2011. Die ab dem 30. Juni 2013 geltende Erweiterung des Ruhens kann darauf jeweils nicht rückwirkend angewendet werden.

f) In den Fällen 2.7 und 2.8 ist zugunsten des Angeklagten von einer Beendigung der Taten am 1. Januar 1999 auszugehen. Die Verjährungsfrist endete dann mit Ablauf des 31. Dezember 2003. Die Fassung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wonach Verjährung auch in den Fällen des § 174 StGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ruht, trat erst am 1. April 2004 in Kraft und kann auch insoweit nicht rückwirkend eingreifen.

g) Im Fall 2.9 ist von einer Tatzeit am 1. Januar 1998 auszugehen. Verjährung der Strafverfolgung trat danach mit Ablauf des 31. Dezember 2002 ein. § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB gilt insoweit nicht.

III.

Im Übrigen führt die Revision aufgrund der Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. a) Das Landgericht ist den Angaben der Zeugin F. M. gefolgt, soweit es die sie betreffenden Taten oder die von ihr beobachtete Tat zum Nachteil ihrer Schwester betrifft. Dazu hat das Landgericht insgesamt drei Sachverständigengutachten eingeholt. Der aussagepsychologische Sachverständige Dipl. Psych. Do. war schon im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft beauftragt worden. Sein vorbereitendes schriftliches Gutachten zog die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin F. M. in Zweifel. Diese hatte schon während ihrer Exploration durch diesen Sachverständigen ein „ungutes Gefühl“; nach Kenntnisnahme vom Gutachten des Sachverständigen Do. war sie „entsetzt“. Auf Anregung der Nebenklagevertreterin holte die Staatsanwaltschaft daher ein Gutachten der Sachverständigen Dr. W. zur Frage der Erlebnisbasiertheit der Aussagen von F. M. und zur Methodenkritik an dem Gutachten des Sachverständigen Do. ein. In der Hauptverhandlung hat das Landgericht die beiden aussagepsychologischen Sachverständigen vernommen und außerdem ein Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen N. zur Frage der Aussagetüchtigkeit der Zeugin F. M. eingeholt.

Das Landgericht hat danach die Aussage der Zeugin F. M. als glaubhaft angesehen. Zwar wäre ein Motiv für eine Falschbelastung denkbar; denn ihre Schwester Fr. R. habe zeitweise ihre eigenen Vorwürfe gegen den Angeklagten zurückgenommen und F. M. der Lüge bezichtigt. Jedoch spreche die Tatsache, dass F. M. keine Absicht zur Anzeigeerstattung hatte, bis ihre Schwester Fr. sie dazu gedrängt habe, gegen eine bewusste Falschaussage. Es sei auch nicht festzustellen, dass vor der ersten Aussage der Zeugin F. M. bei der Polizei gravierende suggestive Bedingungen vorgelegen hätten. Erst später sei durch die Heilpraktikerin S., bei der sie therapeutische Hilfe gesucht habe, massiv auf sie eingewirkt worden, die sie u.a. veranlasst habe, gezielt nach Erinnerungen an „Abartigkeiten“ zu suchen, bis F. M. bewusst unwahre Geschichten erfunden habe: Davon habe sich die Zeugin F. M. aber in der Vernehmung glaubhaft distanziert.

Die Strafkammer ist den Ausführungen des Sachverständigen Do. nicht gefolgt, der die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin F. M. in Zweifel gezogen hat, sondern dem davon abweichenden Gutachten der Sachverständigen Dr. W. Danach seien die Angaben der Zeugin zum Kerngeschehen ausreichend konstant; Lücken und Abweichungen seien nachvollziehbar zu erklären.

Die Strafkammer hat sich auch davon überzeugt, dass die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat zum Nachteil beider Töchter zugleich (Fall 2.6 der Urteilsgründe) tatsächlich stattgefunden habe. Die Nebenklägerin habe die Angaben ihrer Schwester dazu zwar anfangs in Abrede gestellt und diese erst später bestätigt. Für die Richtigkeit dieser Tatschilderung spreche aber die letztlich erzielte Übereinstimmung der Aussagen beider Schwestern.

b) Die Strafkammer hat auch die Angaben der Zeugin Fr. R. für zutreffend erachtet. Der Sachverständige Dipl.-Psychologe Do. habe zwar auch zur Aussage dieser Zeugin keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür gesehen, ihr mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit einen Erlebnishintergrund zu attestieren. Aber im Ergebnis der Beweisaufnahme seien auch deren Angaben glaubhaft. Dafür spreche unter anderem die Tatsache, dass die Zeugin bereits im Jahr 2010 zu einer stationären Therapie eingewiesen worden sei, wo als Ursache ihrer Beschwerden ein sexueller Missbrauch zur Sprache gekommen sei. Der Vorwurf sei von ihr auch gegenüber den Zeuginnen B. und L. von der „J. GbR“ offenbart worden.

2. Diese Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Zu beanstanden ist zunächst ein Darstellungsmangel im Rahmen der Würdigung der Aussage von Fr. R. .

aa) Auch dazu hat der Sachverständige Do. ein Gutachten erstellt, zu dem das Urteil aber nur mitteilt, der Sachverständige habe Bedenken gegen die Erlebnisbasiertheit ihrer Angaben geäußert. Es erklärt nicht, worin die Bedenken des Sachverständigen bestanden haben und warum das Landgericht diesen im Ergebnis nicht gefolgt ist. Das ist rechtsfehlerhaft.

Es ist einem Tatgericht zwar nicht verwehrt, vom Gutachten eines Sachverständigen abzuweichen. Wenn es aber eine Frage, für die es geglaubt hat, des Rates eines Sachverständigen zu bedürfen, im Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, muss es die maßgeblichen Überlegungen des Sachverständigen wiedergeben und seine Gegenansicht unter Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass es mit Recht besseres Wissen in Anspruch nimmt (Senat, Beschluss vom 29. September 2016 - 2 StR 63/16, NStZ-RR 2017, 88, 89). Daran fehlt es hier.

bb) Trotz der von der Sachverständigen Dr. W. geäußerten Methodenkritik am Gutachten des Sachverständigen Do. war es erforderlich, den Inhalt auch des Gutachtens Do. im Urteil mitzuteilen. Denn der Hauptkritikpunkt der Sachverständigen Dr. W. - Überbewertung der Einflüsse der Heilpraktikerin S. auf die Zeugin F. M. durch den Sachverständigen Do. - betrifft nicht die Inhaltsanalyse der Zeugin Fr. R. .

cc) Da die Zeugin Fr. R. mit ihrer Strafanzeige das Verfahren insgesamt, auch im Hinblick auf den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil ihrer Schwester F. M., in Gang gebracht hat, betrifft ihre Zeugenaussage die „Geburtsstunde“ der Offenlegung von Missbrauchsvorwürfen gegen den Angeklagten, die für die Glaubhaftigkeitsbewertung von besonderer Bedeutung ist. Insoweit wirkt sich der Rechtsfehler mittelbar auch auf die Beurteilung der Aussagen von F. M. aus und erschüttert die Beweisgrundlagen des Urteils im Ganzen.

b) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist auch in weiteren Punkten rechtlich zu beanstanden.

aa) In den Fällen 2.1 und 2.6 der Urteilsgründe sind beide aussagepsychologische Sachverständige von der Möglichkeit der Beeinflussung des Aussageinhalts durch Falschinformationseffekte oder von der Eigenschaft als Pseudoerinnerungen ausgegangen. Bei dem dazu beschriebenen Geschehen handelt es sich aber nicht um im Auftrag der Heilpraktikerin S. erfundene „Abartigkeiten“, die von der Zeugin F. M. als bewusste Erfindungen bezeichnet wurden. Wenn Pseudoerinnerungen oder Erinnerungsverfälschungen durch „Falschinformationseffekte“ bei dieser Zeugin auch außerhalb des Bereichs der gezielten Erstellung erfundener Geschichten im Auftrag der Heilpraktikerin S. möglich sind und von der Zeugin selbst nicht als solche erkannt wurden, kann nicht vor allem aufgrund der Behauptung der Nebenklägerin, sie könne zwischen erfundenen Geschichten und real erlebten Ereignissen unterscheiden, auch eine Beeinflussung der Tatschilderung durch Suggestiveffekte ausgeschlossen werden. Pseudoerinnerungen können auch nicht ohne weiteres durch merkmalsorientierte Aussageninhaltsanalysen überprüft werden (vgl. Senat, Urteil vom 5. Juni 2014 - 2 StR 624/12, Rn. 23; Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14, NStZ 2016, 122, 123; Hohoff, NStZ 2020, 387, 389); denn scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie in realen Erlebnisbeschreibungen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 171 f.). Dies hat das Landgericht nicht erkennbar berücksichtigt und sich jedenfalls zu den Fällen 2.1 und 2.6 der Urteilsgründe mit den Bedenken der aussagepsychologischen Sachverständigen unter diesem Gesichtspunkt nicht auseinandergesetzt.

bb) Die Behauptung des Landgerichts, die Aussagen der Zeuginnen F. M. und Fr. R. seien hinreichend konstant, ist anhand der Urteilsgründe für den Senat nicht überprüfbar, denn ihre früheren Aussagen bei der Polizei werden dort nicht näher dargestellt. Stattdessen hat sich das Landgericht auf die tatfernere Aussage in der Hauptverhandlung konzentriert, bei der die Zeugin F. M. in zahlreichen Punkten Erinnerungslücken angegeben hat. Soweit das Landgericht einzelne Abweichungen herausgegriffen und mit Erklärungen versehen hat, ersetzt dies nicht die Darstellung von Aussagekonstanz, sondern eliminiert nur konkrete Zweifelsgründe. Die den Urteilsgründen zu entnehmenden Unterschiede in den Aussagen oder die in der Hauptverhandlung hervorgetretenen Erinnerungslücken lassen besorgen, dass tatsächlich nicht von Aussagekonstanz ausgegangen werden kann. Das wird besonders daran deutlich, dass zur ersten Tat zum Nachteil der Zeugin F. M. keine sichere Feststellung darüber getroffen werden konnte, ob der Angeklagte vaginal oder anal eingedrungen ist oder beide Tatvarianten erfüllt hat. Diese Unklarheit in Angaben der Zeugin F. M. zum Kerngeschehen der ersten Missbrauchstat durfte nicht ohne weiteres durch Anwendung des Zweifelssatzes dahin übergangen werden, dass „zugunsten“ des Angeklagten ausschließlich von Analverkehr auszugehen sei.

cc) Das Landgericht hat nicht geprüft, ob die Nebenklägerin vor der Exploration durch die Sachverständige Dr. W. und vor ihrer Zeugenaussage in der Hauptverhandlung das Gutachten des Sachverständigen Do. auch inhaltlich zur Kenntnis genommen hatte; das wäre angezeigt gewesen, denn sie war nach den Urteilsgründen zumindest vom Ergebnis des Gutachtens „entsetzt“. Hätte die als anwaltlich beratene Nebenklägerin am Verfahren beteiligte Zeugin ganz oder teilweise vom Inhalt des Gutachtens erfahren, so wäre sie gegebenenfalls in die Lage versetzt worden, beispielsweise mit der Behauptung von Erinnerungslücken oder mit neuen Erklärungsversuchen auf die Bedenken des Sachverständigen Do. gegen die Erlebnisbasiertheit ihrer Missbrauchsschilderungen zu reagieren. Tatsächlich hat sie in der Hauptverhandlung vielfach geltend gemacht, sie könne sich trotz Vorhalts nicht konkret an bestimmte Ereignisse erinnern, so etwa an die Anzahl der Fälle von angeblichen Missbrauchshandlungen im Schuppen auf dem elterlichen Anwesen, die sie früher mit mindestens zehn beziffert hatte. Entsprechendes gilt für ihre Angaben zur Entsorgung von Kondomen und Sperma, auch hinsichtlich der früheren Behauptung, sie habe Ejakulat mit der Hand aufgefangen, an eine Tatbegehung im Wohnwagen, als dieser unter dem Carport des elterlichen Anwesens stand, an einen angeblich von ihrer Schwester Fr. beobachteten Geschlechtsverkehr auf einer Hollywoodschaukel, an die bei polizeilichen Vernehmungen noch bestrittene Tatbegehung „zu dritt“ und an eine Tatbegehung in Anwesenheit der Zeugin G. Eine Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens des Sachverständigen Do. hätte die in der Urteilsdarstellung in den Vordergrund gerückte Aussage der Zeugin F. M. in der Hauptverhandlung gegebenenfalls stark entwertet (vgl. zur Aktenkenntnis vom Zeugen H., NStZ 2020, 387, 390). Auf diese nach den Umständen des vorliegenden Falles naheliegende Möglichkeit gehen die Urteilsgründe zu Unrecht nicht ein.

dd) Von größerer Beweisbedeutung wären vor diesem Hintergrund auch die Aussagen der Zeugin F. M. bei der Polizei, die das Landgericht aber im Urteil nicht geschlossen mitgeteilt hat. Das wäre deshalb angezeigt gewesen, weil die Vernehmungsbeamtin nach der Aussage der Zeugin Fr. R. „schnelle Antworten“ gewollt hatte. Der Sachverständige Do. hat an deren Vernehmung „geschlossene Fragen“, die den Antworttext enthalten hatten, beanstandet. Das Landgericht ist darüber mit der Bemerkung hinweggegangen, eine „unzulässige Beeinflussung“ der Zeugin habe nicht vorgelegen. Geschlossene Fragen sind zwar keine unzulässigen Maßnahmen (§ 136a, § 69 Abs. 3 StPO); sie haben aber Bedeutung für die Glaubhaftigkeitsbewertung, die bei der hier sehr komplexen Fallgestaltung besondere Sorgfalt erforderte. Den daraus folgenden besonderen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 704

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner