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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 593

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 90/20, Beschluss v. 07.04.2020, HRRS 2020 Nr. 593


BGH 3 StR 90/20 - Beschluss vom 7. April 2020 (LG Oldenburg)

Ruhen der Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Sexualstraftaten (keine teleologische Reduktion bei vorausgegangenen Ermittlungen wegen der Tat).

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Für das Ruhen der Verjährungsfrist nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist allein auf die Vollendung des 30. Lebensjahres des Tatopfers abzustellen, ohne dass es etwa darauf ankommt, ob die Tat bereits zuvor bekannt oder Gegenstand von Ermittlungsverfahren war. Soweit von Teilen des Schrifttums eine entsprechende teleologische Reduktion der Vorschrift befürwortet wird, ist dieser Auffassung nicht zu folgen.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 26. September 2019 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin M. im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen seine Verurteilung. Das Rechtsmittel ist unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat. Insofern bedarf allein der näheren Erörterung, dass das Verfahrenshindernis der Strafverfolgungsverjährung nicht besteht.

1. Nach den vom Landgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen übte der Angeklagte in der ersten Hälfte des Jahres 1993 mit der damals zwölfjährigen Nebenklägerin den Geschlechtsverkehr aus, nachdem er zuvor ihren Hals kräftig mit beiden Händen gewürgt und so ihren vorangegangenen Widerstand gebrochen hatte.

Ein im Jahr 1999 gegen ihn geführtes Ermittlungsverfahren wurde mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Anklage wurde erst im hiesigen Verfahren mit Anklageschrift vom 15. November 2018 erhoben.

2. Die Ahndung der Tat ist nicht wegen Verjährung gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Die Verjährungsfrist von zwanzig Jahren ruhte bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres der Geschädigten und ist seitdem, unabhängig von Unterbrechungen etwa durch Anklageerhebung, Eröffnung des Hauptverfahrens und Anberaumung der Hauptverhandlung (§ 78c Abs. 1 Satz 1 StGB), nicht abgelaufen.

a) Die Verjährungsfrist für die Tat beträgt nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB trotz Änderungen des § 177 StGB zwanzig Jahre; denn die Nötigung einer anderen Person mit Gewalt dazu, sexuelle Handlungen des Täters an sich zu dulden, ist sowohl nach dem zur Tatzeit geltenden § 177 Abs. 1 StGB als auch nach dem seit dem 10. November 2016 geltenden § 177 Abs. 5 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr und mithin gemäß § 38 Abs. 2 StGB im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren bedroht (vgl. zur Heranziehung der im Einzelfall günstigsten Regelung BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 3 StR 274/09, BGHSt 55, 11 Rn. 18 mwN).

b) Die Verjährungsfrist ruhte nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres der Geschädigten im Januar 2011.

aa) Die den Verjährungslauf betreffende Änderung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB mit Wirkung vom 27. Januar 2015 (Neunundvierzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 21. Januar 2015, BGBl. I S. 10, 11), die nunmehr auf die Vollendung des 30. Lebensjahres abstellt, findet für vor dem Inkrafttreten der Neuregelung begangene Taten Anwendung, wenn deren Verfolgung zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt ist (BT-Drucks. 18/2601 S. 23; s. auch BGH, Beschluss vom 30. August 2017 - 4 StR 255/17, NStZ 2019, 141; zur Verfassungsmäßigkeit einer Rückwirkung BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00, NJW 2000, 1554; BGH, Beschlüsse vom 7. März 2019 - 3 StR 192/18, NJW 2019, 1891 Rn. 41; vom 10. Mai 2016 - 1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336, 338). Dies ergibt sich nicht allein aus der ausdrücklichen Intention des Gesetzgebers, sondern ebenso aus der Regelungssystematik (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139 f.; LK/Schmidt, 12. Aufl., § 78b Rn. 1a; kritisch Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, S. 63 f.).

Die Verjährungsfrist von zwanzig Jahren war hier zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung noch nicht abgelaufen; somit gilt § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in der aktuellen Fassung.

bb) Für das Ruhen der Verjährungsfrist nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB ist entgegen der in der Revisionsbegründung vertretenen Ansicht allein auf die Vollendung des 30. Lebensjahres des Tatopfers abzustellen, ohne dass es etwa darauf ankommt, ob die Tat bereits zuvor bekannt oder Gegenstand von Ermittlungsverfahren war.

Zwar wird von Teilen des Schrifttums eine entsprechende teleologische Reduktion der Vorschrift befürwortet (vgl. LK/Schmidt, StGB, 12. Aufl., § 78b Rn. 1a; MüKoStGB/Mitsch, 3. Aufl., § 78b Rn. 7; NKStGB/Saliger, 5. Aufl., § 78b Rn. 8; Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 78b Rn. 3a; SSWStGB/Rosenau, 4. Aufl., § 78b Rn. 3; Satzger, Jura 2012, 433, 439; AnwKStGB/Asholt, 3. Aufl., § 78b Rn. 5). Allerdings ist dieser Auffassung nicht zu folgen (ebenso LG Arnsberg, Beschluss vom 13. Februar 2018 - 6 Qs 105/17, juris Rn. 20 ff.; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 78b Rn. 3b; SKStGB/Wolter, 9. Aufl., § 78b Rn. 5).

Der Gesetzestext stellt eindeutig allein auf die Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers ab. Bereits angesichts dieses klaren Wortlauts liegt eine davon abweichende Auslegung fern; denn Grenze einer Auslegungsmethode ist grundsätzlich der Wortlaut. Der etwaige Zweck der Gesetze muss einen Anhaltspunkt im Gesetzestext finden (BGH, Beschluss vom 15. November 2016 - 3 ARs 16/16, NStZ-RR 2017, 244, 246).

Darüber hinaus sprechen in systematischer Hinsicht die Gesichtspunkte der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, die gerade wegen der Bedeutung der Verjährung und ihres Ablaufs besonders in den Blick zu nehmen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Januar 2013 - 2 StR 510/12, BGHSt 58, 133 Rn. 6), dagegen, die Vorschrift einschränkend dahin auszulegen, dass die Verjährungsfrist entgegen dem Wortlaut ab Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden nicht - weiter - ruhen soll. Ansonsten stellten sich naheliegend regelmäßig bei einem solchen Kriterium, das in keiner Weise gesetzlich konturiert ist, einzelfallabhängige Fragen nach Art und Weise, Zeitpunkt sowie Nachweis der Kenntniserlangung.

Zudem hatte der Gesetzgeber sowohl bei der erstmaligen Einführung einer besonderen Vorschrift für das Ruhen der Verjährungsfrist bei Sexualdelikten als auch bei späteren Anhebungen der Altersgrenze nicht die Kenntnis der Ermittlungsbehörden, sondern die Perspektive der Opfer vor Augen, die zu der Entscheidung in der Lage sein sollen, ob sie eine Strafanzeige erstatten wollen (s. BT-Drucks. 12/2975 S. 4; 12/6980 S. 4; 17/6261 S. 23; 17/12735 S. 19; 18/2601 S. 14). Er ging ersichtlich davon aus, dass schwere Sexualdelikte mit einer Verjährungsfrist von zwanzig Jahren „frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren“ (BT-Drucks. 18/2601 S. 23). Mit dieser klaren Intention ist eine Einschränkung des Gesetzes, die bereits für die vorangegangenen Fassungen in der Literatur vertreten (etwa LK/Schmidt, StGB, 12. Aufl., § 78b Rn. 1a mwN), vom Gesetzgeber aber nicht aufgegriffen wurde, nicht vereinbar. Etwaige - teils durchaus nachvollziehbare - Bedenken an der geltenden Regelungssystematik (vgl. etwa Fischer, StGB, 67. Aufl., § 78b Rn. 3c f.) rechtfertigen eine teleologische Reduktion entgegen dem Gesetzeswortlaut ebenfalls nicht.

Eine mögliche Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden von Missbrauchsvorwürfen braucht im Übrigen - wie auch das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten im Jahr 1999 zeigt - nicht auf eine Strafanzeige des Opfers zurückzugehen. Bestehen anderweitige Anhaltspunkte für Straftaten, ist die geschädigte Person aber noch nicht bereit, hierzu Angaben zu machen, kann dies genau auf denjenigen Gründen beruhen, die den Gesetzgeber zur Einführung der Vorschrift veranlasst haben. Hierzu gehört insbesondere das Argument, dass nicht wenige Opfer „erst nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten - ggf. erst nach einer Therapie oder zumindest einem vollständigen Lösen aus einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter - in der Lage“ sind, „über das Geschehene zu sprechen und gegen den Täter vorzugehen“ (BT-Drucks. 18/2601 S. 14). Diese Erwägung des Gesetzgebers würde missachtet, wenn das Ruhen der Verjährung mit Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden vorzeitig enden sollte.

c) Aus den dargelegten Gründen kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, dass bereits nach der zur Tatzeit geltenden Fassung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, nach der die Verjährung bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des Opfers ruhte, die Verjährungsfrist aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts dargelegten Gründen nicht abgelaufen wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 593

Externe Fundstellen: StV 2021, 295

Bearbeiter: Christian Becker