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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 214/97, Urteil v. 24.07.1997, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 214/97 - Urteil vom 24. Juli 1997 (LG München II)

BGHSt 43, 171; Ladung eines Sachverständigen durch den Angeklagten (keine Einschränkung der Vorbereitung des Sachverständigen durch Untersuchungshaft); funktionaler Vollzug der Untersuchungshaft (Haftgründe).

§ 112 StPO; § 72 StPO; § 220 StPO; § 245 Abs. 2 StPO

Leitsatz

Kann der vom Angeklagten beauftragte Sachverständige ohne Beeinträchtigung der Arbeit des gerichtlich bestellten Sachverständigen und ohne Verzögerung der Hauptverhandlung sich vorbereiten, darf Untersuchungshaft einer solchen Vorbereitung nicht entgegenstehen. (BGHSt)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München II vom 22. November 1996 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge teilweise Erfolg. Ihr liegt folgendes zugrunde:

Nachdem ein von der Staatsanwaltschaft bereits im Ermittlungsverfahren eingeholtes psychiatrisches Gutachten zu dem Schluß gelangt war, vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse über die Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit lägen bei diesem keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vor, beauftragte der Angeklagte seinerseits über seinen Verteidiger eine psychiatrische Sachverständige damit, ein Gutachten über seine Schuldfähigkeit zu erstellen. Diese Sachverständige sollte zur späteren Hauptverhandlung gemäß § 220 StPO von der Verteidigung geladen und ihre Anhörung nach § 245 StPO beantragt werden. Um ihr die Exploration des in Haft befindlichen Angeklagten zu ermöglichen, beantragte der Verteidiger für sie Ende Oktober 1996 die Erteilung einer unbeschränkten Sprecherlaubnis. Diesen Antrag wies der Vorsitzende des Schwurgerichts insoweit zurück, als er lediglich einen Dauersprechschein mit einer Beschränkung auf eine jeweils 30minütige Sprechzeit erteilte.

Die dagegen gerichtete Beschwerde des Verteidigers wies das Oberlandesgericht München unter Bezugnahme auf die vorangegangene Nichtabhilfeentscheidung des Schwurgerichtsvorsitzenden zurück. Darin heißt es, wegen der gerichtsbekannt angespannten räumlichen und personellen Lage in der Justizvollzugsanstalt und der sich daraus ergebenden Grenzen für die Besuchsabwicklung könne ein Besuch ohne Einschränkungen nicht zugelassen werden. Da bereits ein umfangreiches Gutachten vorliege, gelte dies auch für die Besuche einer von der Verteidigung beauftragten Sachverständigen. Ihre wesentliche Aufgabe liege in der methodischen Überprüfung des zunächst tätig gewordenen Gutachters, diese sei bereits aufgrund der Aktenlage und ohne eigene Untersuchung des Angeklagten zu leisten. Schließlich dürfe die Zuziehung eines Sachverständigen durch die Verteidigung nicht das Auswahlrecht des Tatgerichts aushöhlen.

In der Folgezeit erklärte die beauftragte Sachverständige, sie sei nicht in der Lage, den Angeklagten aufgrund mehrerer nur 30minütiger Gespräche ausreichend zu explorieren und ein Gutachten zur Frage seiner Schuldfähigkeit zu erstatten. Deshalb verzichtete die Verteidigung - nachdem das Schwurgericht eingangs der Hauptverhandlung auch einen Aussetzungsantrag zum Zweck der Vorbereitung der Sachverständigen zurückgewiesen hatte - darauf, sie zu laden und ihre Anhörung zu beantragen.

a) Zu Recht beanstandet der Beschwerdeführer, sein Recht auf Ladung der Sachverständigen aus den §§ 220, 245 Abs. 2 StPO sei unzulässig beschränkt worden.

Freilich wäre - bei isolierter Betrachtung - nicht zu beanstanden, daß das Schwurgericht eine Aussetzung der Hauptverhandlung abgelehnt hat, denn ein von der Verteidigung vorgeladener Sachverständiger ist nur dann ein präsentes Beweismittel, wenn er in der Hauptverhandlung auf die Erstattung seines Gutachtens vorbereitet ist und auf dieser Grundlage unmittelbar zur Sache gehört werden kann (BGHSt 6, 289, 291; 23, 176, 183, 185; Widmaier StV 1985, 526, 528). Er muß sein Gutachten mithin aufgrund des Wissens erstatten, das er zum Zeitpunkt seiner Vernehmung bereits erworben hat. Das Gericht ist nicht gehalten, ihm während laufender Hauptverhandlung Gelegenheit zur Vorbereitung seines Gutachtens zu geben und dabei Verfahrensverzögerungen hinzunehmen (BGH NStZ 1993, 395, 397 = BGHR StPO § 245 Abs. 2 Beweismittel 1; Detter in Festschrift für Salger 1995 S. 231, 238 m.w.Nachw.). Ist hingegen eine Vorbereitung des Sachverständigen ohne Verzögerung der Hauptverhandlung möglich, so muß das Tatgericht diese gestatten (BGH aaO).

Daraus erwächst zunächst der Verteidigung, will sie in der Hauptverhandlung einen Gutachter präsentieren, die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, daß dieser rechtzeitig und ausreichend vorbereitet ist (Detter aaO, Widmaier aaO). Ein psychiatrischer oder psychologischer Sachverständiger wird sein Gutachten zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in aller Regel durch eine Exploration des Beschuldigten vorbereiten. Befindet sich dieser auf freiem Fuß, entstehen dabei keine Schwierigkeiten. Wird hingegen Untersuchungshaft vollzogen, so bedarf es der Mitwirkung des gemäß § 126 StPO zuständigen Richters, die normalerweise nicht verweigert werden kann (Detter aaO) und in einer den Erfordernissen angemessenen Besuchsregelung für den Sachverständigen bestehen sollte (Widmaier aaO). Der Richter hat dabei Bedacht darauf zu nehmen, daß die §§ 220, 245 Abs. 2 StPO dem Angeklagten unter den dort genannten Voraussetzungen einen Anspruch darauf geben, eigene Beweismittel in die Hauptverhandlung einzuführen. Im Falle eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen würde dieses Recht untergraben, wenn die allein aus den gesetzlichen Haftgründen nach §§ 112, 112 a StPO vollzogene Untersuchungshaft zur Verhinderung der Vorbereitung des Sachverständigen führen würde.

Eine Besuchsbeschränkung für den Sachverständigen regelt sich nach § 119 Abs. 3 StPO. Sie ist nur dann unproblematisch, wenn ausreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Besuch den im Haftbefehl herangezogenen Haftgründen zuwiderläuft (dazu Widmaier aaO). Werden dem Besuchswunsch des Sachverständigen Gründe entgegengehalten, die den ordnungsgemäßen Betrieb der Haftanstalt gewährleisten sollen, ist die Schwere der zu erwarteten Störung gegen die Bedeutung des Beweismittels für den Beschuldigten vom Richter sorgsam abzuwägen und - wegen der Überprüfbarkeit seiner Entscheidung nach § 336 Abs. 1 StPO - darzulegen. Bedenken könnten sich etwa ergeben, wenn zur Begutachtung Zusatzuntersuchungen erforderlich wären, die länger dauernde Ausführungen erforderlich machten, oder wenn die Besuche des Sachverständigen überwacht werden müßten.

b) Daran gemessen reicht die vom Vorsitzenden des Schwurgerichts in der Nichtabhilfeentscheidung vom 8. November 1996, auf die auch die Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts und der eingangs der Hauptverhandlung gefaßte Gerichtsbeschluß Bezug nehmen, nicht aus, um die zeitliche Einschränkung der Besuche auf jeweils 30 Minuten rechtsfehlerfrei zu begründen.

Der eher formelhafte Verweis auf Gründe der "gerichtsbekannten angespannten räumlichen wie personellen Lage der JVA" macht nicht deutlich, welche Hindernisse längeren Besuchen der Sachverständigen entgegengestanden hätten; eine Überwachung durch einen Vollzugsbeamten hatte der Vorsitzende Richter in dem von ihm erteilten Dauersprechschein selbst nicht für geboten erachtet. Die angeführten Gründe lassen vielmehr besorgen, das Gericht habe sich nicht darum bemüht, im Benehmen mit der Anstalt konkret zu erörtern, ob eine zeitlich angemessene Untersuchung des Angeklagten hätte ermöglicht werden können. Die an die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 4. März 1993 (BGH NStZ 1993, 395, 397 = BGHR StPO § 245 Abs. 2 Beweismittel 1) angelehnten Ausführungen zu der Frage, welche Aufgabe der von der Verteidigung hinzugezogenen Sachverständigen gestellt war und ob diese Aufgabe auch mittels kurzer Besuche zu erfüllen gewesen wäre, treffen den Vorgang nicht. In der genannten Entscheidung des Bundesgerichtshofs ging es darum, ob einem nach den §§ 220, 245 StPO geladenen Sachverständigen, auf dessen Vernehmung die Beweisaufnahme schon erstreckt war, mittels Aussetzung der Hauptverhandlung weitere Gelegenheit zur Vorbereitung seines Gutachtens gegeben werden müsse. Dabei konnte der Auftrag des Sachverständigen bereits am Beweisthema gemessen werden, zu dem er benannt war. Hierum ging es aber im vorliegenden Fall bei der Entscheidung über das Besuchsrecht noch nicht. Vielmehr sollte der Sachverständigen durch den Angeklagten noch vor der Hauptverhandlung das erforderliche Wissen vermittelt werden.

Zu diesem Zeitpunkt konnten von Seiten des Gerichts Gutachtenauftrag und Inhalt des später nach § 245 Abs. 2 Satz 1 StPO von der Verteidigung zu stellenden Beweisantrags noch nicht - wie geschehen - darauf beschränkt werden, lediglich das schon vorliegende Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen methodisch zu überprüfen. Für eine solche generelle Beschneidung der Aufgaben eines von der Verteidigung geladenen Sachverständigen gibt es keine Rechtsgrundlage. Sie läßt sich auch nicht aus dem alleinigen Recht des Gerichts ableiten, gerichtlich zu bestellende Sachverständige auszuwählen und deren Tätigkeit zu leiten. Diese in § 73 Abs. 1 Satz 1 und § 78 StPO geregelten Rechte beschränken sich auf diejenigen Sachverständigen, denen das Gericht kraft öffentlich-rechtlichen Auftrags eine besondere prozessuale Stellung einräumt, aus der das Recht auf unmittelbare Akteneinsicht, ferner auch Rechte gegenüber Dritten folgen, beispielsweise die Möglichkeit der Untersuchung von Zeugen oder die Einsicht in die Unterlagen anderer Gutachter (vgl. dazu Detter aaO S. 239). Das Recht des Angeklagten aus §§ 220, 245 StPO steht dazu nicht in Widerspruch, sofern dadurch nicht die Arbeit des gerichtlich bestellten Sachverständigen behindert wird. So war es hier aber nicht. Der Sachverständige Dr. S. hatte sein Gutachten bereits fertiggestellt, als die Sachverständige Dr. Z. beauftragt wurde; der Angeklagte hatte gegenüber Dr. S. bereitwillig Angaben gemacht. Die in den §§ 73 ff. StPO zum Ausdruck kommenden Grundsätze sind hier durch die Beauftragung einer privaten Sachverständigen nicht berührt.

Daß das Gesetz dem von der Verteidigung geladenen Gutachter nicht lediglich die Stellung eines weiteren Gutachters einräumt, ist daraus ersichtlich, daß der Beweisablehnungsgrund des § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO nicht in § 245 Abs. 2 StPO aufgenommen wurde.

c) Die Aufgabe des Sachverständigen war daher allein an dem von der Verteidigung beabsichtigten Beweisantrag zu messen. Der Revisionsrüge kann hier aber nicht entgegengehalten werden, daß die Sachverständige von der Verteidigung weder geladen noch ein auf ihre Anhörung gerichteter Beweisantrag gestellt worden ist. Die Sachverständige hat nachvollziehbar dargelegt, daß jeweils 30minütige Gespräche für eine ihr sachgerecht erscheinende Exploration des Angeklagten nicht ausreichend gewesen wären, so daß sie zur Erstattung eines Gutachtens über die Schuldfähigkeit des Angeklagten außerstande sei. Unter diesen, allein vom Gericht zu vertretenden Umständen wäre sie in der Hauptverhandlung auch nicht als präsentes Beweismittel anzusehen gewesen. Damit erübrigte sich hier ein Antrag auf Gutachtenerstattung. Daran ändert auch nichts, daß die Verteidigung in der Lage gewesen wäre, die Sachverständige zu einem anderen Beweisthema, nämlich der methodologischen Überprüfung des Erstgutachtens zu benennen.

d) Die unzureichend begründete Einschränkung des Besuchsrechts für die Sachverständige, die der Kontrolle durch das Revisionsgericht nach § 336 StPO unterliegt, hat das Selbstladungsrecht des Angeklagten aus §§ 220, 245 Abs. 2 StPO unwirksam gemacht und zugleich den in diesen Vorschriften verankerten Grundsatz der Waffengleichheit verletzt.

Auf dem aufgezeigten Rechtsfehler beruht der Schuldspruch des angefochtenen Urteils nicht. Die Sachverständige Dr. Z. hat in ihrer schriftlichen gutachtlichen Äußerung zwar auf die Möglichkeit einer perinatalen organischen Hirnschädigung beim Angeklagten hingewiesen, jedoch ebenso wie die bereits gehörten Sachverständigen eine völlige Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht zur Diskussion gestellt. Dagegen kann sich der Fehler auf den Strafausspruch ausgewirkt haben. Das Landgericht hat zwar aufgrund der Alkoholisierung des Angeklagten die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht. Sollte die Begutachtung durch die von der Verteidigung zugezogene Sachverständige weitere, auch organische Störungen des Angeklagten im Sinne der §§ 20, 21 StGB ergeben, könnte sich dieses jedoch in dem durch §§ 21, 49 Abs. 1 StGB bestimmten Strafrahmen zugunsten des Angeklagten auswirken. Das gilt schon deshalb, weil für den Täter schicksalhaft auftretende Störungen regelmäßig eher und dann gewichtiger Anlaß zur Strafmilderung geben können als ein selbstverschuldeter Rausch (vgl. BGH, Urt. v. 29. April 1997 - 1 StR 511/95 - zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).

2. Dagegen dringt die Sachrüge, mit der die Revision ausdrücklich nur die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes bei der Tat gegen G. K. angreift, nicht durch. Das Landgericht hat seine diesbezügliche Feststellung darauf gestützt, daß der Angeklagte die Frau massiv mit beiden Händen mindestens zwanzig Sekunden am Hals gewürgt und dabei ihren Kopf mehrfach mit großer Wucht auf den Fliesenboden geschleudert hat. Es hat dabei gesehen, daß der Angeklagte für die zahlreichen körperlichen Auseinandersetzungen, in die er in der Vergangenheit verwickelt war, eine besondere Kampftechnik in der Form des überraschend geführten Kopfstoßes oder des Aufschlagens des Kopfes des Gegners auf den Boden angewendet hat, ohne daß es dabei zu tödlichen Verletzungen gekommen wäre. Es hat jedoch den Angriff gegen G. K., eine zierliche und dem Angeklagten körperlich weit unterlegene Frau, anders eingestuft und dabei besonders auf das Würgen als äußerst gefährliche Mißhandlung und das wiederholte Aufschlagen des Kopfes auf den festen Untergrund abgestellt. Darin kann kein Rechtsfehler gesehen werden.

Externe Fundstellen: BGHSt 43, 171; NJW 1997, 3180; NStZ 1998, 93; StV 1997, 562; StV 1998, 174

Bearbeiter: Rocco Beck