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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 769

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 47/22, Urteil v. 02.06.2022, HRRS 2022 Nr. 769


BGH 1 StR 47/22 - Urteil vom 2. Juni 2022 (LG Landshut)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Ausschluss von Pseudo-Erinnerungen des vermeintlichen Tatopfers).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen setzt voraus, dass entweder (auto-)suggestive Einflüsse ausgeschlossen oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann.

2. Eine an Realkennzeichen orientierte Analyse ist bei Pseudoerinnerungen hingegen nicht veranlasst. Zwar handelt es sich hierbei grundsätzlich um ein wesentliches Kriterium zur Bestimmung der Aussagequalität. Scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie bei realen Erlebnisbeschreibungen; eine Inhaltsanalyse ist daher nicht geeignet, suggestive Einflüsse auszuschließen.

Entscheidungstenor

1. Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Landshut vom 7. Oktober 2021 wird verworfen.

2. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang durch Urteil vom 29. September 2015 vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in drei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Auf die Revision der Nebenklägerin hatte der Senat die Verurteilung wegen durchgreifender Rechtsfehler in der Beweiswürdigung aufgehoben (Urteil vom 16. Juni 2016 - 1 StR 50/16). Im zweiten Rechtsgang hatte das Landgericht den Angeklagten wegen der angeklagten Taten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Auch dieses Urteil hatte keinen Bestand; der Senat hatte es auf die Revision des Angeklagten wegen einer fehlerhaften Beweiswürdigung aufgehoben (Beschluss vom 18. September 2019 - 1 StR 217/19). Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wiederum aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Nebenklägerin, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat keinen Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten wird in der Anklageschrift zur Last gelegt, als Adoptivvater die am 22. August 1993 in K. geborene Nebenklägerin Z. in drei Fällen sexuell missbraucht und sich dadurch jeweils des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen, in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, schuldig gemacht zu haben. Die Anklage stützt sich auf folgende Tatvorwürfe:

a) Im Dezember 2007 sei der Angeklagte mit der damals vierzehnjährigen Nebenklägerin zu deren Großeltern nach H. gefahren. Die Mutter und die Geschwister der Nebenklägerin sollten nachkommen. Am Abend des Ankunftstages habe sich der Angeklagte ins Bett der Nebenklägerin gelegt und ihr gesagt, er wolle ihr etwas über ihre leibliche Mutter erzählen. Er habe sie dann zunächst über dem T-Shirt an Rücken und Po gestreichelt, bevor er unter ihr T-Shirt gegriffen und sie über Rücken, Po und Brust gestreichelt habe. Der Angeklagte habe die Nebenklägerin auch aufgefordert, ihn zu streicheln; sie sei aber schockiert gewesen und wie gelähmt liegen geblieben. Er habe dann ihre Schlafhose ausgezogen, sie an der Scheide gestreichelt und ihre Brüste geküsst. Auch habe er die Hand der Nebenklägerin über der Hose auf seinen erigierten Penis geführt. Schließlich habe der dann auf dem Rücken liegende Angeklagte die Nebenklägerin auf sich hinaufgezogen, um dann mit Bewegungen von unten an ihrem Geschlechtsteil zu reiben.

b) Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Februar 2008 habe der Angeklagte spät abends die Nebenklägerin in ihrem Zimmer im Dachgeschoss des Familienhauses in F. aufgesucht. Er habe die Nebenklägerin umarmt und sie dabei den Rücken herunter bis zum Po gestreichelt; sodann habe er seine Hand auf ihre Brust gelegt.

c) Zu einem ebenfalls nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt „um den“ 20. Mai 2008 sei der Angeklagte wiederum abends in das Zimmer der Nebenklägerin gekommen und habe sich zu ihr ins Bett gelegt. Er habe sie dann am ganzen Körper, auch zwischen den Beinen und an der Brust, gestreichelt. Die Nebenklägerin habe dieses Mal den Entschluss gefasst, sich zu wehren, ihren Körper anzuspannen und die Oberschenkel zusammenzudrücken. Als die Nebenklägerin der Aufforderung des Angeklagten, ihre Beine „auseinanderzumachen“, nicht nachgekommen sei, habe er ihre Beine mit der Hand auseinandergedrückt. Er habe dann in den Slip der Nebenklägerin gegriffen und ihr an das Geschlechtsteil gefasst. Der Angeklagte sei dabei mit einem Finger für einen Zeitraum von zehn bis 30 Sekunden in das Genital der Nebenklägerin eingedrungen. Hierbei habe die Nebenklägerin nicht unerhebliche Schmerzen verspürt. Sodann habe sich der Angeklagte, der seine Unterhose anbehalten habe, auf die Nebenklägerin gelegt und mit seinem Becken Auf- und Abbewegungen zwischen ihren Beinen vorgenommen, wodurch diese seine Erektion verspürt habe. Während er auf ihr gelegen habe, habe der Angeklagte versucht, sie zu küssen, was die Nebenklägerin durch Wegdrehen des Kopfes verhindert habe.

2. Zu diesen Tatvorwürfen hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

a) Es ist zwar nicht ausschließbar, dass der Angeklagte und die Nebenklägerin im September 2007 oder auch im Dezember 2007 die Großeltern besuchten. Weder bei der einen noch bei der anderen Gelegenheit nahm aber der Angeklagte die ihm zur Last liegenden Handlungen zum Nachteil der Nebenklägerin vor.

b) Ebenfalls ist nicht auszuschließen, dass sich der Angeklagte im Februar 2008 abends allein mit den Kindern in dem von der Familie bewohnten Haus befand. Auch hierbei nahm der Angeklagte die ihm insoweit vorgeworfenen Handlungen nicht vor.

c) Zu einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt brachte der Angeklagte die Nebenklägerin und deren Bruder ins Bett und setzte sich bei dieser Gelegenheit auf das Bett der Nebenklägerin, um mit ihr über ihre Kindheit in Afrika sowie ihre leibliche Mutter zu sprechen. Nicht ausschließbar legte er sich dazu neben ihr ins Bett, möglicherweise auch unter die Bettdecke. Als die Nebenklägerin jedoch auf das Gesprächsangebot nicht reagierte, verließ der Angeklagte das Kinderzimmer.

3. Das Landgericht hat den Angeklagten nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Es konnte sich auch nach einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände nicht mit der für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit die Überzeugung bilden, dass der Angeklagte die ihm von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift zur Last gelegten Taten begangen hat.

Der Angeklagte hat sämtliche Tatvorwürfe bestritten. Zum eigentlichen Tatgeschehen bestand eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Die Angaben der Nebenklägerin hat das Landgericht nicht für geeignet gehalten, sich die Überzeugung der Richtigkeit der gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwürfe zu verschaffen. Es ist dabei aufgrund eigener wertender Betrachtung der als Sachverständige gehörten Diplom-Psychologin L. gefolgt, die in ihrem aussagepsychologischen Gutachten zum Ergebnis gelangt ist, dass die Angaben der Nebenklägerin nicht mit der erforderlichen Sicherheit als erlebnisgestützt bewertet werden können. Hierbei hat das Landgericht im Wesentlichen darauf abgestellt, dass bereits die Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin nur mit Einschränkungen bejaht werden könne. Zudem bestünden „deutliche Anhaltspunkte“ für autosuggestive Prozesse bei der Nebenklägerin, sodass die Aussagevalidität nicht mehr als gewahrt angesehen werden könne. Auch die weitere Beweisaufnahme habe keine Hinweise dafür ergeben, dass der Angeklagte die ihm zur Last liegenden Taten begangen habe.

II.

Die Revision der Nebenklägerin hat keinen Erfolg; die den Freispruch tragende Beweiswürdigung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.

1. Die Beweiswürdigung ist dem Tatgericht vorbehalten (§ 261 StPO). Spricht es einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt nur, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die Ãœberzeugungsbildung gestellt hat. Ferner ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden oder sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, dass die einzelnen Beweisergebnisse in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden. Dabei hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Ãœberzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 20. Oktober 2021 - 1 StR 46/21 Rn. 6 und vom 21. November 2017 - 1 StR 261/17 Rn. 19).

2. Daran gemessen ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerfrei.

a) Die auf das Gutachten der Sachverständigen gestützte Annahme des Landgerichts, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Angaben der Nebenklägerin auf Pseudoerinnerungen beruhten, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt die sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen voraus, dass entweder (auto-)suggestive Einflüsse ausgeschlossen oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 15; Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 19). Beides hat das Landgericht tragfähig verneint.

aa) Die Annahme des Landgerichts, die Angaben der Nebenklägerin enthielten sowohl „deutliche Anhaltspunkte“ (UA S. 76) für ein „Wiedererinnern“ als auch für gedächtnispsychologisch nicht erklärbare Erinnerungen, in deren Folge autosuggestive Prozesse bei der Nebenklägerin nicht auszuschließen seien, hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.

(1) Das Landgericht stützt sich vor allem auf die Aussageentwicklung hinsichtlich des Falles 3 der Anklage, die einen für Pseudoerinnerungen typischen Verlauf aufweise: Die Nebenklägerin schilderte erstmals im Rahmen der ermittlungsrichterlichen Vernehmung ein Eindringen des Angeklagten. Später gab sie hierzu an, diesen Umstand bei Anzeigeerstattung „nicht mehr so deutlich in Erinnerung gehabt“ zu haben. Erst nachdem sie sich „noch weiter Gedanken darüber gemacht“ habe, habe sie sich detailliert erinnern können. Auch der Umstand, dass die Nebenklägerin erstmals gegenüber der Sachverständigen angab, nunmehr verschiedene Äußerungen des Angeklagten, die er während des Übergriffes getätigt habe, im Wortlaut wiedergeben zu können, wertet das Landgericht als Hinweis für autosuggestive Ergänzungen oder Überformungen ihrer Angaben. Dies ist nicht zu beanstanden.

(2) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht zudem den Umstand, dass die Nebenklägerin abweichend von vorherigen Aussagen erstmals im Rahmen der Exploration durch die Sachverständige angab, sich nunmehr auch an vermeintliche Übergriffe im Kleinkindalter sowie an weitere konkrete Vorfälle erinnern zu können, als Indiz für autosuggestive Prozesse gewertet (UA S. 78 f.). Problematisch sei vor diesem Hintergrund auch die Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin, die nur mit Einschränkungen bejaht werden könne. Da ihre Gedächtnisspanne das Kleinkindalter nicht abdecke, bestehe auch insoweit ein „starkes Indiz“ dafür, dass es sich insoweit um Pseudoerinnerungen handele. Der Zeitraum, in dem sich die verfahrensgegenständlichen Taten ereignet haben sollen, sei zwar von ihrer Gedächtnisspanne umfasst; dennoch bestünden angesichts ihrer Angaben im Rahmen der Exploration Bedenken im Hinblick auf das „Quellenidentifikationsvermögen“ und die „Realitätsüberwachung“ der Nebenklägerin. Ihre Schilderung zu Erinnerungsprozessen, bei denen sie „innere Bilder“ als Erinnerung an vermeintliche Erfahrungen mit dem Angeklagten eingeordnet habe, entspreche zudem nicht den gedächtnispsychologischen Gesetzmäßigkeiten. Es sei daher zu besorgen, dass die Nebenklägerin nichtrealitätsbegründete innere Bilder nicht ausreichend von tatsächlichem Erinnern unterscheiden könne.

(3) Vor diesem Hintergrund begegnet auch die Schlussfolgerung des Landgerichts, nicht nur die von der Nebenklägerin während des Verfahrens geschilderten Vorfälle im Kleinkindalter und die Angaben zu Fall 3 der Anklage, sondern sämtliche Angaben der Nebenklägerin könnten nicht mit der erforderlichen Sicherheit als erlebnisbasiert bewertet werden, keinen rechtlichen Bedenken.

bb) Auch unter Berücksichtigung weiterer Beweismittel konnte sich das Landgericht nicht von der Richtigkeit der Angaben der Nebenklägerin überzeugen. Soweit das Landgericht der Frage, ob die Angaben der Schwestern der Nebenklägerin über selbst erlittene sexuelle Ãœbergriffe durch den Angeklagten, die diese außerhalb der Hauptverhandlung getätigt hatten, belastbar sind oder ähnlichen (suggestiven) Entstehungsprozessen unterlagen, nicht nachgegangen ist, ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das aufgrund der Angaben der Schwestern eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wurde mangels Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt (Beschluss vom 18. September 2019 - 1 StR 217/19 Rn. 6). Vor diesem Hintergrund erschließt sich schon nicht, inwieweit die Angaben der Schwestern, die sich - worauf auch die Revision hinweist - in dem vorliegenden Verfahren zudem auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen haben, geeignet sein sollen, die Bedenken des Landgerichts hinsichtlich der Angaben der Nebenklägerin zu überwinden.

b) Entgegen der Auffassung der Revision begegnet auch der Umstand, dass das Landgericht die Aussage der Nebenklägerin keiner an Realkennzeichen orientierten Analyse unterzogen hat, keinen rechtlichen Bedenken. Zwar handelt es sich hierbei grundsätzlich um ein wesentliches Kriterium zur Bestimmung der Aussagequalität (vgl. nur BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 Rn. 18 ff.). Wenn es sich jedoch - wie hier - um Pseudoerinnerungen handelt, ist eine merkmalsorientierte Aussageanalyse nicht veranlasst, da scheinbare Realkennzeichen bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen sind wie bei realen Erlebnisbeschreibungen; eine Inhaltsanalyse ist daher nicht geeignet, suggestive Einflüsse auszuschließen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 16 und vom 15. April 2021 - 2 StR 69/21 Rn. 18; Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 19; Köhnken, in: Müller/Schlothauer/Knauer, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 3. Auflage, § 60 Rn. 26; Volbert, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Jahresband 2020, S. 79, 96).

c) Schließlich hat das Landgericht eine revisionsrechtlich nicht zu beanstandende Gesamtwürdigung der für und gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände vorgenommen. Dabei hat es auch keine überspannten Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 769

Bearbeiter: Christoph Henckel