hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 364

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 464/21, Beschluss v. 13.01.2022, HRRS 2022 Nr. 364


BGH 1 StR 464/21 - Beschluss vom 13. Januar 2022 (LG Heidelberg)

Schuldunfähigkeit (erforderliche Unterscheidung zwischen Einschränkung der Einsichts- oder der Steuerungsfähigkeit); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Einordnung der zu erwartenden Straftaten als erheblich, erforderliche Gesamtbetrachtung).

§ 20 StGB; § 63 Satz 1 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 9. August 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen mit der Sachrüge geführte Revision hat Erfolg.

I.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen leidet die Beschuldigte seit spätestens 2002 an einer mit optischen und leiblichen Halluzinationen und Ich-Störungen verbundenen paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie (ICD-10: F20.0) in Ausprägung eines Liebesund Abstammungswahns. Aufgrund einer zunehmend dynamischen Entwicklung dieser Erkrankung geriet die Beschuldigte seit 2018 vielfach mit in ihr Wahnerleben einbezogenen Personen in Konflikt, was zahlreiche Anzeigen wegen Beleidigung, Bedrohung, Sachbeschädigung und Nachstellung gegen sie zur Folge hatte. Von einer Verfolgung der meisten dieser Taten hat die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf dieses Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO abgesehen.

Im Zustand aufgehobener Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (UA S. 9 und S. 19, vgl. auch S. 21) beging die Beschuldigte folgende Taten:

1. Im Zeitraum zwischen Mitte August und 1. November 2020 riss die Beschuldigte auf dem Vereinsgelände des örtlichen Bogenschützenvereins in drei Fällen dort für Schießübungen aufgestellte Tierfiguren, Pfeilfangeinrichtungen und eine Zielscheibe aus der Verankerung, wodurch diese beschädigt wurden und jeweils ein Sachschaden zwischen 100 und ca. 200 € entstand. Dabei ging sie jeweils aufgrund ihres Abstammungswahns davon aus, dass sie Besitz- und Entschädigungsansprüche hinsichtlich des Vereinsgeländes habe und über dessen Verwendung mitentscheiden dürfe. Durch die Tierfiguren sah sie sich zudem gestört, weil sie diese beziehungsweise das auf dem Gelände gestattete Beschießen der Figuren für gemeingefährlich hielt. Im Oktober 2020 brach sie zudem einen Metallspind auf dem Vereinsgelände auf und entwendete unter anderem mehrere Pfeile (Fälle II. 1. bis 3. der Urteilsgründe).

2. Am 2. November 2020 bespritzte die Beschuldigte die Haustür, die Hauswand und den Briefkasten des Anwesens ihrer früheren Psychotherapeutin und deren Ehemannes mit roter Flüssigkeit, die nur schwer zu entfernen war (Sachschaden ca. 600 €). Dabei handelte sie in der wahnhaften Vorstellung, hierdurch die Geschädigte dazu veranlassen zu können, ihr die Wahrheit über die rund 20 Jahre zurückliegende psychotherapeutische Behandlung durch diese zu offenbaren (Fall II. 4. der Urteilsgründe).

3. Am 3. Dezember 2020 begab sich die Beschuldigte zum Anwesen der 87-jährigen R., auf deren Sohn U. sich ihr Liebeswahn bezog, und klingelte an der Haustür. Nachdem sich die Beschuldigte trotz Aufforderung der R. nicht vom Grundstück entfernen wollte, rief R. ihren Sohn herbei, der sich zu der Beschuldigten unmittelbar vor die Hauseingangstreppe begab und diese ebenfalls mehrfach eindringlich aufforderte, das Anwesen zu verlassen. Da die Beschuldigte dem wiederum nicht nachkam, gab U. der Beschuldigten zu verstehen, er werde nun die Polizei rufen. Er wandte sich von der Beschuldigten ab, um wieder ins Haus zu gehen. In diesem Augenblick ergriff die Beschuldigte, die ca. einen Meter entfernt von U. stand, einen Pflasterstein von zehn cm Breite, 20 cm Länge und ca. zwei Kilogramm Gewicht und holte zum Schlag aus, um U. hiermit zu verletzen. Dies bemerkte U. aus dem Augenwinkel und kam dem bevorstehenden Angriff mit einem in Verteidigungsabsicht geführten Fußtritt gegen den Oberschenkel beziehungsweise die Hüfte der Beschuldigten zuvor. Diese fiel um und ließ den Pflasterstein fallen. Am Boden liegend hatte die Beschuldigte eine Nagelschere in der Hand. Die Beschuldigte erkannte, dass ihr Vorhaben gescheitert war, und ergriff die Flucht (Fall II. 5. der Urteilsgründe).

II.

Das Urteil hält der auf die Sachrüge veranlassten revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Es fehlt bereits an rechtsfehlerfreien Feststellungen zu einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann für die Anwendung der §§ 20, 21 StGB regelmäßig nicht offen bleiben, ob die psychische Störung die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten vermindert oder aufgehoben hat; für die Feststellung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB muss deshalb grundsätzlich zwischen Einschränkungen der Einsichts- und solchen der Steuerungsfähigkeit unterschieden werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Oktober 2016 - 3 StR 351/16 Rn. 6 und vom 8. April 2003 - 3 StR 79/03 Rn. 9; je mwN).

b) Dem tragen Feststellungen und Beweiswürdigung des Landgerichts nicht Rechnung, weil das Landgericht jeweils auf die „aufgehobene Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ der Beschuldigten bei den einzelnen Taten abhebt (UA S. 9 und S. 19, vgl. auch S. 21) und hieraus nicht deutlich wird, ob die Beschuldigte bei Begehung der Taten bereits ohne Einsicht in das Unrecht ihres Tuns handelte oder ob deren Steuerungsfähigkeit aufgehoben war.

2. Auch die dem Tatgeschehen im Fall II. 5. der Urteilsgründe zugrunde liegenden Feststellungen und die Beweiswürdigung begegnen durchgreifenden Bedenken.

a) Bereits die Feststellungen zu einem bevorstehenden Angriff der Beschuldigten bleiben sehr vage; ob insoweit überhaupt bereits von einem strafrechtlich relevanten Ansetzen zur Tatausführung durch die Beschuldigte auszugehen wäre (§ 22 StGB), lässt sich auch dem Gesamtzusammenhang des Urteils nicht verlässlich entnehmen.

b) Die Feststellung, die Beschuldigte habe einen Pflasterstein ergriffen und hiermit ausgeholt, um den bereits zum Gehen abgewandten Zeugen U. hiermit zu schlagen, stützt die Strafkammer allein auf die Aussage des Zeugen. Da die im Ãœbrigen geständige Beschuldigte einen vorherigen tätlichen Angriff des U. auf sie behauptet und das Ergreifen des Steines als Verteidigungshandlung dargestellt hat, handelt es sich insoweit um eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, weshalb es einer besonders sorgfältigen Würdigung aller hierfür bedeutsamen Umstände bedurft hätte (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. August 2021 - 1 StR 162/21 Rn. 6 mwN). Hieran fehlt es indes.

Insbesondere hat das Landgericht nicht in seine Würdigung eingestellt, dass der Zeuge U. ein erhebliches Eigeninteresse daran hatte, das Geschehen in dem von ihm vorgebrachten Sinne darzustellen, um der Gefahr einer eigenen Strafverfolgung wegen Körperverletzung zu begegnen. Für die gebotene sorgfältige Gesamtwürdigung wären daneben auch die zeitlichen Abläufe des Geschehens genau in den Blick zu nehmen gewesen. Denn es erschließt sich nicht von selbst, wie die 66-jährige Beschuldigte in der Zeit, in der sich der Zeuge von ihr abgewandt haben will, um ins Haus zurückzugehen, einen immerhin zwei Kilogramm schweren und mit einer Länge von 20 cm und einer Breite von zehn cm unhandlichen Pflasterstein ergriffen und damit zum Schlag ausgeholt haben könnte, ohne dass der nur ca. einen Meter entfernte Zeuge dies genauer mitbekommen haben müsste. Dass die Beschuldigte bislang nicht durch Gewalt gegen Personen aufgefallen ist, hat die Strafkammer ebenfalls nicht in ihre Erwägungen aufgenommen.

3. In Anbetracht der nur rudimentären Feststellungen des Landgerichts zum Tatgeschehen im Fall II. 5. der Urteilsgründe hält auch dessen Annahme, es habe sich hierbei um eine erhebliche Straftat im Sinne des § 63 Satz 1 StGB gehandelt, revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht Stand. Gleiches gilt für die auf dieser Grundlage vom Landgericht getroffene Gefährlichkeitsprognose.

a) Die Einordnung der Anlasstat im Fall II. 5. der Urteilsgründe als erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB ist nicht von den Feststellungen getragen.

aa) Eine Straftat ist nur dann von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2021 - 4 StR 300/20 Rn. 13). Dabei ist keine verallgemeinernde, nur am jeweiligen Deliktstyp orientierte Betrachtungsweise maßgeblich, sondern vielmehr eine Gesamtbetrachtung des konkreten Tatgeschehens im Einzelfall (vgl. z.B. BGH, Beschlüsse vom 23. Mai 2018 - 2 StR 121/18 Rn. 14 mwN und vom 10. August 2010 - 3 StR 268/10).

bb) An einer solchen feststellungsbasierten Gesamtbetrachtung fehlt es. Soweit das Landgericht die Erheblichkeit der Tat damit zu begründen versucht, dass ein Schlag mit einem Pflasterstein grundsätzlich geeignet sei, schwere, wenn nicht sogar lebensgefährliche Verletzungen zu verursachen, und es im konkreten Fall allein dem Zufall beziehungsweise dem geschickten Ausweichen und der beherzten Gegenwehr des Zeugen U. geschuldet gewesen sei, dass derartige Verletzungen ausgeblieben seien, ist dies wiederum nicht von einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung getragen. Denn den diesbezüglichen Ausführungen lässt sich nicht entnehmen, welche Dynamik das Geschehen hatte, wie das Größen- und Kräfteverhältnis der Beschuldigten und des Geschädigten war und auf welche Körperregion des Geschädigten die Beschuldigte gezielt haben könnte.

b) Auch im Übrigen hat die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts keinen Bestand.

aa) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur dann in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 Rn. 15 mwN). Die notwendige Gefährlichkeitsprognose ist dabei auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Betroffenen infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 8. September 2021 - 1 StR 275/21 Rn. 7 und vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20 Rn. 7 mwN). Der Tatrichter muss konkrete Anhaltspunkte benennen, die die Erwartung künftiger Straftaten in ihrer jeweils für ausreichend wahrscheinlich gehaltenen Handlungsmodalität begründen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. September 2021 aaO und vom 16. Juni 2014 - 4 StR 111/14 Rn. 16). Der Umstand, dass ein Täter trotz eines psychischen Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten sein (vgl. BGH, Urteile vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20 Rn. 15; vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14 Rn. 20 und vom 28. August 2012 - 5 StR 295/12 Rn. 9; Beschlüsse vom 8. September 2021 aaO; vom 23. Juni 2021 - 2 StR 81/21 Rn. 19; vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 317/20 Rn. 8 und vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19 Rn. 5).

bb) Diesen Anforderungen wird die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts nicht gerecht. Sie hat bereits deshalb keinen Bestand, weil die Anlasstat im Fall II. 5. der Urteilsgründe, an die das Landgericht für die Gefährlichkeit der Beschuldigten vorrangig anknüpft, nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist. Ungeachtet dessen begegnet die Prognose aber auch deshalb durchgreifenden Bedenken, weil sich das Landgericht im Wesentlichen darauf beschränkt hat, auf den zunehmend an Dynamik und Wirkmacht gewinnenden Krankheitsverlauf, die damit einhergehende Zunahme an Konflikten der Beschuldigten mit ihren Mitmenschen, die sich deshalb häufenden Strafanzeigen von Taten geringeren Gewichts (insbesondere Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Nachstellungen) und die fehlende Krankheitseinsicht der Beschuldigten zu verweisen.

Demgegenüber fehlt es an einer tragfähigen Begründung dazu, dass deshalb auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die bislang nicht fremdaggressiv auffällig gewordene Beschuldigte auch künftig Gewalt gegen Personen verübe oder andere Straftaten von erheblichem Gewicht begehe. Soweit die Strafkammer unter Hinweis auf den psychiatrischen Sachverständigen ausgeführt hat, es spreche nicht gegen die Gefährlichkeitsprognose und sei kein Beleg für die Ungefährlichkeit der Beschuldigten, dass diese bislang nicht mit fremdaggressiven Verhaltensweisen auffällig geworden sei (UA S. 25), ist bereits zu besorgen, dass sie mit Blick auf die zu fordernden Wahrscheinlichkeiten von einem unrichtigen Maßstab ausgegangen ist. Warum allein wegen eines singulär gebliebenen fremdaggressiven, mit Gewalt gegen eine Person verbundenen Vorfalls und eines zunehmend dynamischen Krankheitsverlaufs künftig erhebliche Straftaten von der Beschuldigten zu erwarten sein könnten, wird nicht nachvollziehbar begründet.

4. Die Feststellungen sind von den Rechtsfehlern betroffen und haben daher ebenfalls keinen Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 364

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede