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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 769

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 111/21, Beschluss v. 02.06.2021, HRRS 2021 Nr. 769


BGH 1 StR 111/21 - Beschluss vom 2. Juni 2021 (LG Stuttgart)

Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung.

§ 66b Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 StGB aF; Art. 316e EGStGB; Art. 316f EGStGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 17. September 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision beanstandet der Verurteilte die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Der zu diesem Zeitpunkt nicht vorbestrafte Verurteilte war vom Landgericht Stuttgart mit Urteil vom 11. Juli 2007 wegen eines am 2. Januar 2007 begangenen Totschlags zum Nachteil seiner Mutter zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt worden. Die Strafvollstreckung war am 1. Januar 2020 erledigt. Der Betroffene ist seit dem 2. Januar 2020 vorläufig aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Landgerichts Stuttgart gemäß § 275a Abs. 6 StPO untergebracht.

2. Das Landgericht hat für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in dem hier vorliegenden Altfall § 66b Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl. I S. 513) angewendet. Es hat die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 2 StGB aF als erfüllt angesehen und - gestützt auf die Gutachten von zwei psychiatrischen Sachverständigen - wie schon bei der Anlassverurteilung angenommen, bei dem Verurteilten liege eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden, narzisstischen, emotionalinstabilen und sensitivparanoiden Störungsanteilen vor, die als schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB zu qualifizieren sei. Zudem seien - im Sinne von § 66b Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 StGB aF - nach der Verurteilung Tatsachen erkennbar geworden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinwiesen. Die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergebe, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden.

II.

Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand. Das Landgericht hat seiner Entscheidung einen unzutreffenden rechtlichen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt.

1. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung richtet sich für vor dem 1. Januar 2011 begangene Taten sowohl materiellrechtlich als auch verfahrensrechtlich nach den Vorschriften in den bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassungen. Die Weitergeltung der vorgenannten Normen für Taten, die vor dem 1. Januar 2011 begangen wurden, ergibt sich aus den Übergangsvorschriften in Art. 316f EGStGB, eingeführt durch Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2425), und in Art. 316e EGStGB (Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010, BGBl. I S. 2300).

a) Für Anlasstaten, die - wie hier - vor dem 1. Juni 2013 begangen wurden, ordnet Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB grundsätzlich die Anwendung der bis zum 31. Mai 2013 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung an. Zu diesen zählt nach dem Willen des Gesetzgebers auch die Übergangsvorschrift des Art. 316e EGStGB (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - 4 StR 486/19 Rn. 9 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung für das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung, BT-Drucks. 17/9874, S. 41/42 sowie die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 17/11388, S. 24/25). Die Regelung in Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB wiederum sieht vor, dass für Anlasstaten, die vor dem 1. Januar 2011 begangen wurden, grundsätzlich das bisherige Recht vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010 anzuwenden ist. Ungeachtet der systematischen Stellung dieser Übergangsvorschriften im Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch beziehen sie sich nicht nur auf das materielle Recht, sondern auch auf die daran anknüpfenden verfahrensrechtlichen Regelungen im allgemeinen Strafprozessrecht (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - 4 StR 486/19 Rn. 10 mwN).

b) Betrifft also ein Verfahren eine Tat, die - wie hier - vor dem 1. Januar 2011 begangen wurde, ist weiterhin die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Fassung aller materiellrechtlichen und prozessualen Vorschriften über die Sicherungsverwahrung anzuwenden, vorbehaltlich der Modifikationen in Art. 316f Abs. 2 und 3 EGStGB (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2013 - 1 StR 48/13, BGHSt 58, 292 Rn. 20 ff.; Beschluss vom 7. August 2013 - 1 StR 246/13 Rn. 4; Urteile vom 24. Oktober 2013 - 4 StR 124/13, BGHSt 59, 56 Rn. 14 f. und vom 8. Juni 2016 - 2 StR 88/16 Rn. 14 f.; Beschluss vom 30. Juli 2020 - 4 StR 486/19 Rn. 11).

2. Diesen rechtlichen Maßstab hat die Schwurgerichtskammer nicht erkennbar zugrunde gelegt. Der Senat besorgt vielmehr, dass das Landgericht übersehen hat, dass in einem Altfall, wie er vorliegend zur Entscheidung anstand, gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 2, Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB die nachträgliche Anordnung nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist.

Dabei setzt Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, 1931; BGBl. I S. 1003) um, wonach eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nur zulässig ist, wenn die hochgradige Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (vgl. BVerfG NJW 2011, 1931, 1944; zusammenfassend BVerfGE 131, 268; BGH, Urteil vom 11. August 2016 - 2 StR 4/16 Rn. 17). Der restriktive Begriff der hochgradigen Gefahr dient dazu, eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zu gewährleisten. Demselben Ziel dient auch die Vorgabe, dass diese Gefahr aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Denn diese Forderung zwingt das Gericht zu einer äußerst sorgfältigen, auf konkrete Tatsachen gestützten Bewertung und Begründung. Entscheidend für die Gesamtwürdigung muss sein, die Wahrscheinlichkeit und die Schwere der drohenden Straftaten so aufeinander zu beziehen, dass die nachträgliche Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf die prekärsten Fälle begrenzt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2017 - 5 StR 86/17 Rn. 5; SSW-StGB/Harrendorf, 5. Aufl., § 66b Rn. 24).

a) Das Landgericht hat eingangs der Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung als Prüfungsmaßstab allein auf die Vorschrift des § 66b Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 StGB aF verwiesen und auf das Erfordernis einer hohen Wahrscheinlichkeit der Begehung erheblicher Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, abgehoben (UA S. 67). Auch in der Liste der angewendeten Vorschriften findet Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB keine Erwähnung.

Der Senat vermag auch nicht aus dem Umstand, dass die Schwurgerichtskammer bei der Darstellung der Ausführungen des Sachverständigen W. zur Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose dargelegt hat, dass dieser zu dem Ergebnis gelangt sei, bei dem Verurteilten sei gegenwärtig eine ungünstige Gefährlichkeitsprognose mit einem hochgradigen Risiko für die Begehung künftiger schwerster Gewaltstraftaten auch mit Sexualbezug bis hin zu einer Tötung insbesondere in Krisen- und Überforderungssituationen anzunehmen (UA S. 79), darauf zu schließen, dass das Schwurgericht den zutreffenden Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt hat. Denn bei der abschließenden Zusammenfassung der Angaben dieses Sachverständigen wird wiederum auf die hohe Besorgnis künftiger schwerster Gewaltstraftaten abgestellt (UA S. 82).

Dass das Landgericht als Ergebnis seiner - in der Sache tatsächlich nicht vorgenommenen - Gesamtwürdigung zur Gefährlichkeitsprognose mitteilt, es bestehe die hochgradige Gefahr künftiger schwerster Gewaltstraftaten bis hin zu einem erneuten Tötungsdelikt (UA S. 84), vermag die Besorgnis des Senats, die Schwurgerichtskammer habe einen unzutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt, nicht auszuräumen. Dies gilt besonders auch vor dem Hintergrund, dass das Landgericht im Rahmen der Darstellung und Würdigung der nach der Anlassverurteilung zu Tage getretenen neuen Tatsachen lediglich von einer erheblichen Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit spricht (UA S. 91).

b) Es kommt hinzu, dass das Schwurgericht hinsichtlich der Beurteilung der Kriminal- und Gefährlichkeitsprognose von einer übereinstimmenden Einschätzung der beiden psychiatrischen Sachverständigen ausgeht, obgleich der Sachverständige S. ausweislich der Urteilsgründe wegen der immensen Wirkmacht und Persistenz der Störung (lediglich) von einer ungünstigen Behandlungs-, Sozial- und Kriminalprognose ausgegangen ist (UA S. 82 ff., 84).

c) Schließlich fehlt es vollständig an einer Ermessensausübung der Strafkammer, die zudem erkennen lassen würde, dass sich das Landgericht der besonderen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anordnung der Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung einschließlich des Erfordernisses einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung und des Umstandes, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung auf die prekärsten Fälle zu begrenzen ist, bewusst gewesen wäre.

3. Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung der zugrunde liegenden Feststellungen, da der Senat nicht ausschließen kann, dass die Feststellungen von dem rechtlich fehlerhaft gewählten Maßstab betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Sollte das Landgericht zur Überzeugung kommen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach den oben genannten Maßstäben vorliegen, wird es bei der dann erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung die bisherigen Therapieangebote auch unter dem Gesichtspunkt der in § 66c Abs. 2, § 67c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu Tage tretenden Wertung des Gesetzgebers zu würdigen haben (vgl. hierzu auch Art. 316f Abs. 3 Satz 1 EGStGB).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 769

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 280; StV 2022, 305

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede