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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 811

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 88/16, Urteil v. 08.06.2016, HRRS 2016 Nr. 811


BGH 2 StR 88/16 - Urteil vom 8. Juni 2016 (LG Gera)

Statthaftes Rechtsmittel (Bestimmung nach der verfahrensrechtlich zulässigen Entscheidung; hier: Rechtsmittel gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung).

§ 333 StPO; § 300 StPO; § 66 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur aufgrund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (vgl. BGHSt 50, 180, 186).

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen den „Beschluss“ des Landgerichts Gera vom 20. August 2015 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe

Das Landgericht Gera - 2. Strafkammer - hatte mit Urteil vom 1. Dezember 2003 den Verurteilten wegen Vergewaltigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und sich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorbehalten.

Mit „Beschluss“ vom 20. August 2015 hat die nämliche Strafkammer des Landgerichts ohne mündliche Hauptverhandlung entschieden, dass die durch das vorbezeichnete Urteil vorbehaltene Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet wird. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass gemäß § 66a Abs. 2 StGB in der ab 28. August 2002 geltenden Fassung (eingeführt durch Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002, BGBl. I S. 3344) über die Anordnung der Sicherungsverwahrung spätestens sechs Monate vor einer möglichen Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zu entscheiden sei. Diese Frist sei hier verstrichen, da der Verurteilte die verhängte Freiheitsstrafe schon zum 12. Mai 2015 zu zwei Dritteln verbüßt habe.

Gegen diese am 28. August 2015 zugestellte Entscheidung hat die Staatsanwaltschaft am 1. September 2015 „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Mit einem am 24. September 2015 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz hat sie ihr Rechtsmittel begründet und ausgeführt, dass über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auch in Altfällen gemäß § 66a Abs. 3 StGB in der ab 1. Januar 2011 geltenden Fassung (eingeführt durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010, BGBl. I S. 2300) bis zur vollständigen Vollstreckung der Strafe entschieden werden könne. Der Gesetzgeber habe mit der Neuregelung des § 66a StGB erkennen lassen, dass er die Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. nicht als Ausschlussfrist habe verstanden wissen wollen. Im Übrigen könne unter den in Art. 316f Abs. 2 EGStGB genannten Voraussetzungen die Sicherungsverwahrung „auch über den Ablauf der sechsmonatigen Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. angeordnet werden“.

Das Thüringer Oberlandesgericht hat die Sache mit Beschluss vom 20. August 2015 zur Entscheidung über das als Revision zu behandelnde Rechtsmittel an den Bundesgerichtshof abgegeben. Das vom Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Das Rechtsmittel ist statthaft und zulässig.

1. Gegen die Entscheidung des Landgerichts ist das Rechtsmittel der Revision statthaft.

Zwar hat das Gericht seine Entscheidung als „Beschluss“ bezeichnet. Dies führt aber nicht dazu, dass eine Beschwerde nach §§ 304 ff. StPO das statthafte Rechtsmittel wäre. Auf die Bezeichnung der Entscheidung kommt es nicht an. Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeutung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur aufgrund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (vgl. Senat, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180, 186; Beschluss vom 17. Februar 2010 - 2 StR 524/09, BGHSt 55, 62, 63 f.; BGH, Urteil vom 14. Juli 2011 - 4 StR 16/11, NStZ 2011, 693 f. mwN).

Nach § 275a Abs. 2 und 3 StPO ist über die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt aufgrund einer Hauptverhandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung ergeht bei Anordnung wie auch bei Absehen von der Anordnung gleichermaßen durch Urteil (§ 275a Abs. 2 i.V.m. § 260 Abs. 1 StPO). Ein schriftliches Verfahren ist dagegen nicht vorgesehen. Die Entscheidung stellt daher auch dann ein Urteil dar, wenn sie die Bezeichnung „Beschluss“ trägt und ohne Verhandlung und Verkündung erlassen wurde (Senat, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180 ff; BGH, Urteil vom 14. Juli 2011 - 4 StR 16/11, NStZ 2011, 693 f.; KK-StPO/Greger 7. Aufl. § 275a Rn. 19).

Dass die Staatsanwaltschaft ihr Rechtsmittel irrtümlich als „sofortige Beschwerde“ bezeichnet hat, ist nach § 300 StPO ebenfalls unschädlich. Diese Vorschrift gilt auch für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft (Senat, Urteil vom 1. Juli 2005 - 2 StR 9/05, BGHSt 50, 180 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 300 Rn. 2).

2. Das als Revision zu behandelnde Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist fristgerecht erhoben und begründet worden. Die Ausführungen lassen den Willen der Beschwerdeführerin hinreichend erkennen, die angefochtene Entscheidung wegen eines sachlich-rechtlichen Fehlers zur Nachprüfung zu stellen.

II.

Die Revision ist unbegründet. Die Überprüfung der Entscheidung auf die Sachrüge zeigt keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.

1. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die materiellen Voraussetzungen einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt auf der Grundlage der Feststellungen nicht vorliegen, weil die Ausschlussfrist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. verstrichen ist.

Nach Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB in der ab 1. Juni 2013 geltenden Fassung ist § 66a StGB in der ab 1. Januar 2011 geltenden Fassung nur anzuwenden, wenn die Tat oder mindestens eine der Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung angeordnet werden soll, nach dem 31. Dezember 2010 begangen worden ist. In allen anderen Fällen ist nach Art. 316e Abs. 2 Satz 2 EGStGB das bisherige Recht anzuwenden. Auf den vorliegenden Fall findet daher § 66a StGB in der ab 28. August 2002 bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung Anwendung, weil die Anlasstaten in der Zeit von April bis Juni 2003 begangen worden sind.

Dies gilt nach Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB zwar nur insoweit, als in Art. 316f Abs. 2 und 3 EGStGB nichts anderes bestimmt ist. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ergibt sich aber aus Art. 316f Abs. 2 EGStGB weder eine über § 66a StGB a.F. hinaus gehende längere Anordnungsfrist noch eine Geltung des § 66a Abs.3 StGB n.F.

Durch den in Art. 316e Abs. 2 Satz 2 EGStGB erfolgten Verweis auf Art. 316f Abs. 2 EGStGB soll lediglich sichergestellt werden, dass die bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Vorschriften über die Sicherungsverwahrung in Fällen rückwirkender Gesetzesanwendung oder nachträglicher Sicherungsverwahrung (sog. Vertrauensschutzfälle) nur unter den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326, 404 ff.) formulierten hohen Voraussetzungen weiter anwendbar sind (vgl. BT-Drucks. 17/9874 vom 6. Juni 2012, S. 30; BGH, Urteil vom 12. Juni 2013 - 1 StR 48/13, BGHSt 58, 292, 294 f.). Ungeachtet dessen handelt es sich vorliegend auch nicht um einen solchen von Art. 316f Abs. 2 EGStGB erfassten „Vertrauensschutzfall“. Das Landgericht hat die Anordnung der Sicherungsverwahrung am Maßstab des § 66a Abs. 2 StGB in der bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung geprüft. Diese Vorschrift war zum Zeitpunkt der letzten Anlasstat (4. Juni 2003) bereits in Kraft; sie wurde durch das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3344) mit Wirkung ab 28. August 2002 eingeführt.

Es gilt daher § 66a Abs. 2 a.F. weiter (vgl. auch BGH, Beschluss vom 7. August 2013 ? 1 StR 246/13, NStZ 2014, 209; Ullenbruch/Morgenstern in MüKo StGB, 2. Aufl., § 66a Rn. 138). Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift. Die Einhaltung der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. stellt vielmehr eine grundsätzlich verbindliche materiellrechtliche Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung dar (BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06 -, BGHSt 51, 159, 160 ff.; Urteil vom 7. August 2012 - 1 StR 98/12, NStZ 2013, 100, 101; KK-StPO/Greger, 7. Aufl. § 275a Rn. 7).

Ob eine Sicherungsverwahrung ausnahmsweise angeordnet werden kann, wenn die Frist nur wenige Tage überschritten ist (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005 - 1 StR 324/05, StV 2006, 63 f.) und die Gründe dafür nicht im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, braucht hier nicht entschieden zu werden. Das Landgericht hatte zum 12. Mai 2015, dem spätesten Entscheidungszeitpunkt (§ 66a Abs. 2 Satz 1, § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB), das Nachverfahren noch nicht einmal eingeleitet.

2. Die Entscheidung unterliegt nicht schon deshalb der Aufhebung, weil über die Anordnung von Sicherungsverwahrung nach Vorbehalt nur aufgrund einer mündlichen Hauptverhandlung unter Beteiligung der Schöffen durch Urteil entschieden werden kann.

Ungeachtet dessen, dass schon fraglich ist, ob die im Beschlussverfahren ergangene Entscheidung auf diesem Rechtsfehler überhaupt beruhen kann, weil die Sicherungsverwahrung schon wegen Fristversäumnis und damit aus zwingenden Rechtsgründen nicht angeordnet werden konnte (vgl. dazu BGH, Urteil vom 6. Dezember 2005 - 1 StR 441/05, NStZ 2006, 178, 179; BGH, Urteil vom 14. Juli 2011 - 4 StR 16/11, NStZ 2011, 693, 694; KK-StPO/Greger, 7. Aufl., § 275a Rn. 24), fehlt es jedenfalls an einer insoweit erforderlichen Verfahrensrüge.

Das von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel beschränkt sich auf die Rüge des sachlichrechtlichen Mangels, § 66a Abs. 2 StGB a.F. könne vorliegend nicht als Ausschlussfrist verstanden werden. Zwar ist damit in der Regel auch die allgemeine Sachrüge erhoben, weil die Revision zumindest Einzelausführungen zu einzelnen Urteilsteilen- oder grundlagen enthält (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 1951 - 1 StR 5/51, BGHSt 1, 44, 46). Eine Rüge dahingehend, dass die Entscheidung vorliegend aufgrund einer Hauptverhandlung und unter Beteiligung der Schöffen hätte ergehen müssen, wurde seitens der Beschwerdeführerin aber zu keiner Zeit erhoben.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 811

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 7; StV 2016, 736

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede