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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 253

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 158/20, Beschluss v. 28.10.2020, HRRS 2021 Nr. 253


BGH 1 StR 158/20 - Beschluss vom 28. Oktober 2020 (LG Bochum)

Gefährliche Körperverletzung mittels einer lebensgefährlichen Behandlung (erforderliche abstrakte Lebensgefährlichkeit); Steuerhinterziehung (Kompensationsverbot: zulässige Verrechnung von Vor- und geschuldeter Umsatzsteuer).

§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB; § 370 Abs. 1, Abs. 4 Satz 3 AO

Leitsatz des Bearbeiters

Um die gegenüber der einfachen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB höhere Strafandrohung begründen zu können, ist für die generelle Eignung der Lebensgefährdung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB mehr als der lediglich in „sehr seltenen“ Fällen mögliche tödliche Ausgang der Verletzungshandlung zu fordern.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bochum vom 17. Dezember 2019 im Ausspruch über die in den Fällen 1, 2, 12, 20, 21, 22, 25, 28, 30, 31 und 34 bis 49 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen und im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben. Hinsichtlich der Fälle 34 bis 49 der Urteilsgründe werden auch die dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision der Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der Heilkunde und mit Betrug in 33 Fällen und wegen Steuerhinterziehung in 16 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Die gegen ihre Verurteilung gerichtete Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts fasste die Angeklagte spätestens im Jahr 2016 den Entschluss, Schönheitsbehandlungen mit Hyaluronsäure im Internet anzubieten. Über den zu diesem Zweck eingerichteten Instagram-Account bot sie unter dem Namen „D.“ insbesondere die Vergrößerung von Lippen sowie Nasenkorrekturen mittels Unterspritzungen mit Hyaluronsäure an, obwohl sie - wie sie wusste - die hierfür erforderliche Zulassung als Heilpraktikerin nicht besaß.

1. Fälle 1 bis 33 der Urteilsgründe:

Die Angeklagte führte zwischen September 2016 und April 2019 bei 33 Kunden Behandlungen mit Hyaluronsäure durch, wobei sie in den Fällen 1, 2, 11, 12, 20, 21, 22, 25, 28, 30 und 31 der Urteilsgründe die Nase oder Nasolabialfalte der Kunden unterspritzte. Bei der Unterspritzung der Lippen kam es aufgrund einer fehlerhaften Behandlung in neun Fällen zu der Bildung von Knötchen oder „Knubbeln“ in der Lippe der Kundinnen, die teilweise sichtbar, teilweise lediglich für die Betroffene spürbar waren (Fälle 5, 9, 10, 11, 17, 19, 23, 27 und 33 der Urteilsgründe).

Das sachverständig durch eine Fachärztin für plastische und ästhetische Chirurgie beratene Landgericht stellte zudem fest, dass „eine intravasale Injektion - versehentlich in ein Gefäß - mit der Folge von Gefäßverschlüssen und Gewebeuntergang … selten, … aber im Einzelfall schwerwiegende Komplikationen nach sich ziehen (kann) bis hin zur Erblindung und zum Schlaganfall“, wobei dieses Risiko vornehmlich bei der Behandlung der Nase und Nasolabialfalte besteht, sodass Unterspritzungen in diesem Bereich „generell geeignet (sind), das Leben der Patienten zu gefährden, auch wenn die möglichen Komplikationen einer Erblindung bzw. eines Schlaganfalls sehr selten sind“ (UA S. 14).

2. Fälle 34 bis 49 der Urteilsgründe:

Die Angeklagte erzielte mit den Schönheitsbehandlungen, die sie entweder in einem im Wohnhaus der Schwester eingerichteten Behandlungszimmer oder im Rahmen sog. Behandlungstage in Hotels durchführte, mindestens einen Umsatz von 118.500 Euro im Jahr 2016 und von 177.750 Euro im Jahr 2017. Obwohl sie wusste, dazu verpflichtet zu sein, gab sie für die Jahre 2016 und 2017 keine Umsatzsteuererklärungen ab. Sie hinterzog hierdurch Umsatzsteuer in Höhe von 22.515 Euro im Jahr 2016 und 33.772,50 Euro im Jahr 2017 (Fälle 34 und 35 der Urteilsgründe). In den Monaten Januar 2018 bis Februar 2019 erzielte die Angeklagte zudem einen monatlichen Umsatz von mindestens 19.750 Euro. Danach gab sie für die jeweiligen Monate keine Umsatzsteuervoranmeldungen ab, obwohl ihr bewusst war, dass sie die Einkünfte gegenüber dem Finanzamt hätte erklären müssen. Hierdurch hinterzog die Angeklagte monatlich einen Betrag in Höhe von 3.752,50 Euro (Fälle 36 bis 49 der Urteilsgründe). Insgesamt verkürzte sie im Tatzeitraum Umsatzsteuer in Höhe von 108.822,50 Euro. Den Steuerschaden glich sie im Laufe der Hauptverhandlung vollständig aus.

II.

Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung teilweise nicht stand.

1. Soweit das Landgericht die Unterspritzung der Nase oder Nasolabialfalte mit Hyaluronsäure (Fälle 1, 2, 11, 12, 20, 21, 22, 25, 28, 30 und 31 der Urteilsgründe) als gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB gewertet hat, begegnet dies durchgreifenden Bedenken. Der Schuldspruch bleibt hiervon unberührt, da das Landgericht im Hinblick auf die Verwendung einer Spritze zutreffend eine gefährliche Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB bejaht hat.

a) Eine gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB setzt eine Körperverletzung „mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung“ voraus. Zwar muss die Tathandlung nicht dazu führen, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die jeweilige Einwirkung durch den Täter nach den Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Maßgeblich ist danach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im Einzelfall (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 24. März 2020 - 4 StR 646/19 Rn. 6 mwN).

b) Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen belegen eine solche generelle Eignung der Verletzungshandlung, das Leben des Opfers zu gefährden, nicht. Zwar kann es nach den Urteilsfeststellungen „sehr selten“ in Folge der Unterspritzung der Nase oder Nasolabialfalte mit Hyaluronsäure zu Komplikationen und schließlich einem Schlaganfall kommen. Eine generelle Eignung der Behandlung, das Leben zu gefährden, ist damit jedoch noch nicht belegt. Um die gegenüber der einfachen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB höhere Strafandrohung begründen zu können, ist für die generelle Eignung der Lebensgefährdung mehr als der lediglich in „sehr seltenen“ Fällen mögliche tödliche Ausgang der Verletzungshandlung zu fordern.

c) Der aufgezeigte Rechtsfehler führt in den Fällen 1, 2, 12, 20, 21, 22, 25, 28, 30 und 31 der Urteilsgründe zur Aufhebung der Einzelstrafen von jeweils einem Jahr Freiheitsstrafe. Die zugehörigen Feststellungen bleiben aufrechterhalten (§ 353 Abs. 2 StGB). Der Senat schließt aus, dass weitergehende Feststellungen möglich sind, die das Qualifikationsmerkmal einer lebensgefährdenden Behandlung tragen könnten. Die Einzelstrafe im Fall 11 der Urteilsgründe hat dagegen Bestand, da das Landgericht angesichts der sich in der Folge der Behandlung ausgebildeten Knoten in der Lippe der zusätzlichen Verwirklichung des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB keine Bedeutung beigemessen hat.

2. In den Fällen 34 bis 49 der Urteilsgründe hat das Landgericht den Schuldumfang der Hinterziehung von Umsatzsteuer rechtsfehlerhaft bestimmt.

a) Bei der Ermittlung der Verkürzungsbeträge für die Umsatzsteuer hat das Landgericht versäumt, Feststellungen zu einem möglichen Vorsteuervergütungsanspruch der Angeklagten zu treffen.

aa) Soweit eine nicht erklärte steuerpflichtige Ausgangsleistung eine tatsächlich durchgeführte Leistung war und die hierbei verwendeten Wirtschaftsgüter unter den Voraussetzungen des § 15 UStG erworben wurden, steht das Kompensationsverbot (§ 370 Abs. 4 Satz 3 AO) einer Verrechnung von Vorsteuer und Umsatzsteuer nicht entgegen. Denn dann besteht ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen Ein- und Ausgangsumsatz. Voraussetzung eines Vorsteuerabzugs ist allerdings, dass auch die übrigen Voraussetzungen des § 15 UStG - der Besitz - im maßgeblichen Besteuerungszeitraum gegeben sind (vgl. BGH, Urteil vom 13. September 2018 - 1 StR 642/17 Rn. 19 ff. mwN, BGHSt 63, 203).

bb) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs handelt es sich bei den von der Angeklagten erworbenen Hyaluronsäurespritzen um Eingangsumsätze, die in einem direkten Zusammenhang mit den im Rahmen der Schönheitsbehandlungen erzielten Ausgangsumsätzen stehen. Zwar hat das Landgericht festgestellt, dass die Angeklagte die von ihr verwendeten Hyaluronsäurespritzen zu einem üblichen Preis von etwa 200 Euro für zwei Fertigspritzen à 1 ml über das Internet bezogen hat. Darüber hinaus finden sich jedoch keine Feststellungen zu den Modalitäten des Erwerbs der Spritzen - insbesondere zu der Frage, ob und in welcher Höhe die Angeklagte Vorsteuern gezahlt hat. Insoweit führt das Landgericht lediglich im Rahmen der rechtlichen Würdigung aus, dass die eingetretene Steuerverkürzung nicht dadurch verringert werde, „dass die Angeklagte gezahlte Vorsteuer nicht geltend gemacht hat, …, da sie hierzu mangels ordnungsgemäßer Rechnung auch nicht berechtigt gewesen wäre“ (UA S. 41). Dies steht jedoch im Widerspruch dazu, dass die Angeklagte die Spritzen (legal) im Internet erworben hat, sodass Rechnungen hätten ausgestellt sein müssen. Der von Rechts wegen bei der Bemessung des Verkürzungsbetrages zu Gunsten der Angeklagten zu berücksichtigende Vorsteuervergütungsanspruch kann daher den Feststellungen im Urteil nicht entnommen werden.

cc) Dies betrifft aber nur den Schuldumfang und hat keine Auswirkungen auf den Schuldspruch, da angesichts der Feststellungen zu den Preisen der Hyaluronsäurespritzen und den von der Angeklagten für ihre Dienstleistungen berechneten Preise auszuschließen ist, dass in einem der verfahrensgegenständlichen Besteuerungszeiträume keine zu erklärende Umsatzsteuerzahllast verblieben sein könnte.

b) Die festgestellten Besteuerungsgrundlagen beruhen zudem nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung.

aa) Die vom Landgericht vorgenommene Schätzung der Umsätze der Angeklagten ist fehlerhaft. Zwar geht das Landgericht im Ausgangspunkt zutreffend davon aus, dass es insoweit eine Schätzung vornehmen durfte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt eine Schätzung im Steuerstrafverfahren dann in Betracht, wenn zwar feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, aber ungewiss ist, welches Ausmaß die Besteuerungsgrundlagen haben (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 29. August 2018 - 1 StR 374/18 Rn. 7 mwN). So verhält es sich hier: Die Angeklagte hat zwar eingeräumt, im Tatzeitraum Behandlungen mit Hyaluronsäure durchgeführt zu haben; zu dem genauen Umfang ihrer Tätigkeit hat sie jedoch keine Angaben gemacht. Da auch im Rahmen der Durchsuchungen keine Buchführungsunterlagen sichergestellt werden konnten, durfte das Landgericht die erzielten Umsätze schätzen.

bb) Die Strafkammer hat in den Fällen 36 bis 47 der Urteilsgründe (Januar bis Dezember 2018) nachvollziehbar die Höhe des jährlichen Umsatzes, den die Angeklagte im Rahmen der Behandlungstage in Hotels erreichte, dargelegt. Die Umsätze, die die Angeklagte aus der Behandlung der Kunden im Wohnhaus ihrer Schwester erzielt und die das Landgericht für das Jahr 2018 mit 105.000 Euro beziffert hat, sind hingegen nicht nachvollziehbar belegt. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, dass die Angeklagte bei 350 Kunden pro Jahr eine Unterspritzung mit einem durchschnittlichen Behandlungsentgelt von 300 Euro durchgeführt hat. Die hierfür vom Landgericht herangezogene Schätzgrundlage trägt die Feststellung von einer Behandlung von 350 Kunden pro Jahr jedoch nicht; denn insoweit stützt das Landgericht seine Feststellung darauf, dass die Angeklagte an 200 Arbeitstagen pro Jahr durchschnittlich 1,5 Kunden pro Tag behandelt hat. Unter Zugrundelegung dieser Schätzgrundlage ergibt sich jedoch lediglich eine Anzahl von 300 Kunden pro Jahr sowie ein entsprechend niedrigerer Jahresumsatz in Höhe von lediglich 90.000 Euro.

Da das Landgericht ausgehend von den Umsätzen des Jahres 2018 die Umsätze für die Jahre 2016 und 2017 sowie für Januar und Februar 2019 ermittelt hat, erstreckt sich dieser Fehler auch auf die Fälle 34, 35, 48 und 49 der Urteilsgründe.

c) Die Rechtsfehler bei der Bestimmung der Verkürzungsbeträge in den Fällen 34 bis 49 der Urteilsgründe bedingen die Aufhebung der entsprechenden Einzelfreiheitsstrafen mit den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).

3. Die Aufhebung der Einzelstrafen zieht auch die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 253

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 109; StV 2021, 370

Bearbeiter: Christoph Henckel