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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 754

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 128/20, Beschluss v. 13.05.2020, HRRS 2020 Nr. 754


BGH 1 StR 128/20 - Beschluss vom 13. Mai 2020 (LG Stuttgart)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose).

§ 63 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 17. Dezember 2019 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und ihn im Übrigen freigesprochen. Die gegen seine Unterbringung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts litt der Angeklagte spätestens seit 2015 (UA S. 11) unter paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie. Er begegnete am 19. August 2018 den ihm unbekannten Zeugen C. und D. in einer U-Bahn-Station in Stuttgart. Der Angeklagte nahm infolge seiner wahnhaften Verfolgungsängste zwei Steine aus dem Gleisbett auf, um diese jeweils gegen den Kopf der beiden Passanten zu schleudern. Er verfolgte die flüchtenden Zeugen und warf die Steine auf dem Vorplatz zur U-Bahn-Haltestelle. Der in D. s Richtung geworfene Stein verfehlte deren Kopf nur um wenige Zentimeter. Der Angeklagte hatte keine weiteren Wurfgeschosse und erkannte, dass sein Plan gescheitert war. Von zufällig vorbeikommenden Polizeibeamten wurde der brüllende Angeklagte, mit dem keine Kommunikation möglich war, festgenommen. Er war wegen der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie in seiner Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich eingeschränkt (UA S. 19).

2. Die Unterbringungsentscheidung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Gefahrenprognose ist nicht tragfähig begründet.

a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass vom Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu stellen und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten vom Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12 Rn. 27; BGH, Beschlüsse vom 5. Februar 2020 - 2 StR 436/19 Rn. 5; vom 27. Juni 2019 - 1 StR 112/19 Rn. 4 und vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 Rn. 6). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 Rn. 15; vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18 Rn. 17 und vom 26. Juli 2018 - 3 StR 174/18 Rn. 12).

b) Daran gemessen erweisen sich die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Gefahrenprognose begründet hat, als lückenhaft.

aa) Zum einen hätte sich die Strafkammer mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte trotz seiner psychischen Erkrankung seit 2015 während eines nennenswerten Zeitraums, nämlich bis zur Tat am 19. August 2018, keine Straftat beging. Denn solches ist regelmäßig ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten und daher zu erörtern (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 5. Februar 2020 - 2 StR 436/19 Rn. 7; vom 11. Juli 2019 - 1 StR 253/19 Rn. 5; vom 7. Mai 2019 - 4 StR 135/19 Rn. 6; vom 23. August 2017 - 2 StR 278/17 Rn. 18 und vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12 Rn. 11; Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 StR 99/19 Rn. 9 und vom 17. November 1999 - 2 StR 453/99 Rn. 5, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).

bb) Zum anderen begegnet durchgreifenden Bedenken, dass das Landgericht die - im äußeren Geschehensablauf vergleichbare - Vortat vom 22. Mai 2014 herangezogen hat. Davon, dass auch diese Tat von der psychiatrischen Erkrankung beeinflusst war, hat sich das Landgericht nicht überzeugt. Auch länger zurückliegenden Taten kann aber grundsätzlich nur dann eine indizielle Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose zukommen, wenn sie in einem inneren Zusammenhang zur festgestellten Erkrankung gestanden haben und deren Ursache nicht in anderen, nicht krankheitsbedingten Umständen zu finden ist (BGH, Beschlüsse vom 13. Oktober 2016 - 1 StR 445/16 Rn. 19; vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16 Rn. 9; vom 15. Juli 2015 - 4 StR 277/15 Rn. 10 und vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12 Rn. 12; Urteil vom 11. August 2011 - 4 StR 267/11 Rn. 14). Warum die Tat vom 22. Mai 2014 dennoch für die krankheitsbedingt fortbestehende Gefährlichkeit des Angeklagten sprechen soll, hat das Landgericht nicht nachvollziehbar begründet.

c) Die Feststellungen sind von dem Erörterungsmangel nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 754

Externe Fundstellen: StV 2021, 246

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede