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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1029

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 278/17, Beschluss v. 23.08.2017, HRRS 2017 Nr. 1029


BGH 2 StR 278/17 - Beschluss vom 23. August 2017 (LG Bonn)

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Voraussetzungen; erforderliche Darstellungen im Urteil).

§ 63 StGB; § 267 Abs. 6 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 3. März 2017 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Beschuldigten hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Bei dem 1961 geborenen Beschuldigten traten erstmals 1983 psychische Auffälligkeiten im Zusammenhang mit seiner Arbeit auf. 1989 entwickelte sich eine „psychotische Dekompensation und eine paranoide und depressive Symptomatik mit wahnhaften Körperwahrnehmungen“, weshalb sich der Beschuldigte von 1989 bis 1992 in psychiatrischer Behandlung befand. Er konsumiert illegale Betäubungsmittel, namentlich Haschisch, LSD, Heroin und Kokain, und befindet sich seit 1991 im Methadon-Substitutionsprogramm.

2. Der Beschuldigte ist mehrfach vorbestraft. Wegen eines bewaffneten Banküberfalls wurde er 1987 wegen schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In den Jahren 1992 und 1993 wurde er wegen Trunkenheit im Verkehr zu geringfügigen Geldstrafen, zwischen 1992 und 2012 wegen vier Betäubungsmitteldelikten zu Geldstrafen zwischen 90 und 120 Tagessätzen sowie zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dass zwischen diesen Taten und der damals bereits bestehenden psychischen Erkrankung ein Zusammenhang bestand, hat das Landgericht nicht festgestellt.

3. Zu den Anlasstaten hat das Landgericht Folgendes festgestellt:

a) Am 6. Juni 2016 führte der Beschuldigte eine Schreckschusswaffe, indem er eine zuvor - legal - erworbene Schreckschusspistole auf dem Heimweg vom Waffengeschäft in der Straßenbahn aus der Verpackung nahm und mit ihr - für andere Fahrgäste sichtbar - hantierte (Fall 1).

b) Am 29. Juni 2016 bedrohte der Beschuldigte ohne ersichtlichen Grund den Kunden einer neben seinem Wohnhaus gelegenen Bankfiliale mit den Worten „ich mach Dich tot“; er versuchte, diesen zu schlagen und mit einem Schraubendreher zu stechen. Auf die herbeigerufenen Polizeibeamten lief er mit einem Schraubendreher zu und konnte nur durch den Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden, wobei er während der Festnahme nach den Beamten trat. Nach scheinbarer Beruhigung versuchte er, beim Einstieg in das Polizeifahrzeug einen Polizeibeamten durch eine „Kopfnuss“ zu verletzen (Fälle 2 und 3).

c) Am 31. Juli 2016 bedrohte der Beschuldigte seine Wohnungsnachbarn, die schon geraume Zeit in Angst vor ihm lebten, indem er im Hausflur mit erhobenem Arm auf den Nachbarn zulief. Die daraufhin herbeigerufenen Polizeibeamten wies der Beschuldigte auf Stimmen hin, die aus seiner Uhr dringen würden. Gegenüber dem später eintreffenden Notarzt wirkte der Beschuldigte jedoch so ruhig und orientiert, dass dieser eine Eigen- und Fremdgefährdung ausschloss und von einer Einweisung absah. Kurze Zeit später stellte sich der Beschuldigte auf seinen Balkon und bedrohte von dort aus die beim Frühstück sitzenden Nachbarn, indem er - für diese sichtbar - ein Messer an seinem Hals ansetzte und Schnittbewegungen imitierte. Daraufhin wurde er durch erneut herbeigerufene Polizeibeamte sistiert und sodann nach § 11 Abs. 1 PsychKG NRW kurzzeitig untergebracht. Feststellungen zu der Dauer der Unterbringung, der dort gestellten Diagnose, der Behandlung und dem Grund für die rasche Entlassung hat das Landgericht nicht getroffen (Fälle 4 und 5).

d) Am 13. August 2016 trug der Beschuldigte die am 6. Juni 2016 erworbene Schreckschusspistole aus dem Keller in seine Wohnung, wobei sich im Treppenhaus des Mehrparteienhauses - möglicherweise versehentlich - ein Schuss löste. Der Beschuldigte begab sich in seine Wohnung, wo ihn durch Nachbarn herbeigerufene Polizeibeamte überwältigen wollten. Hierbei wehrte er sich - von vier Polizeibeamten bäuchlings zu Boden gebracht - indem er mit den Füßen strampelte und die unter seinem Bauch befindliche Hand entgegen der Anweisung der Polizeibeamten nicht zur Fesselung freigab (Fall 6).

4. Das Landgericht hat die Taten als Führen einer Waffe und Munition gemäß § 52 Abs. 3 Nr. 2 lit. a, 3. Var. WaffG (Fälle 1 und 6), Bedrohung und versuchte gefährliche Körperverletzung (Fall 2), Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung (Fall 3) und Bedrohung (Fälle 4 und 5) gewertet. Es hat angenommen, der Angeklagte habe bei Tatbegehung jeweils im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) gehandelt, da seine Einsichtsfähigkeit aufgehoben gewesen sei. Dem Sachverständigen folgend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass beim Angeklagten eine „akute Episode einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie“ bestanden habe, die Taten aus psychotischen Erlebniswelten und paranoiden Wahngedanken motiviert gewesen seien“ und der Angeklagte „weder in der Lage gewesen [sei], ein Bewusstsein über das Unrecht seiner Taten zu entwickeln, noch (…) Handlungsalternativen auszuführen“ (UA S. 22).

II.

Die Maßregelanordnung nach § 63 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um die notwendige Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Prognostisch muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, Rn. 9; vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395 und vom 10. November 2015 - 1 StR 265/15, NStZ-RR 2016, 76 f. mwN).

2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

a) Soweit das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgeht, dass der Angeklagte an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leide, werden die diese Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen nicht in ausreichendem Umfang wiedergegeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2015 - 4 StR 514/14, Rn. 7, NStZ-RR 2015, 169; vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12, NStZ-RR 2013, 141, 142; vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12, Rn. 8, NStZ 2013, 424; Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307 und BGH, Beschluss vom 14. September 2010 - 5 StR 229/10, Rn. 8; Urteil vom 21. Januar 1997 - 1 StR 622/96, BGHR StGB § 63 Zustand 20). Insbesondere wird nicht mitgeteilt, zu welchem Ergebnis das mehrfach in Bezug genommene, mittlerweile 25 Jahre alte Gutachten eines „Prof. H.“ gelangt ist.

b) Ein Erörterungsmangel ist auch darin zu sehen, dass das Urteil sich nicht mit der Frage auseinandersetzt, welchen Einfluss der Methadonkonsum und der Beikonsum von Drogen auf die psychische Disposition des Beschuldigten haben.

c) Auch fehlt eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der jeweiligen Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in den konkreten Tatsituationen und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, Rn. 5, NStZ-RR 2017, 76, 77; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, Rn. 11, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 und vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98 f.).

Die Einschätzung des Sachverständigen, dem das Landgericht folgt, erschöpft sich im Wesentlichen in der Aussage, dass ein „über mehrere Monate festzustellender systematisierter und nicht nur situativer Verfolgungswahn“ bestehe, der Beschuldigte „in seiner Erlebniswelt eine Bedrohungssituation wahrnehme (…), in deren Folge er sich (…) bewaffnet habe“. Aus den Ausführungen des Landgerichts wird jedoch nicht deutlich, ob und inwieweit bei dem Beschuldigten zu den jeweiligen Tatzeitpunkten Wahnideen vorhanden waren und wie sich diese auf die Taten ausgewirkt haben. So hat das Landgericht bezüglich der Handlungen vom 6. Juni 2016 lediglich festgestellt, der Beschuldigte habe einem „Impuls nicht widerstehen können“, bezüglich der übrigen Handlungen habe er „in seiner Vorstellungswelt auf die ‚vermeintlich‘ feindseligen Handlungen“ der übrigen Beteiligten reagiert bzw. „sich seinem Wohnumfeld und von der Nachbarschaft bedroht gefühlt“. Wie der Sachverständige die Einlassung des Beschuldigten einordnet, dieser höre „schimpfende und abwertende“ Stimmen, die aber nicht imperativ seien, zeigen die Urteilsgründe nicht auf.

d) Schließlich ist auch die Gefahrenprognose nicht tragfähig begründet. Die Unterbringung als außerordentlich beschwerende Maßnahme darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird (Senat, Beschluss vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15). Bei der insofern vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Täters und der Symptomtat sind etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306, 307). Als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten ist anzusehen, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat (Senat, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14, NStZ-RR 2015, 72, 73). Der Umstand, dass der Beschuldigte seit 1987 wegen Gewalttaten nicht in Erscheinung getreten ist und die letzte (ein Betäubungsmitteldelikt betreffende) Verurteilung des Angeklagten vom Juli 2012 datiert, hätte daher im Rahmen der individuellen Gefährlichkeitsprognose Berücksichtigung finden müssen.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 1029

Externe Fundstellen: StV 2019, 230

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede