hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 626

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: OLG_München, 4St RR 194/07, Beschluss v. 22.01.2008, HRRS 2008 Nr. 626


OLG München 4 StRR 194/07 - Beschluss vom 22. Januar 2008 (AG Kempten, LG Kempten)

Körperverletzung im Amt; mögliche Amtsträgereigenschaft von Lehrern an einer Privatschule (Waldorfschule); Züchtigungsrecht; Ablehnung eines Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit.

§ 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB; § 340 StGB; § 223 StGB; § 244 Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Privatschule (hier: Waldorfschule) ist keine sonstige Stelle im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB.

2. "Sonstige Stellen" sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - ohne Rücksicht auf ihre Organisationsform - behördenähnliche Institutionen, die zwar keine Behörden im organisatorischen Sinne sind, aber rechtlich befugt sind, bei der Ausführung von Gesetzen und bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken. Nach dieser Rechtsprechung sind auch als juristische Personen des Privatrechts organisierte Einrichtungen und Unternehmen der öffentlichen Hand als "sonstige Stellen" den Behörden gleichzustellen, wenn bei ihnen Merkmale vorliegen, die eine Gleichstellung rechtfertigen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie bei ihrer Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei derart staatlicher Steuerung unterliegen, dass sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale als "verlängerter Arm" des Staates erscheinen (vgl. BGHSt 49, 214/219 f.; 50, 299/303 f., jeweils m.w.N.). Eine staatliche Aufsicht allein begründet eine Gleichstellung nicht.

3. Lehrer haben kein Züchtigungsrecht.

Entscheidungstenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der Kleinen Jugendkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 16. Juli 2007

1. im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der vorsätzlichen Körperverletzung in drei Fällen, in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit einer weiteren vorsätzlichen Körperverletzung schuldig ist;

2. im Rechtsfolgenausspruch mit den diesem zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

3. In der Liste der angewandten Vorschriften wird § 340 Abs. 1 StGB durch die § 223 Abs. 1, § 230 Abs. 1 Satz 1 StGB ersetzt.

II. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Kleine Jugendkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückverwiesen.

Gründe

I.

Der Jugendrichter bei dem Amtsgericht Kempten (Allgäu) hat den Angeklagten am 28.9.2006 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in drei tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit einem weiteren Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Gesamtgeldstrafe von 130 Tagessätzen zu je 60 € verurteilt.

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat die Kleine Jugendkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) das vorgenannte Urteil am 16.7.2007 aufgehoben und den Angeklagten der Körperverletzung im Amt in drei Fällen, davon in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit vorsätzlicher Körperverletzung im Amt schuldig gesprochen und ihn deshalb zu einer Gesamtgeldstrafe von 160 Tagessätzen zu je 55 € verurteilt. Die weitergehende Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht ebenso wie die des Angeklagten verworfen.

Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde der Freien Waldorfschule K für den Angeklagten durch die Regierung von Schwaben mit Schreiben vom 15.12.1981 eine schulaufsichtliche Unterrichtsgenehmigung erteilt. Der Angeklagte unterrichtete u.a. auch als Klassenlehrer den am ... geborenen P. H. Der hyperaktive Bub verhielt sich im Unterricht häufig recht unruhig und störte. Um ihn zu disziplinieren, zog der Angeklagte den stehenden Buben an mindestens zwei, exakt nicht mehr feststellbaren Tagen zwischen dem 15.9.2001 und dem Ferienbeginn im Juli 2004, wobei sich ein Vorfall im Frühjahr/Sommer 2003 in der 3. Klasse ereignete, mit den Händen an beiden Ohren nach oben. P. H. verlor hierbei den Stand am Boden nicht, gleichwohl hatte er durch die Behandlung des Angeklagten erhebliche Schmerzen, was von diesem zum Zwecke der Erreichung des Disziplinierungserfolges auch beabsichtigt war. Ebenfalls zu Disziplinierungszwecken holte der Angeklagte zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Frühjahr/Sommer 2003 P. H. und den am ... geborenen M. Sch. zu sich nach vorne, packte beide Buben am Genick und schlug die Köpfe der Buben nahezu frontal gegeneinander. Beide erlitten hierdurch nicht unerhebliche Schmerzen am Kopf, welche vom Angeklagten als Disziplinierungsmaßnahme beabsichtigt waren. Die Staatsanwaltschaft hat das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht.

Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II.

Das statthafte (§ 333 StPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO) Rechtsmittel hat teilweise Erfolg. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe sich jeweils der Körperverletzung im Amt schuldig gemacht, hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB ist, wer sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen. "Sonstige Stellen" sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - ohne Rücksicht auf ihre Organisationsform - behördenähnliche Institutionen, die zwar keine Behörden im organisatorischen Sinne sind, aber rechtlich befugt sind, bei der Ausführung von Gesetzen und bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken. Nach dieser Rechtsprechung sind auch als juristische Personen des Privatrechts organisierte Einrichtungen und Unternehmen der öffentlichen Hand als "sonstige Stellen" den Behörden gleichzustellen, wenn bei ihnen Merkmale vorliegen, die eine Gleichstellung rechtfertigen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie bei ihrer Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnehmen und dabei derart staatlicher Steuerung unterliegen, dass sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale als "verlängerter Arm" des Staates erscheinen (vgl. BGHSt 49, 214/219 f.; 50, 299/303 f., jeweils m.w.N.).

Dies trifft auf die Waldorfschule als Privatschule gerade nicht zu. Sie unterliegt zwar staatlicher Aufsicht, nicht aber - wie allgemein bekannt - staatlicher Steuerung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Sie ist vielmehr ein aliud zur öffentlichen Schule und kann deshalb nicht als "verlängerter Arm" des Staates und damit nicht als sonstige Stelle im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB angesehen werden.

Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, ob die schulaufsichtliche Unterrichtsgenehmigung vom 15.12.1981 - deren näheren Inhalt das Landgericht nicht mitteilt - als öffentlich-rechtlicher Bestellungakt, der für die Erfüllung der Voraussetzungen der genannten Bestimmung weiter erforderlich wäre, angesehen werden kann (vgl. hierzu BGHSt 43, 96/105; BayObLGSt 1995, 110/114).

2. Im Übrigen deckt die Revision hinsichtlich des Schuldspruchs weder in formeller noch in materieller Hinsicht einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 11.10.2007 Bezug, die auch die Erwiderung der Verteidigung nicht entkräftet werden.

Hinsichtlich der Ablehnung der Beweisanträge der Verteidigung auf Einvernahme der Eltern der Mitschüler der Geschädigten sowie der Zeugin B. Sch. ist noch anzufügen, dass der Tatrichter die von der Verteidigung behaupteten Indiztatsachen als bedeutungslos ansehen konnte. Das Landgericht konnte - wie sich aus Ziff. f seines Ablehnungsbeschlusses entnehmen lässt - der Auffassung sein, dass die Indiztatsachen selbst für den Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen können, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zulassen und das Gericht den möglichen Schluss nicht ziehen will, weil es ihn im Hinblick auf die gesamte Beweislage für falsch hält (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 2). Zwar darf die Ablehnung von Beweisanträgen wegen Bedeutungslosigkeit der Beweisbehauptung nicht dazu führen, dass aufklärbare oder unwiderlegbar zugunsten des Angeklagten sprechende Umstände einer gebotenen Gesamtwürdigung im Rahmen der Beweiswürdigung entzogen werden. Das Tatgericht konnte hier aber zu dem Ergebnis gelangen, dass auch die vollständige Bestätigung des Beweisthemas durch die angebotenen Zeugen nicht zu dem von der Verteidigung gewünschten Schluss führt, weil hinsichtlich der der Verurteilung zugrunde gelegten Taten eine tatsächliche Eingrenzung weder der Tatzeit (zwischen September 2001 und Juli 2004) noch der konkreten Örtlichkeit im Schulgebäude noch der Anzahl der anwesenden Mitschüler und deren Aufmerksamkeit getroffen werden kann. Somit verlieren etwaige Aussagen der einzelnen konkret benannten Zeugen schon deshalb jede Bedeutung, weil nicht nur fraglich bleibt, ob sie als Eltern zu den Kindern einen besseren Zugang als der vernehmende Richter haben, sondern auch nicht mehr festgestellt werden kann, ob die Kinder bei den der Verurteilung zugrunde liegenden Vorgängen überhaupt anwesend und - falls dies der Fall war - aufmerksam gewesen waren. Dies hätte zur Folge, dass das Tatgericht bei Bestätigung des Beweisthemas durch alle Zeugen nicht beurteilen könnte, ob das Negieren von Beobachtungen über Übergriffe des Angeklagten durch die Schüler daraus folgt, dass es keine Übergriffe gab oder daraus, dass die einzelnen Schüler entweder nicht anwesend oder unaufmerksam gewesen waren oder dass sie beobachtete Fälle auch den Eltern verschwiegen haben.

3. Der Senat kann deshalb auf der Grundlage der insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den Schuldspruch selbst ändern.

4. Im Hinblick auf die daraus folgende Änderung des Strafrahmens kann der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben.

III.

Nach alldem ist das angefochtene Urteil auf die Revision des Angeklagten im Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO wie geschehen zu ändern (vgl. Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. § 354 Rn. 12 ff.) und im Rechtsfolgenausspruch mit den diesem zugrunde liegenden Feststellungen gemäß § 353 StPO aufzuheben; die Liste der angewandten Vorschriften ist entsprechend der Änderung des Schuldspruchs zu korrigieren.

Die weitergehende Revision des Angeklagten ist als unbegründet zu verwerfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Kleine Jugendkammer des Landgerichts Kempten (Allgäu) zurückverwiesen (§ 354 Abs. 2 StPO).

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO.


[Redaktioneller Hinweis: Vgl. zu dieser Entscheidung in HRRS 2008 Heft Juli den Aufsatz von Beulke/Ruhmannseder].

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 626

Externe Fundstellen: NJW 2008, 1174

Bearbeiter: Karsten Gaede