HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 967
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 608/24, Beschluss v. 01.04.2025, HRRS 2025 Nr. 967
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aurich vom 28. August 2024 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Übergriffs in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen in neun Fällen sowie wegen sexueller Belästigung in 17 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Deren Vollstreckung hat es zur Bewährung ausgesetzt und angeordnet, dass im Falle des Widerrufs zwei Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen seine Verurteilung. Die Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Den Verfahrensbeanstandungen bleibt der Erfolg versagt.
a) Die Revision erblickt einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz nach § 251 Abs. 1 in Verbindung mit § 250 StPO darin, dass das Landgericht im Anschluss an die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnungen der ermittlungsrichterlichen Vernehmungen der beiden Geschädigten zur Überprüfung von deren Glaubwürdigkeit die Protokolle ihrer polizeilichen Vernehmungen im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt hat, anstatt die Geschädigten oder die vernehmende Polizeibeamtin unmittelbar als Zeuginnen zu hören. Die Rüge ist unbegründet.
aa) Der Beanstandung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
In der Hauptverhandlung ordnete die Strafkammer an, die Vernehmung der beiden Geschädigten, deren Alter im Tatzeitraum 14 beziehungsweise 15 Jahre und während der Hauptverhandlung 18 beziehungsweise 19 Jahre betrug, als Zeuginnen durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnungen ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmungen zu ersetzen (§ 255a Abs. 2 StPO). Nach Ausführung des Beschlusses verfügte die Vorsitzende die Einführung von näher bezeichneten Urkunden im Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO), hierunter die Protokolle der polizeilichen Vernehmungen der beiden Geschädigten. Den Widerspruch des Verteidigers gegen die Durchführung und Verwertung des Selbstleseverfahrens wies die Strafkammer als unbegründet zurück. Der ergänzenden Verlesung der Vernehmungsprotokolle stünden weder die Einschränkungen und Verlesungsverbote der §§ 251 ff. StPO noch der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO entgegen. Die Einführung unter anderem der polizeilichen Vernehmungen sei unter Aufklärungsgesichtspunkten zur Abrundung der Beweiswürdigung betreffend die Konstanz der Aussagen der Geschädigten und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben erforderlich. Weder die Geschädigten noch die polizeiliche Vernehmungsbeamtin wurden in der Hauptverhandlung als Zeuginnen gehört.
bb) Entgegen dem Vorbringen der Revision liegt in dieser Vorgehensweise kein Verfahrensverstoß.
(1) Der Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 250 Satz 1 StPO) begründet für die Feststellung von Tatsachen, die auf Wahrnehmungen von Personen beruhen, in der Hauptverhandlung den Vorrang des - unmittelbaren oder mittelbaren - Zeugenbeweises schlechthin. Der Beweis beruht auf der Wahrnehmung der Person, wenn es sich um einen Vorgang handelt, dessen wahrheitsgemäße Wiedergabe nur durch eine Person möglich ist, welche ihn mit einem oder mehreren ihrer fünf Sinne wahrgenommen hat. Die Ersetzung der Vernehmung durch Verlesung eines über die frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls ist in diesen Fällen unzulässig (§ 250 Satz 2 StPO; vgl. BGH, Urteile vom 13. Dezember 1960 - 1 StR 389/60, BGHSt 15, 253, 254 f.; vom 30. Juni 1954 - 6 StR 172/54, BGHSt 6, 209, 210). Der Sinn dieser Regelung ist es, dass der Zeugenbeweis vor dem Urkundenbeweis dann unbedingten Vorzug haben soll und den Urkundenbeweis ausschließt, wenn jener grundsätzlich als das verlässlichere Beweismittel anzusehen ist. So könnten bei der schriftlichen Fixierung der Wahrnehmung einer Person, die in einem Vernehmungsprotokoll oder einer sonstigen Schrift über einen bestimmten von ihr wahrgenommenen Vorgang berichtet hat, Umstände eingewirkt haben, welche die richtige Darstellung dieser Wahrnehmung beeinträchtigen (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 1960 - 1 StR 389/60, BGHSt 15, 253, 254).
(2) In weitgehender Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes lässt demgegenüber § 255a Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO (anders zu § 255a Abs. 1 StPO BGH, Beschluss vom 29. Januar 2008 - 4 StR 449/07, BGHSt 52, 148 Rn. 8) in Verfahren wegen bestimmter Straftaten aus Gründen des Opferschutzes eine „Ersetzung“ der Zeugenvernehmung durch das Abspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung zu, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an dieser mitzuwirken, und der Zeuge der Vorführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar nach der aufgezeichneten Vernehmung widersprochen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 81 f.; KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 255a Rn. 1). Bei - wie hier - vorangegangener ordnungsgemäßer Beweiserhebung unter Wahrung der wesentlichen Verfahrensvorschriften, namentlich der rechtlich geschützten Belange des Beschuldigten, stellt die aufgezeichnete ermittlungsrichterliche Zeugenvernehmung ein Beweissurrogat dar. Die Aufzeichnung bewirkt gleichsam die Vorverlagerung eines Teils der Hauptverhandlung aus ihr heraus in das Ermittlungsverfahren. Die aufgezeichnete und durch Vorspielen in die Hauptverhandlung eingeführte Vernehmung ist grundsätzlich so zu behandeln, als sei der Zeuge unmittelbar in der Hauptverhandlung selbst gehört worden (vgl. BGH, Urteile vom 14. Dezember 2022 - 6 StR 340/21, NStZ 2024, 56 Rn. 10 f.; vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72, 81 f.; Beschlüsse vom 12. Februar 2004 - 1 StR 566/03, BGHSt 49, 68, 71; vom 15. April 2003 - 1 StR 64/03, BGHSt 48, 268, 273; BeckOK StPO/Berg, 55. Ed., § 255a Rn. 1; Schmitt/Köhler/Schmitt, StPO, 68. Aufl., § 255a Rn. 9; aA LR/Mosbacher, StPO, 27. Aufl., § 255a Rn. 21; zum Unmittelbarkeitsgrundsatz bei - anders als hier - vernehmungsergänzender Inaugenscheinnahme der Bild-Ton-Aufzeichnung einer ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung BGH, Beschluss vom 12. Februar 2004 - 1 StR 566/03, BGHSt 49, 68, 70 f.). Einen allgemeinen Rechtssatz, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz die Benutzung von Beweissurrogaten verbiete, gibt es nicht (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 1986 - 3 StR 10/86, BGHR StPO § 261 Beweismittelersatz 1; zu § 251 Abs. 2 StPO BGH, Beschluss vom 12. August 1999 - 3 StR 277/99, NStZ 2000, 49, 50; zur Sperrerklärung analog § 96 StPO BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007 - 2 BvR 197/07, juris Rn. 7 mwN).
(3) Wird ein Zeuge in der Hauptverhandlung gehört, ist daneben die vernehmungsergänzende Verwertung seiner protokollarisch oder in einer schriftlichen Erklärung festgehaltenen Äußerungen im Wege des Urkundenbeweises bereits nach § 249 StPO zulässig, ohne dass es auf die Voraussetzungen des § 250 Satz 2 in Verbindung mit §§ 251 ff. StPO ankommt (vgl. BGH, Urteile vom 16. Februar 1965 - 1 StR 4/65, BGHSt 20, 160, 161 ff.; vom 28. Juni 1995 - 3 StR 99/95, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Verwertungsverbot 4; Beschlüsse vom 25. September 2007 - 1 StR 350/07, NStZ-RR 2008, 48; vom 12. Februar 2004 - 1 StR 566/03, BGHSt 49, 68, 70). Denn § 250 StPO untersagt nur die Ersetzung der Zeugenaussage durch die Verwertung einer berichtenden, zu Beweiszwecken erstellten Urkunde, mag es sich dabei um ein Protokoll oder um eine schriftliche Erklärung des Zeugen handeln. Jenseits seines Anwendungsbereichs ist von dem der Systematik des Gesetzes zu entnehmenden allgemeinen Grundsatz auszugehen, dass das Gesetz den Urkundenbeweis zulässt, wo es ihn nicht ausdrücklich untersagt (BGH, Urteil vom 24. August 1993 - 1 StR 380/93, BGHSt 39, 305, 306; Beschluss vom 25. September 2007 - 1 StR 350/07, NStZ-RR 2008, 48; jeweils mwN). Ist die Bild-Ton-Aufzeichnung der Zeugenvernehmung im Sinne des § 255a Abs. 2 StPO gleichsam als vorgelagerter Teil der Hauptverhandlung zu behandeln, so gilt für sie nichts anderes.
Anders als von der Revision geltend gemacht wird, betrifft dies auch die Regelung des - zu § 250 StPO in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis stehenden (vgl. LR/Cirener/Sander, StPO, 27. Aufl., § 251 Rn. 1) - § 251 StPO. Die lediglich ergänzende Verlesung der polizeilichen Vernehmungsprotokolle wirkte hier gerade nicht nach § 251 StPO vernehmungsersetzend (vgl. BGH, Urteil vom 29. August 2007 - 5 StR 103/07, BGHR StPO § 250 Satz 2 Vernehmungsprotokoll 1 Rn. 13). Eine solche Wirkung kam nach dem Vorgesagten (allein) der Vorführung der ermittlungsrichterlichen Bild-Ton-Aufzeichnungen nach § 255a Abs. 2 StPO zu. In dessen Anwendungsbereich tritt die ermittlungsrichterliche Zeugenanhörung an die Stelle der Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung durch das Tatgericht (§ 250 Satz 1 StPO) und ist als in dieser durchgeführt zu bewerten.
(4) Auch unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) ist das Vorgehen der Strafkammer nicht zu beanstanden:
Die Entscheidung, ob die persönliche Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 StPO ersetzt werden kann, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2004 - 1 StR 566/03, BGHSt 49, 68, 71; BeckOK StPO/Berg, 55. Ed., § 255a Rn. 19). Hat es sich danach einen Eindruck vom Inhalt der Aussage des Zeugen durch Inaugenscheinnahme der ermittlungsrichterlichen Bild-Ton-Aufzeichnung verschafft (vgl. KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 255a Rn. 1, 3), so hat es dessen Glaubwürdigkeit im Rahmen der Beweiswürdigung nach allgemeinen Grundsätzen einer sorgfältigen Überprüfung zu unterziehen.
Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht hier seine Überzeugung von der Erlebnisbasiertheit der den - sich im Wesentlichen durch Schweigen verteidigenden - Angeklagten belastenden Angaben der beiden Geschädigten unter anderem auf die Konstanz ihres Aussageverhaltens gestützt und zu deren Bewertung die Protokolle ihrer polizeilichen Vernehmungen herangezogen. Entgegen dem Revisionsvorbringen war es aus Rechtsgründen nicht gehalten, zur Prüfung der Aussagekonstanz die früheren Aussagen der Zeuginnen vorrangig im Wege der Zeugenanhörung in die Hauptverhandlung einzuführen.
Maßgebend ist, ob der Kern des Geschehens und seine wesentlichen Details übereinstimmend bekundet wurden. Dies kann, je nach Einzelfallgestaltung, gleichermaßen auf Grund eines Vorhalts an den Zeugen, welcher die früheren Aussagen machte, durch Vernehmung der Verhörsperson oder durch Verlesung des Aussageprotokolls festgestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 1992 - 1 StR 336/91, juris Rn. 10; Beschluss vom 6. Juli 1992 - 5 StR 302/92, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 9). Das Verlesen nach § 249 Abs. 1 StPO und das Selbstlesen nach § 249 Abs. 2 StPO sind nach der gesetzlichen Wertung gleichwertig (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2020 - 5 StR 197/20, BGHSt 65, 155 Rn. 6). Danach kam hier weder der Vernehmung der polizeilichen Vernehmungsbeamtin noch der unmittelbaren Anhörung der beiden Geschädigten ein Vorrang vor dem gewählten Selbstleseverfahren zu.
b) Die weiteren Verfahrensrügen, mit denen der Angeklagte zum einen geltend macht, sein Antrag, die beiden Geschädigten im Anschluss an die vernehmungsersetzende Inaugenscheinnahme der ermittlungsrichterlichen Bild-Ton-Aufzeichnungen (§ 255a Abs. 2 StPO) in der Hauptverhandlung ergänzend als Zeuginnen zu vernehmen, sei rechtsfehlerhaft abgelehnt worden, und zum anderen einen Verstoß gegen das Konfrontationsrecht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK, § 255a Abs. 2 StPO rügt, haben aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg.
2. Die aufgrund der Sachrüge veranlasste umfassende Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 967
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede