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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 43

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 276/22, Beschluss v. 25.10.2022, HRRS 2023 Nr. 43


BGH 5 StR 276/22 - Beschluss vom 25. Oktober 2022 (LG Bremen)

BGHR; Notwehr durch lebensgefährliche Schüsse auf den Oberkörper (Geeignetheit; Erforderlichkeit; konkrete Kampflage; ex ante-Perspektive; Erkenntnishorizont des Angegriffenen; dynamisches Geschehen; Androhung; Warnschuss; nicht lebensgefährliche Verteidigung; keine übersteigerten Anforderungen; subjektives Notwehrelement).

§ 32 StGB

Leitsätze

1. Für die zur Beurteilung der Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung gebotene ex ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des Angeklagten nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildenden tatrichterlichen Überzeugung darstellt. Geprägt wird die Tatsituation eines Verteidigers dabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Erkenntnishorizont; maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers. (BGHR)

2. Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Für den lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen gilt dabei, dass ein solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er, wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen. (Bearbeiter)

3. Der Angegriffene ist grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Er muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Dabei dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. (Bearbeiter)

4. Eine Verteidigungshandlung ist bereits dann geeignet i.S.d. § 32 StGB; wenn dadurch nach dem maßgeblichen Erkenntnishorizont des Handelnden eine mögliche Chance zur Abwehr des Angriffs eröffnet wird. Eine für den Angeklagten nur ex post zu erlangende Kenntnis davon, dass eine entsprechende Eignung nicht bestand, würde dies nicht in Frage stellen; dies fällt vielmehr in das Risiko des Angreifers. (Bearbeiter)

5. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff des Verteidigers zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 25. Februar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchten Erwerbs einer erlaubnispflichtigen Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Die Verfahrensrüge dringt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch.

II.

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr verneint hat, weisen jedoch Rechtsfehler auf. Dies führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Am 16. März 2021 gegen 18.30 Uhr trafen sich der Angeklagte und der Mitangeklagte R. zur Abwicklung eines vom Letzteren angebahnten Ankaufs einer Pistole für etwa 4.000 Euro bei einer Straßenbahnhaltestelle in B. mit dem Nebenkläger. Der Angeklagte führte neben einem entsprechenden Geldbetrag eine Schusswaffe bei sich, um sich im Fall einer Auseinandersetzung zur Wehr setzen zu können. Es kam zu Unstimmigkeiten mit dem Nebenkläger, weil dieser vom Angeklagten zunächst die Übergabe des Geldes forderte. Nachdem er zwischenzeitlich mit seinem Motorrad davongefahren war, kehrte der Nebenkläger nach einigen Minuten in Begleitung des Zeugen M. zurück. Dieser forderte vom Angeklagten ebenfalls, zuerst den Kaufpreis zu bezahlen. Der Angeklagte holte darauf das Geld aus seiner Jackentasche und zeigte es vor. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang dazu sprühte der Nebenkläger mit einem Pfefferspray in Richtung des Angeklagten, der davon jedenfalls auch im Gesicht getroffen wurde. Entweder vor dem Einsatz des Pfeffersprays oder unmittelbar danach entriss der Zeuge M. dem Angeklagten das Geld.

Der Angeklagte, bei dem es sich um einen besonders geübten Schützen handelt, holte sodann den mitgeführten Revolver aus der Tasche. Dies sahen der Nebenkläger und der Zeuge M., drehten sich um und rannten zum Motorrad des Nebenklägers zurück. Der Angeklagte lief ihnen hinterher und forderte sie erfolglos zur Rückgabe des Geldes auf. Da beide weiter flüchteten, schoss er nun mindestens zweimal in schneller Folge gezielt auf Oberkörperhöhe in Richtung des Nebenklägers und des Zeugen M., die sich zwei bis drei Meter von ihm entfernt befanden, verfehlte sie jedoch. Als der Nebenkläger auf der Höhe eines Stichwegs ankam, in den der Zeuge M. bereits abgebogen war, drehte er sich für einen kurzen Augenblick um. Der zu diesem Zeitpunkt etwa 20 bis 25 Meter entfernte Angeklagte zielte und schoss mindestens ein weiteres Mal auf ihn. Das Projektil traf den Nebenkläger an der Körpervorderseite unterhalb des Schlüsselbeins. Trotzdem schaffte es der lebensgefährlich verletzte Nebenkläger, in den Stichweg einzubiegen und weiter zu laufen. Der Angeklagte brach sodann die weitere Verfolgung ab, weil er davon ausging, dass er die Fliehenden nicht mehr würde einholen können.

Bei allen Schüssen nahm der Angeklagte den Tod der anvisierten Personen zumindest billigend in Kauf. Das Landgericht ist zu seinen Gunsten davon ausgegangen, dass er auch mit dem Willen handelte, sich gegen die Entwendung des Geldes zur Wehr zu setzen.

b) Das Landgericht hat eine Rechtfertigung der drei Schüsse als Notwehr (§ 32 StGB) verneint. Zwar sei eine Notwehrlage gegeben gewesen, da sich der Angeklagte während der gesamten Tatzeit einem rechtswidrigen und noch gegenwärtigen Angriff auf sein Besitzrecht an dem entwendeten Geld ausgesetzt gesehen habe. Zu dessen Abwehr habe er aber nicht mindestens dreimal gezielt auf die Oberkörper des Nebenklägers und des Zeugen M. schießen dürfen, da es sich hierbei nicht um das mildeste, ihm in der konkreten Kampflage zur Verfügung stehende Mittel gehandelt habe. Er sei zwar nicht gehalten gewesen, den Waffengebrauch vorher verbal anzudrohen, da der Nebenkläger und der Zeuge M. seinen Revolver bereits gesehen hätten. Allerdings sei ihm zuzumuten gewesen, vor einem potentiell tödlichen Einsatz zunächst ungezielte Warnschüsse abzugeben und im Anschluss erst auf weniger sensible Körperteile zu schießen, um die Angreifer von der Sicherung der Tatbeute abzuhalten. Solche Schüsse seien dem Angeklagten als besonders geübten Schützen auch möglich gewesen; ein unzumutbares Risiko eines Fehlschlags sei damit nicht einhergegangen.

2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlungen und damit eine Rechtfertigung des Angeklagten abgelehnt hat, halten rechtlicher Überprüfung teilweise nicht stand. Es hat die drei Schüsse rechtlich einheitlich gewürdigt. Da diese unter sich ändernden Bedingungen abgegeben wurden, hätte es jedoch einer differenzierenden Betrachtung und in deren Konsequenz zusätzlicher Feststellungen bedurft.

a) Für die ersten beiden, bereits auf die Oberkörper der Fliehenden zielenden Schüsse des Angeklagten hat das Landgericht allerdings zutreffend angenommen, dass sie nicht im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich waren.

Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Für den lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen gilt dabei, dass ein solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen.

Reicht dies nicht aus, so muss er, wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen (vgl. nur BGH, Urteil vom 13. September 2017 - 2 StR 188/17, NStZ 2018, 84).

Zumindest Schüsse der letztgenannten Art auf weniger sensible Körperregionen wären dem Angeklagten hier möglich gewesen, ohne dabei die Erfolgschancen seiner Verteidigung in relevantem Umfang zu schmälern, da er sich bei Abgabe der Schüsse nur zwei bis drei Meter hinter den Fliehenden befand und er zudem im Umgang mit einer Schusswaffe erfahren war. Seine sofortigen Schüsse auf die Oberkörper entsprachen daher nicht der mildesten ihm zu Gebote stehenden Abwehrmöglichkeit.

b) Für den dritten Schuss hat das Landgericht dagegen nicht in den Blick genommen, dass sich im Verlauf des Tatgeschehens Umstände geändert haben, die für die Voraussetzungen der Notwehr wesentlich sind. Ausgehend hiervon hat es unzureichende Feststellungen getroffen, die es dem Senat nicht erlauben, die mögliche Erforderlichkeit des Schusses als Notwehrhandlung zu überprüfen. Das Landgericht hat über dieses Kriterium zudem nicht wie geboten anhand der konkreten tatsächlichen Umstände entschieden.

Zu beurteilen ist die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung auf der Grundlage einer objektiven ex ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung. Der Angegriffene ist grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Er muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (siehe nur BGH, Beschluss vom 4. August 2022 - 5 StR 175/22 mwN).

aa) Ausgehend hiervon erlauben es die vorhandenen Feststellungen jedoch schon nicht zu beurteilen, ob der dritte Schuss eine Beseitigung der Gefahr überhaupt ermöglichte, mithin ob er zur Abwehr des Angriffs auf das Besitzrecht des Angeklagten geeignet war. Dies unterliegt Zweifeln, weil der dritte Schuss - anders als die ersten beiden Schüsse - allein auf den Nebenkläger abgegeben wurde. Trug der Zeuge M., der die Geldscheine entrissen hatte, sie auch bei Abgabe des dritten Schusses noch bei sich, so erscheint fraglich, inwiefern eine Unterbindung der Flucht des Nebenklägers noch zur Abwehr des Angriffs hätte beitragen können. Dazu hätte das Handeln des Angeklagten schließlich die Aussicht bieten müssen, eine Beutesicherung durch den bereits vorauseilenden Zeugen M. noch zu verhindern. Das Landgericht hat nicht festgestellt, ob sich das Geld bei Abgabe des dritten Schusses noch beim Zeugen M. oder aber beim Nebenkläger befand.

Dies hätte hier jedoch allenfalls dann offen bleiben dürfen, wenn aus der gebotenen ex ante-Sicht gar nicht erkennbar gewesen sein sollte, welcher der Fliehenden das entwendete Geld mit sich führte, denn dann wäre aus dieser Perspektive jeder Schuss als chancenerhöhend für die Abwehr anzusehen gewesen, unabhängig davon, auf wen von beiden er abgegeben wurde. Auch über diese Frage geben die Urteilsgründe aber keine Auskunft. Im Einzelnen:

(1) Für die gebotene ex ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des Angeklagten nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildenden tatrichterlichen Überzeugung darstellt (BGH, Urteil vom 24. Juni 1998 - 3 StR 186/98, StV 1999, 143). Geprägt wird die „Tatsituation“ eines Verteidigers dabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Erkenntnishorizont; maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers (vgl. LK/Rönnau/Hohn, StGB, 13. Aufl., § 32 Rn. 180; MüKoStGB/Erb, 4. Aufl., § 32 Rn. 131 f., dort auch zu Gegenpositionen im Schrifttum). Für den Angeklagten war diese Perspektive naheliegend insofern limitiert, als ihm das Geld in einem plötzlich beginnenden, dynamischen Geschehen entrissen und zudem gegen ihn Reizgas eingesetzt worden war. Die Jugendkammer ist zwar davon ausgegangen, dass dies die Sehfähigkeit des Angeklagten „nicht signifikant“ verschlechtert hatte, konnte aber nicht ausschließen, dass er jedenfalls „im Gesicht getroffen und dementsprechend beeinträchtigt“ war.

(2) Aus der beschriebenen Perspektive bildete die Verhinderung der Flucht des Nebenklägers schon dann eine geeignete Abwehrhandlung, wenn der Verbleib des Geldes nicht erkennbar gewesen sein sollte. Denn aus dieser Sicht wäre dann von der Möglichkeit auszugehen gewesen, dass der Nebenkläger das Geld mit sich führte, so dass der Schuss auf ihn eine Chance zum Erhalt der von den Angreifern noch nicht endgültig gesicherten Beute begründen konnte. Eine für den Angeklagten nur ex post zu erlangende Kenntnis davon, dass sich das Geld beim Zeugen M. befand, würde dies nicht in Frage stellen; dies fällt vielmehr in das Risiko der Angreifer (vgl. LK/Rönnau/Hohn aaO; ebenso für ex ante objektiv unvermeidbare Irrtümer über die Erforderlichkeit Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Aufl., § 15 Rn. 46).

(3) Ob aus der umschriebenen Perspektive erkennbar war, wo sich das Geld befand, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Erschließbar ist dies auch nicht daraus, dass das Landgericht einen Verteidigungswillen des Angeklagten bejaht hat. Dies gilt schon deswegen, weil das Landgericht auch bei der Prüfung des Verteidigungswillens dem Verlauf des Tatgeschehens nicht wie geboten Rechnung getragen hat. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff des Verteidigers zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 126/21, StV 2022, 153; BGH, Urteil vom 25. April 2013 - 4 StR 551/12, NJW 2013, 2133). Dies stünde in Frage, sollte der Angeklagte den dritten Schuss auf den Nebenkläger in der Vorstellung abgegeben haben, dass dieser das Geld gar nicht bei sich trug. Einen solchen Zusammenhang hat die Jugendkammer jedoch nicht erkennbar bedacht; vielmehr hat sie einen Verteidigungswillen zugunsten des Angeklagten lediglich nicht auszuschließen vermocht und sich dabei allein auf eine vom Angeklagten behauptete Rückgabeaufforderung gestützt, die dieser bereits vor Abgabe der ersten beiden Schüsse an den Nebenkläger und den Zeugen M. gerichtet haben will. Damit hat die Jugendkammer keine Feststellung dahingehend getroffen, dass aus der Position des Verteidigers eine Erkenntnismöglichkeit oder beim Angeklagten gar eine positive Vorstellung dazu bestanden hätte, welcher der beiden Fliehenden das Geld bei sich führte. Somit bleibt auch in diesem Zusammenhang offen, ob er durch den Schuss den Angriff überhaupt noch abwehren konnte.

bb) Bei seiner Einschätzung der Erforderlichkeit des dritten Schusses hat das Landgericht zudem die zwischenzeitliche Änderung der äußeren Umstände außer Betracht gelassen.

Die maßgebliche „Kampflage“ (vgl. nur BGH, Urteil vom 8. Juni 2016 - 5 StR 564/15, NStZ 2017, 276; Beschluss vom 21. November 2019 - 4 StR 166/19, NStZ 2020, 725) stellte sich bei Abgabe des dritten Schusses ganz anders dar als bei den vorangegangenen Schüssen: Der Nebenkläger war vom Angeklagten nun bereits 20 bis 25 Meter entfernt, der Zeuge M. zuvor schon in einen Stichweg abgebogen. Ex ante lag damit nahe, dass ein Entkommen des Nebenklägers aus dem Schussfeld nun unmittelbar bevorstand und dem Angeklagten nur noch Gelegenheit zu einem letzten Schuss verblieb, um dies zu verhindern. Da die beiden gezielten, ihn allerdings verfehlenden Schüsse den Nebenkläger von seiner Flucht nicht abgehalten hatten, konnte dies realistisch nur noch durch einen Treffer gelingen.

Diese Änderung der Gegebenheiten hätte das Landgericht berücksichtigen müssen bei seiner Annahme, wonach ein solcher Treffer für den Angeklagten auch beim dritten Schuss bei einem Zielen auf die Beine noch immer mit gleicher Wahrscheinlichkeit erreichbar gewesen wäre wie bei einem Zielen in Richtung des Oberkörpers. Die Jugendkammer hat Schüsse auf die Beine gerade deshalb für möglich erachtet, weil der Angeklagte ein geübter Schütze ist. Sie ist also offenbar davon ausgegangen, dass die sich bewegenden Beine eines Fliehenden schwieriger zu treffen sind als sein Oberkörper. Dann hätte sie allerdings in ihren prognostischen Vergleich der Erfolgwahrscheinlichkeiten einstellen müssen, dass der Angeklagte den dritten Schuss unter weit ungünstigeren Bedingungen abgab als die ersten beiden Schüsse, bei denen er seine Ziele schon verfehlt hatte: Was aus einer Entfernung von lediglich zwei bis drei Meter gelingen konnte, muss aus rund zehnfacher Distanz keineswegs genauso erreichbar gewesen sein. Befanden sich die Fliehenden bei den ersten beiden Schüssen noch in einem weiten Schussfeld, so bestand beim dritten Schuss zudem wahrscheinlich keine Wiederholungsmöglichkeit mehr. Zu bedenken gewesen wäre bei der Beurteilung schließlich auch, dass an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 126/21, StV 2022, 153).

III.

1. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Das gilt aufgrund der vom Landgericht angenommenen Tateinheit auch für die ersten beiden - auf Grundlage der bisherigen Feststellungen - mit Tötungsvorsatz abgegebenen Schüsse, obgleich das Landgericht insoweit eine Rechtfertigung durch Notwehr rechtsfehlerfrei abgelehnt hat und die Feststellungen isoliert betrachtet eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags getragen hätten. Die Sache bedarf daher insgesamt der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung.

Der Senat verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO iVm § 74 Abs. 2 Nr. 4 GVG an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurück, da das Verfahren nur noch den erwachsenen Angeklagten betrifft und das Schwurgericht gegenüber der Jugendkammer kein Gericht höherer Ordnung ist (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 - 4 StR 103/02, in BGHSt 48, 119 nicht abgedruckt; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 355 Rn. 8).

2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls Feststellungen dazu zu treffen haben, bei welchem Angreifer sich das entwendete Geld zum Zeitpunkt der Abgabe des dritten Schusses befand. Für den Fall, dass nicht der Nebenkläger, sondern der Zeuge M. es bei sich trug, bedarf es auch Feststellungen dazu, ob dies für einen sorgfältig beobachtenden Verteidiger erkennbar war. Sollten Feststellungen möglich sein zur konkreten Vorstellung des Angeklagten, so käme auch ihr Relevanz zu: Sollte das Tatgericht zu der Ãœberzeugung gelangen, dass der Angeklagte positiv von einem Besitz des Zeugen M. ausging, so kann dies die erneute Annahme eines auch beim Schuss auf den Nebenkläger noch fortbestehenden Verteidigungswillens in Frage stellen (vgl. auch BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 3 StR 199/15, NStZ 2016, 333). Sollte der Angeklagte dagegen irrtümlich einen gar nicht bestehenden Besitz des Nebenklägers angenommen haben, könnte dies unter dem Gesichtspunkt der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts als ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB Bedeutung erlangen (siehe nur BGH, Beschlüsse vom 21. August 2013 - 1 StR 449/13, NJW 2014, 1121; vom 21. November 2019 - 4 StR 166/19, NStZ 2020, 725).

b) Sollte das neue Tatgericht bei einer gegebenenfalls zuzumessenden Strafe für versuchten Totschlag erneut eine Strafrahmenverschiebung nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB wegen der Nähe zur Tatvollendung versagen, so wird es zu beachten haben, dass es diesen Umstand bei der weiteren Konkretisierung der Strafe kein weiteres Mal ungemindert in Ansatz bringen darf (§ 46 Abs. 3 StGB; vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 2010 - 5 StR 113/10, NStZ 2010, 512). Dies gilt auch für eine Berücksichtigung bei der Entscheidung über die Annahme eines minder schweren Falls nach § 213 Alt. 2 StGB.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 43

Bearbeiter: Christian Becker