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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 314

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 372/21, Beschluss v. 26.10.2021, HRRS 2022 Nr. 314


BGH 2 StR 372/21 - Beschluss vom 26. Oktober 2021 (LG Hanau)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (positive Feststellung der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit: Schizophrenieerkrankung, Beurteilung in Bezug auf eine bestimmte Tat; symptomatischer Zusammenhang: Eigenschaften und Verhaltensweisen schuldfähiger Menschen; Darstellung in den Urteilsgründen).

§ 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt unter anderem die positive Feststellung voraus, dass der Beschuldigte eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat. Hierfür muss vom Tatgericht zunächst im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind.

2. Allein die Diagnose einer Schizophrenieerkrankung führt nicht schon für sich genommen zu der Feststellung einer generellen oder über längere Zeiträume andauernden gesicherten Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit; vielmehr ist stets im Einzelnen darzulegen, wie sich die Erkrankung in der konkreten Tatsituation auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf sie zurückzuführen sind. Dabei kann die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen - nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen.

3. Mit Blick auf den symptomatischen Zusammenhang zwischen Anlasstat und psychischer Erkrankung ist ferner zu untersuchen, ob in der Person des Beschuldigten oder in seinen Taten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist.

4. Neben der sorgfältigen Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen ist der Tatrichter auch verpflichtet, die insoweit wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hanau vom 15. Juni 2021 insoweit mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben, als die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet ist; jedoch bleiben die Feststellungen zu den Anlasstaten aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Raubes, wegen schwerer räuberischer Erpressung, wegen Errregung öffentlichen Ärgernisses in zwei Fällen, wegen Diebstahls in drei Fällen, wegen versuchter Nötigung sowie wegen Sachbeschädigung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, zu zwei Jahren und acht Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) ist tragfähig mit der fehlenden Erfolgsaussicht begründet.

II.

Indes hält die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Das Landgericht hat unter anderem folgende (Anlass-)Taten festgestellt:

a) Am 6. Dezember 2019 begab sich der einkommens- und wohnungslose Angeklagte zur Arbeitsstelle seiner Mutter, der Zeugin D. Im dortigen Anmeldebereich forderte er sie auf, ihm Geld zu geben, was diese jedoch ablehnte. Als sie wieder in ihr Büro zurückkehren wollte, packte der Angeklagte sie fest am Arm in der Absicht, sie vom Gehen abzuhalten. Die Zeugin konnte sich jedoch, ohne Verletzungen zu erleiden, aus dem Griff lösen und in ihr Büro zurückkehren.

b) Am 11. Juni 2020 erschien der Angeklagte an der Wohnung seiner Mutter und verlangte, deren Mobiltelefon benutzen zu dürfen, um damit seinen Vater und seine Großmutter anzurufen, um Geld für den Erwerb von Drogen zu erlangen. Als die Zeugin D. einen weiteren Anruf unterband und das zuvor aus dem Fenster hinausgereichte Handy wieder an sich zog, griff der Angeklagte in der Absicht, sich das Telefon anzueignen, durch das Fenstergitter und legte seinen Arm um den Hals seiner Mutter, sodass deren Kopf in seiner Armbeuge fixiert war. Sodann zog er seine Mutter zu sich, wodurch sie seitlich gegen das Fenstergitter gedrückt wurde und mit dem Kopf und dem Arm gegen das Gitter stieß. Das Mobiltelefon ließ sie fallen. Der Angeklagte ergriff durch das Fenster das auf einem Heizkörper zum Liegen gekommene Mobiltelefon und entfernte sich damit.

c) Am 15. Juni 2020 begab sich der Angeklagte zum wiederholten Mal zum Grundstück des Zeugen B. und betrat es, obwohl er wusste, dass ihm dies vom Eigentümer verboten worden war. Er begab sich zu der auf dem Grundstück befindlichen Gartenhütte, in der er zuvor bereits genächtigt hatte, brach den vom Zeugen B. angebrachten Holzriegel auf, öffnete so die Gartenhütte und stellte seine persönlichen Gegenstände dort ab. Auf Aufforderung der hinzugerufenen Polizei entfernte er sich wieder.

d) Am 17. Juli 2020 begab sich der Angeklagte in einen Einkaufsmarkt, nahm sich Lebensmittel im Gesamtwert von ca. 5 € aus dem Regal und verzehrte diese noch im Markt. Er verließ den Kassenbereich, ohne zu bezahlen. Im Anschluss hieran wurde er von zwei Marktmitarbeitern im Eingangsbereich des Marktes angehalten und aufgefordert, im dortigen Sitzbereich Platz zu nehmen; sie hatten die Polizei benachrichtigt. Der Angeklagte sah verwahrlost aus und gab für die Zeugen nicht nachvollziehbare Äußerungen von sich. Plötzlich und unvermittelt stand er auf, zog seine Hose herunter, drehte sich um, bückte sich und zog seine Gesäßbacken auseinander. Dies konnten einige Kunden wahrnehmen, den Marktmitarbeitern war der Anblick äußerst unangenehm.

e) Als die Mutter des Angeklagten am 5. August 2020 mit ihrem Pkw nach Hause kam, erwartete sie der Angeklagte, setzte sich unvermittelt in ihr Fahrzeug und forderte sie auf, an einen Ort zu fahren, wo er Drogen erwerben könne. Dort angekommen forderte der Angeklagte das Mobiltelefon seiner Mutter und nahm sich das Telefon eigenmächtig aus der auf dem Rücksitz befindlichen Handtasche, um es für sich zu behalten, als diese es ihm nicht geben wollte. Er stieg sodann aus dem Fahrzeug und entfernte sich.

f) Am Morgen des 8. August 2020 verlangte der Angeklagte von seiner Mutter Geld und Essen. Als diese ihm beides verweigerte, trat der Angeklagte aus Wut hierüber gegen das Fahrzeug der Mutter; der Sachschaden betrug 2.400 €.

g) Am 18. Oktober 2020 begab sich der Angeklagte erneut zur Wohnung seiner Mutter und forderte von ihr Geld und deren Mobiltelefon. Die Zeugin D. hatte ein älteres Mobiltelefon besorgt, das sie dem Angeklagten überlassen wollte. Das lehnte der Angeklagte ab und schlug seiner Mutter, um sich deren Mobiltelefon anzueignen, zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Sodann nahm er das Telefon samt Ladekabel und forderte weitere 30 €, die ihm seine Mutter aus Furcht vor weiteren Schlägen zusagte. Gemeinsam fuhren sie zu einer nahegelegenen Bank, wo die Zeugin 30 € abhob und dem Angeklagten übergab.

2. Die sachverständig beratene Strafkammer hat sich davon überzeugt, dass bei dem Angeklagten spätestens seit dem Jahr 2004 eine hebephrene Schizophrenie sowie ein Abhängigkeitssyndrom von verschiedenen Substanzen bestand. Dem Angeklagten sei in allen Fällen das Unrecht seiner Tat bewusst, seine Steuerungsfähigkeit jedoch aufgrund seiner Erkrankung bei allen Taten erheblich eingeschränkt gewesen.

3. Die Urteilsgründe belegen nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 63 StGB.

a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt unter anderem die positive Feststellung voraus, dass der Beschuldigte eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat. Hierfür muss vom Tatgericht zunächst im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307 mwN). Allein die Diagnose einer Schizophrenieerkrankung führt nicht schon für sich genommen zu der Feststellung einer generellen oder über längere Zeiträume andauernden gesicherten Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit; vielmehr ist stets im Einzelnen darzulegen, wie sich die Erkrankung in der konkreten Tatsituation auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf sie zurückzuführen sind (Senat, Beschluss vom 23. Juni 2020 - 2 StR 43/20 Rn. 11 mwN). Dabei kann die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen - nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Tat erfolgen (Senat, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 2 StR 114/20 Rn. 9 mwN). Mit Blick auf den symptomatischen Zusammenhang zwischen Anlasstat und psychischer Erkrankung ist ferner zu untersuchen, ob in der Person des Beschuldigten oder in seinen Taten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 5. September 2019 - 4 StR 206/19, NStZ-RR 2019, 372). Neben der sorgfältigen Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen ist der Tatrichter auch verpflichtet, die insoweit wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 23. Juni 2021 - 4 StR 81/21 Rn. 7; Senat, Beschluss vom 7. Juli 2020 - 2 StR 121/20 Rn. 7 mwN).

b) Dem werden die Ausführungen des angefochtenen Urteils nicht gerecht.

aa) Die Strafkammer hat sich der Auffassung des Sachverständigen angeschlossen, die Anlasstaten seien auf die Erkrankung des Angeklagten zurückzuführen, bei der es sich um eine schwere psychische Erkrankung handle, bei der affektive Veränderungen im Vordergrund standen, imperative und kommentierende Stimmen aber nur selten auftraten. Der Sachverständige hat dies ausweislich der Urteilsgründe zum einen mit der auf die Tat vom 11. Juni 2020 folgenden stationären Aufnahme des Angeklagten am 26. Juni 2020 begründet, bei der der Angeklagte massiv unruhig und nicht erreichbar gewesen sei. Ein ähnlicher zeitlicher Zusammenhang bestehe mit der Tat vom 18. Oktober 2020, der eine weitere stationäre Aufnahme gefolgt sei, bei der der Angeklagte aggressiv und gereizt gewesen sei. Eine vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit - bei erhaltener Einsichtsfähigkeit - sei hingegen nicht gegeben, da anhand des Vorgehens und der Motive (z.B. Geldknappheit) zu erkennen sei, dass der Angeklagte nicht ganz planlos vorgegangen sei.

bb) Diese - insgesamt recht knappen - Ausführungen des Landgerichts belegen schon nicht die Annahme, alle Anlasstaten seien sicher im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangen worden. Denn der Ausschluss aufgehobener Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 20 StGB, den der Sachverständige und die Strafkammer mit dem planvollen und vom Motiv der Geldknappheit getragenen Vorgehen des Angeklagten begründen, lässt keinen Schluss darauf zu, ob die Steuerungsfähigkeit sicher eingeschränkt im Sinne des § 21 StGB, nicht ausschließbar eingeschränkt oder erhalten war. Unklar und von der Strafkammer nicht näher dargelegt bleibt, warum aus einer Unterbringungssituation am 26. Juni 2020 Schlüsse auf den Einfluss der diagnostizierten Krankheit des Angeklagten auf die Tatbegehung am 11. Juni 2020 - die Raubtat zum Nachteil seiner Mutter - gezogen werden können, zumal der Angeklagte in der Zwischenzeit die Tat vom 15. Juni 2020 beging, was die Strafkammer bei ihrer Bewertung ebenfalls unberücksichtigt lässt. Ebensowenig ist nachvollziehbar, inwiefern eine „gereizte und aggressive Stimmung“ des Angeklagten bei der stationären Aufnahme nach der Tat am 18. Oktober 2020 für die Frage von Bedeutung ist, welchen konkreten Einfluss die psychotische Erkrankung des Angeklagten auf die zuvor verübte Tat hatte. Dies hätte näherer Darlegung bedurft, an der es die Urteilsgründe vermissen lassen.

cc) Eingehendere Erörterungen wären auch zu dem von § 63 StGB geforderten symptomatischen Zusammenhang zwischen der diagnostizierten Erkrankung des Angeklagten und den festgestellten Anlasstaten geboten gewesen. Denn die angenommene Tatmotivation, aus Geldknappheit Stehlenswertes zu entwenden, könnte auch unschwer normalpsychologisch zu erklären sein (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 2019 - 4 StR 206/19, NStZ-RR 2019, 372). Gleiches gilt für den Konsum von Lebensmitteln oder das Eindringen in eine als Schlafgelegenheit dienende Gartenhütte durch den obdachlosen Angeklagten. Auch aus dem Umstand, dass der Angeklagte im Anschluss an den Diebstahl vom 17. Juni 2020 „Unverständliches“ äußerte, lässt sich ohne nähere Darlegung nicht entnehmen, dass die zuvor begangene Tat auf der Erkrankung des Angeklagten aus dem Formenkreis der Schizophrenie beruht, zumal der Angeklagte ausweislich der Urteilsgründe ausgesagt hat, seine Reaktion in diesem Zeitpunkt habe dazu gedient, wieder in die Psychiatrie aufgenommen zu werden.

c) Die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten als Grundlage für die Anordnung nach § 63 StGB bedarf daher insgesamt neuer Prüfung. Die den Anlasstaten zugrundeliegenden Feststellungen, die auch den nunmehr rechtskräftigen Schuld- und Strafausspruch tragen, haben Bestand. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 314

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß