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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 756

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 81/21, Beschluss v. 23.06.2021, HRRS 2021 Nr. 756


BGH 4 StR 81/21 - Beschluss vom 23. Juni 2021

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Feststellung eines ursächlichen Defektzustandes; Gefährlichkeitsprognose: Dauerhaftigkeit des Defektzustandes; allgemeine Darlegungsanforderungen; spezifische Darlegungsanforderungen bei Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis).

§ 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat(en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um eine Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

2. Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Münster bei dem Amtsgericht Bocholt vom 15. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Beschuldigten, die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet ist. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte unter einer paranoiden Schizophrenie und einer Impulskontrollstörung.

2 Am 10. Januar 2019 befand sich der an diesem Tag auffällig aggressive Beschuldigte auf der geschützten Station eines Krankenhauses und begab sich in den Bereich vor dem Stationsbüro, der von Patienten nicht betreten werden soll. Als zwei nebeneinanderstehende Pflegerinnen die Tür des Büros ein Stück weit öffneten, stellte der Beschuldigte einen Fuß in die Tür und schlug unvermittelt mit der Faust zweimal zu, wobei er die eine Pflegerin im Gesicht und die andere an der linken Schulter traf. Während der Faustschlag ins Gesicht bei der Geschädigten zu Nasenbluten und Kopfschmerzen sowie einer Beschädigung ihrer Brille führte, hatte der Schlag gegen die Schulter eine schmerzhafte Prellung zur Folge. Nachdem mehrere herbeigerufene Personen hinzugekommen waren, versetzte der Beschuldigte, der weiterhin aggressiv wirkte, einer Ärztin einen Schlag mit der Faust ins Gesicht, der bei der Geschädigten zu Schwindel, Benommenheit und Kopfschmerzen führte (Taten II. 1 bis 3 der Urteilsgründe).

Im November 2019 zündete der Beschuldigte in der Obdachlosenunterkunft, in der ihm ein Zimmer zugewiesen worden war, eine auf einem Spind liegende Fahne an. An einem anderen Tag brach er einen Feuerlöscher samt Halterung von der Wand (Taten II. 4 und 5 der Urteilsgründe). Am 4. Dezember 2019 verwüstete der Beschuldigte schließlich Teile der Obdachlosenunterkunft, indem er unter anderem zwei Fensterscheiben einschlug und im Gemeinschaftsbadezimmer Waschbecken und Spiegel zerschlug. Zudem setzte er eine Matratze in Brand, löschte die Flammen jedoch wieder, bevor das Feuer auf andere Sachen oder Gebäudebestandteile übergreifen konnte. Es entstand ein Sachschaden in vierstelliger Höhe (Tat II. 6 der Urteilsgründe).

Aufgrund der Erkrankung des Beschuldigten waren seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu den jeweiligen Tatzeiten aufgehoben.

4 5 II.

Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hat keinen Bestand, weil die Beweiswürdigung, die der Schuldfähigkeitsbeurteilung und der Annahme eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem psychischen Zustand des Beschuldigten und den Anlasstaten durch die Strafkammer zugrunde liegt, einer rechtlichen Prüfung nicht standhält.

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat(en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um eine Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 2017 ? 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576; vom 12. Oktober 2016 ? 4 StR 78/16, StV 2017, 588).

Die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit. Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; 6 7 8 vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 4. Dezember 2018 ? 4 StR 443/18, StV 2019, 236 mwN; vom 12. Oktober 2016 ? 4 StR 78/16, aaO).

2. Die Annahme einer zustandsbedingten Aufhebung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten bei Begehung der Anlasstaten wird durch die Urteilsausführungen zur Beweiswürdigung nicht tragfähig belegt.

Nach den in den Urteilsgründen mitgeteilten Darlegungen des psychiatrischen Sachverständigen litt der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Taten unter einer akut exazerbierten paranoiden Schizophrenie sowie einer Impulskontrollstörung. Neben einer deutlichen Antriebssteigerung, psychomotorischen Unruhe, gereizten Stimmung und formal gedanklichen Inkohärenz habe bei dem Beschuldigten ein Wahnerleben im Sinne eines Vergiftungs-, Beobachtungsund Verfolgungswahns dominiert, das als unmittelbar handlungsleitend anzusehen sei. Unter dem Einfluss von Wahnvorstellungen komme es zu einer massiven Steigerung von Fremdaggressivität bei dem Beschuldigten, der seine Affektlage und seine Impulse in derartigen Phasen nicht kontrollieren könne. Dieser gutachterlichen Beurteilung des Sachverständigen hat sich das Landgericht ohne weitere Ausführungen angeschlossen, ohne indes ? wie es sachlich-rechtlich geboten gewesen wäre (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2017 ? 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165, 166 mwN; Beschluss vom 13. Januar 2021 ? 4 StR 300/20 Rn. 4; vgl. auch Kuckein/Bartel in KK-StPO, 8. Aufl., § 267 Rn. 16 mwN) ? die diese Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen wiederzugeben. Aufgrund dieser unzureichenden Darstellung kann das mitgeteilte Ergebnis der Begutachtung durch den psychiatrischen Sachverständigen vom Senat nicht 9 10 nachvollzogen werden, zumal sich aus den Sachverhaltsfeststellungen zu den einzelnen Anlasstaten unmittelbar keine tatsächlichen Anhaltspunkte für ein Wahnerleben beim Beschuldigten ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 756

Externe Fundstellen: StV 2022, 288

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner