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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 77

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 381/20, Urteil v. 05.11.2020, HRRS 2021 Nr. 77


BGH 4 StR 381/20 - Urteil vom 5. November 2020 (LG Arnsberg)

Grundsätze der Strafzumessung (tatschulderhöhende Berücksichtigung einer Einfuhrfahrt ohne Überprüfung der Art und Menge des transportierten Rauschgifts; nur ausnahmsweise tatschuldverringernde Berücksichtigung erlittener Untersuchungshaft); Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Würdigung von Einlassungen des Angeklagten); Revisionsbeschränkung (Wirksamkeitsvoraussetzungen: rechtliche und tatsächliche Trennbarkeit des Urteils).

§ 46 StGB; § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 29 BtMG; § 261 StPO; § 318 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Revisionsbeschränkung ist nur wirksam, wenn sie sich auf Beschwerdepunkte bezieht, die nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von seinem nicht angegriffenen Teil rechtlich und tatsächlich selbstständig beurteilt werden können, ohne eine Prüfung des Urteils im Übrigen erforderlich zu machen. Weiterhin muss gewährleistet sein, dass die infolge des Teilrechtsmittels stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt.

2. Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen, sind nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn es für ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit keine Beweise gibt. Vielmehr ist die Einlassung des Angeklagten - ebenso wie andere Beweismittel - auf ihre Plausibilität und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

3. Im Rahmen der Strafzumessung kann gegebenenfalls tatschulderhöhend berücksichtigt werden, dass der Angeklagte die für das Rechtsgut der Volksgesundheit riskante Einfuhrfahrt angetreten hat, ohne die Menge der transportierten Drogen zu prüfen. Gleiches gilt auch für die Art des transportierten Rauschgifts. Der Beschluss des 1. Strafsenats vom 21. März 1989 steht dieser Rechtsauffassung nicht entgegen, weil er sich zu der Frage tatschulderhöhender Berücksichtigung eines Fahrlässigkeitsvorwurfs im Hinblick auf die vom Vorsatz nicht umfasste Betäubungsmittelart nicht verhält.

4. Untersuchungshaft ist grundsätzlich kein Strafmilderungsgrund, wenn der Angeklagte zu einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe verurteilt wird; diese wird grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet. Anderes gilt nur in Fällen, in denen der Vollzug der Untersuchungshaft ausnahmsweise mit ungewöhnlichen, über das übliche Maß deutlich hinausgehenden Beschwernissen verbunden ist. Will das Tatgericht den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, so müssen die hierdurch bewirkten besonderen Nachteile nachvollziehbar festgestellt und belegt werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 29. Mai 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und die sichergestellten Betäubungsmittel eingezogen.

Hiergegen richtet sich die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, mit der Sachrüge begründete und auf den Strafausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel erfasst auch den Schuldspruch und hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen fuhr der Angeklagte am 17. Oktober 2019 im Auftrag eines Dritten mit einem Kraftfahrzeug über die niederländisch-deutsche Grenze in das Bundesgebiet; im Kofferraum des ihm überlassenen Fahrzeugs befand sich eine Einkaufstasche mit insgesamt 12.453,7 Gramm Amphetamin mit einem Wirkstoffgehalt von 1.182 Gramm Amphetaminbase, 1.981,5 Gramm Crystal-Meth mit einem Wirkstoffanteil von 1.447 Gramm Metamphetaminbase sowie 984,6 Gramm Haschisch mit einer Wirkstoffmenge von 7,4 Gramm Tetrahydrocannabinol. Der Angeklagte glaubte, zwei Kilogramm Marihuana zu transportieren; als Entlohnung für seine Kurierdienste sollte er 800 € erhalten. Bei einer Fahrzeugkontrolle wurde das Rauschgift entdeckt und sichergestellt.

2. Das Landgericht hat den Tatbestand der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 27 StGB in subjektiver Hinsicht als erfüllt angesehen; zwar habe der Angeklagte die Kurierfahrt in der irrigen Vorstellung durchgeführt, eine nicht geringe Menge Marihuana unerlaubt über die niederländisch-deutsche Grenze in das Bundesgebiet einzuführen; dieser Irrtum lasse den Tatvorsatz jedoch unberührt. Bedingter Vorsatz im Hinblick auf „die neben dem Marihuana transportierten Betäubungsmittel“ habe nicht festgestellt werden können; der Angeklagte habe in der Hauptverhandlung unwiderlegbar angegeben, aufgrund der mit seinem Auftraggeber getroffenen Vereinbarungen und der in Aussicht gestellten Entlohnung in Höhe von 10 % des Verkaufspreises geglaubt zu haben, zwei Kilogramm Marihuana zu transportieren.

3. Das Landgericht hat seiner Strafzumessung den Strafrahmen des § 30 Abs. 2 BtMG zugrunde gelegt. Sowohl bei der Prüfung des Vorliegens eines minder schweren Falles im Sinne des § 30 Abs. 2 BtMG als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne hat es strafmildernd berücksichtigt, dass der Vorsatz des Angeklagten „auf Marihuana-Produkte“ gerichtet war. Eine tatschulderhöhende Berücksichtigung fahrlässigen Handelns im Hinblick auf die tatsächlich transportierten gefährlicheren Betäubungsmittel hat es abgelehnt.

II.

Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die auch den Schuldspruch erfasst, hat Erfolg.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbeschränkt eingelegt; die nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erklärte Beschränkung des Rechtmittels auf den Strafausspruch ist unwirksam.

a) Eine Revisionsbeschränkung ist nur wirksam, wenn sie sich auf Beschwerdepunkte bezieht, die nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von seinem nicht angegriffenen Teil rechtlich und tatsächlich selbstständig beurteilt werden können, ohne eine Prüfung des Urteils im Übrigen erforderlich zu machen. Weiterhin muss gewährleistet sein, dass die infolge des Teilrechtsmittels stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 12. März 2020 - 4 StR 537/19, juris Rn. 6; vom 17. Juni 2010 - 4 StR 126/10, BGHSt 55, 174, 175 f.; vom 2. März 1995 - 1 StR 595/94, BGHSt 41, 57, 59; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 318 Rn. 6 f.).

b) Eine Auslegung der Revisionsbegründungsschrift unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV ergibt, dass die Staatsanwaltschaft sich mit ihren Einzelausführungen nicht nur gegen die Strafzumessung des tatgerichtlichen Urteils wendet, sondern die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite als rechtsfehlerhaft angreift; insbesondere wendet sie sich gegen die Beweiserwägungen, die der Feststellung des Irrtums des Angeklagten im Hinblick auf die Art und die Menge des transportierten Rauschgifts zugrunde liegen und den Schuldspruch tragen. Bei dieser Sachlage erweist sich die Beschränkung der Revision auf den Strafausspruch in der vorliegenden Fallkonstellation, die sich von der dem Urteil des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 21. August 2019 - 1 StR 218/19 (NStZ 2020, 44) zugrundeliegenden Sachverhaltskonstellation einer Fehlvorstellung des Angeklagten (nur) über die Menge des transportierten Rauschgifts unterscheidet, als unwirksam, weil nur bei umfassender Anfechtung gewährleistet ist, dass die stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von Widersprüchen bleibt.

2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts zur inneren Tatseite hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiserwägungen sind lückenhaft.

a) Die Urteilsgründe lassen die erforderliche eigenständige und kritische Würdigung der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vermissen; dies lässt besorgen, dass das Tatgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass Angaben des Angeklagten, für deren Richtigkeit keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen, nicht ohne Weiteres als unwiderlegt hinzunehmen und der Entscheidung zugrunde zu legen sind, wenn es für ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit keine Beweise gibt. Vielmehr ist die Einlassung des Angeklagten - ebenso wie andere Beweismittel - auf ihre Plausibilität und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. November 2019 - 5 StR 451/19, juris Rn. 7; vom 20. April 2006 - 3 StR 284/05, NStZ 2006, 652, 653 und vom 16. Oktober 1997 - 4 StR 482/97, StV 1998, 589, 590; zum erheblich verminderten Beweiswert einer Einlassung mittels Verteidigererklärung vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2020 - 2 StR 69/19, juris Rn. 23).

Das Landgericht hat nicht geprüft, ob die Einlassung des Angeklagten, vom Transport der abgesprochenen Marihuanamenge ausgegangen zu sein, die in einer Einkaufstasche im Kofferraum transportierten Betäubungsmittel bei Übergabe des Fahrzeugs durch seinen Auftraggeber nicht kontrolliert zu haben, plausibel erscheint. Dies versteht sich aus mehreren Gründen nicht von selbst. Angesichts der offen im Kofferraum gelagerten Betäubungsmittel bestand naheliegend ein hohes Risiko für den Auftraggeber, dass der Angeklagte dessen Täuschung über Art und Menge der Rauschgiftlieferung entdecken und die Transportfahrt deshalb scheitern könnte. Auch der Umstand, dass der Angeklagte nach seiner Einlassung überdies das Kaufgeld entgegen nehmen sollte, barg für den Auftraggeber auch dann, wenn dem Angeklagten „der Betrag, den er kassieren sollte, […] erst kurz vorher mitgeteilt worden“ wäre, die Gefahr einer Aufdeckung der Täuschung und das Risiko, dass der Angeklagte angesichts des hohes Wertes der Lieferung an den Auftraggeber mit einer Forderung nach Erhöhung des Kurierlohns herantreten würde.

Diese Umstände können die Einlassung des Angeklagten in Frage stellen und waren deshalb erörterungsbedürftig.

b) Darüber hinaus fehlt es gänzlich an einer Würdigung der über die Zeugenaussage des Vernehmungsbeamten eingeführten früheren Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren. Insoweit hätte neben der Würdigung und Bewertung der das Kerngeschehen betreffenden abweichenden früheren Angaben des Angeklagten, nicht gewusst zu haben, dass sich in dem Kraftfahrzeug Drogen befanden, auch geprüft werden müssen, ob der Angeklagte den Inhalt seiner Einlassung mit Fortschreiten der Ermittlungen an die Beweislage angepasst haben könnte. Ein solches Aussageverhalten kann Anlass zu Zweifeln am Wahrheitsgehalt des Teilgeständnisses geben.

c) Schließlich fehlt es an einer Erörterung der Frage, ob das Teilgeständnis des Angeklagten mit dem Inhalt der über den Messengerdienst WhatsApp geführten Kommunikation zwischen dem Angeklagten und seinem Auftraggeber in Einklang zu bringen ist. Soweit der dazu vernommene Polizeibeamte angegeben hatte, dass in dem Anfang Oktober 2019 beginnenden „langen Chatverlauf“ auch der Kurierlohn thematisiert worden sei und der Auftraggeber sich über die zu hohen Forderungen des Angeklagten beschwert habe, lassen die Urteilsgründe eine Würdigung dieser Beweisergebnisse vermissen. Unerörtert bleibt auch der Umstand, dass in diesem Zusammenhang eine Summe von 30.000 € genannt worden sein soll. Sollte das Landgericht diesem Gesichtspunkt jede Beweisbedeutung abgesprochen haben, weil es auch insoweit der Aussage des Angeklagten Glauben schenkte, dass diese Summe „sarkastisch“ gemeint gewesen sei, kann dies angesichts des Fehlens jeglicher Begründung einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht unterzogen werden.

3. Die rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung zur inneren Tatseite entzieht dem Schuldspruch die Grundlage.

4. Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:

Sollte das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht erneut zu der Überzeugung (§ 261 StPO) gelangen, dass der Angeklagte subjektiv annahm, zwei Kilogramm Marihuana in die Bundesrepublik Deutschland einzuführen, könnte im Rahmen der Strafzumessung gegebenenfalls tatschulderhöhend berücksichtigt werden, dass der Angeklagte die für das Rechtsgut der Volksgesundheit riskante Einfuhrfahrt angetreten hat, ohne die Menge der transportierten Drogen zu prüfen (zur Mehrmenge vgl. BGH, Urteile vom 12. September 2019 - 5 StR 325/19, NStZ 2020, 553, 554; vom 10. Februar 2011 - 4 StR 576/10, NStZ 2011, 460, 461; vom 21. April 2004 - 1 StR 522/03, juris Rn. 13; vom 6. September 1995 - 2 StR 310/95, StV 1996, 90). Gleiches gilt - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hingewiesen hat - auch für die Art des transportierten Rauschgifts. Der Beschluss des 1. Strafsenats vom 21. März 1989 (1 StR 11/89, BGHR BtMG § 29 Strafzumessung 5) steht dieser Rechtsauffassung nicht entgegen, weil er sich zu der Frage tatschulderhöhender Berücksichtigung eines Fahrlässigkeitsvorwurfs im Hinblick auf die vom Vorsatz nicht umfasste Betäubungsmittelart nicht verhält.

Im Übrigen wird das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht bei der Strafrahmenwahl und der Strafzumessung im engeren Sinne zu beachten haben:

Bei Annahme eines minder schweren Falles der Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge im Sinne des § 30 Abs. 2 BtMG wird zu prüfen sein, ob die Strafe gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB nach dem tateinheitlich verwirklichten Delikt der Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu bestimmen ist (vgl. BGH, Urteil vom 2. Juli 2020 - 4 StR 136/20, juris Rn. 5). Bei Annahme eines Regelfalls gemäß § 29a Abs. 1 BtMG wäre damit auch bei obligatorischer Strafrahmenmilderung gemäß § 27 StGB eine höhere Strafrahmenobergrenze (11 Jahre 3 Monate) maßgeblich.

Untersuchungshaft ist grundsätzlich kein Strafmilderungsgrund, wenn der Angeklagte zu einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe verurteilt wird; diese wird gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet. Anderes gilt nur in Fällen, in denen der Vollzug der Untersuchungshaft ausnahmsweise mit ungewöhnlichen, über das übliche Maß deutlich hinausgehenden Beschwernissen verbunden ist (BGH, Urteile vom 24. August 2016 - 2 StR 504/15, NStZ-RR 2017, 40, 42; vom 19. Dezember 2013 - 4 StR 303/13, NStZ-RR 2014, 82, 83). Will das Tatgericht den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, so müssen die hierdurch bewirkten besonderen Nachteile nachvollziehbar festgestellt und belegt werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 77

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 574

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner