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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 764

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 454/19, Urteil v. 07.10.2020, HRRS 2021 Nr. 764


BGH 2 StR 454/19 - Urteil vom 7. Oktober 2020 (LG Darmstadt)

Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen (Anvertrautsein: Abhängigkeitsverhältnis, Maßgeblichkeit des Einzelfalls, Orientierung am Schutzzweck der Vorschrift, mangelnde Maßgeblichkeit des Erziehungsstils; Obhutsverhältnis: auch bei Anvertrautsein zur zeitweiligen Betreuung einer unter 16 Jahre alten Person); Ruhen der Verjährung (Erfassung Sexueller Missbrauch von Jugendlichen mit Wirkung zum 27. Januar 2015; Rückwirkung; Ausschluss bei Verjährung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens); Freispruch bei rechtlichem Zusammentreffen von schwererem und leichterem Vorwurf.

§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 182 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. und n.F. setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, wobei sich die Begriffe der Erziehung, der Ausbildung und der Betreuung in der Lebensführung in ihrem Bedeutungsgehalt überschneiden. Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten.

2. Ein Anvertrautsein im Sinne einer Unter- und Überordnung kann außer im schulischen Bereich auch in anderen, den Verhältnissen an einer Schule vergleichbaren Fällen bestehen, etwa im Einzel- oder im Mannschaftssport ebenso in einem anderweitigen Ausbildungsverhältnis. Maßgebend sind in jedem Fall die konkreten, tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls. Bei deren Bewertung muss sich der Tatrichter am Schutzzweck der Vorschrift orientieren, wonach Minderjährige und daher regelmäßig noch nicht ausgereifte Menschen vor sexuellen Übergriffen durch Autoritätspersonen bewahrt werden sollen, denen sie durch einen Vertrauensbeweis überantwortet und damit gewissermaßen in die Hand gegeben sind.

3. Maßgeblich für das Anvertrautsein ist allein, dass der Heranwachsende in die Verantwortung des späteren Täters gegeben worden ist, nicht hingegen, auf welche Art und Weise, also mit welchem Erziehungsstil, der Täter einen ihm möglichen Einfluss im Wege der Über- und Unterordnung auf das Opfer ausübt.

4. Ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann auch gegeben sein, wenn die unter 16 Jahre alte Person einem anderen zur (zeitweiligen) Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist.

5. Die Ruhensregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfasst die Norm des § 182 StGB erst mit Wirkung zum 27. Januar 2015. Diese Regelung gilt zwar auch rückwirkend für vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangene Taten. Ihre Anwendung ist indes ausgeschlossen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes bereits Verjährung eingetreten war.

6. Auf Freispruch und nicht auf Einstellung des Verfahrens ist zu erkennen, wenn bei rechtlichem Zusammentreffen eines schwereren und eines leichteren Vorwurfs der schwerere nicht nachweisbar, der leichtere aber wegen eines Prozesshindernisses nicht verfolgbar ist.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 30. April 2019 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit das Verfahren nach § 260 Abs. 3 StPO eingestellt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt, ihn hinsichtlich drei weiterer angeklagter Fälle aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und das Verfahren im Übrigen wegen Verfolgungsverjährung eingestellt.

Die Staatsanwaltschaft rügt die Verletzung materiellen Rechts. Sie erstrebt eine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF in den wegen Verjährung eingestellten Fällen (Fälle 7, 9 bis 11, 13, 14, 16 bis 21 der Anklage). Die Revision hat Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der Angeklagte, der sexuell neben erwachsenen Männern auch an Jungen im pubertierenden Alter interessiert ist, leitete zusammen mit einer weiteren Person seit 2002 einen evangelischen Jungbläserchor. „In dieser Position“ konnte er sich den Jungen, „die ihn sexuell besonders reizten, auch ungezwungen körperlich nähern, um auszutesten, wie weit er bei ihnen gehen konnte“. Er hoffte dabei auf den Erfolg seiner Annäherungsversuche und den Aufbau einer sexuellen Beziehung zu einem oder mehreren Jungen.

Der am 2. April 1993 geborene Nebenkläger wurde im Jahr 2002 Mitglied des Orchesters, deren Proben - außer in den Schulferien - wöchentlich unter der Leitung des Angeklagten stattfanden. „Mehrfach“ fuhr das Orchester mit dem Angeklagten und einer weiteren (erwachsenen) Person zu mehrtägigen Probefahrten in andere Städte, teilweise auch in das benachbarte Ausland.

Der Angeklagte, der den Nebenkläger „als besonders hübsch und sexuell anziehend empfand“, baute frühzeitig ein besonders enges Verhältnis zu ihm auf. Er holte ihn häufig vor der Chorprobe ab, brachte ihn danach wieder nach Hause und half ihm ab und zu bei dessen schulischen Aufgaben. Auch zum Geburtstag und zur Firmung des Nebenklägers war er eingeladen; da der Angeklagte nicht katholisch ist, konnte er indes nicht - wie vom Nebenkläger erwogen - dessen Firmpate werden. Die Eltern des Nebenklägers, die allein die Erziehungsaufgaben wahrnahmen, „vertrauten […] dem Angeklagten dermaßen, dass ihr Sohn nicht nur nachmittags stundenlang beim Angeklagten verbringen, sondern auch gelegentlich bei diesem übernachten durfte“.

Der Angeklagte und der Nebenkläger machten „gelegentlich“ gemeinsame Ausflüge mit dem Fahrrad oder sie gingen schwimmen. Häufig kochten sie und aßen danach beim Angeklagten. Zudem gab es gemeinsame Filmabende, an denen häufig auch andere Mitglieder des Orchesters teilnahmen. „Teilweise“ feierte der Angeklagte mit den Jungen in seinem Haus Partys, bei denen alle Alkohol und Zigaretten konsumieren durften. „Der Angeklagte achtete sehr darauf, dass er den Jungen keine Regeln vorgab und sie bei ihm ‚tun und lassen konnten‘, was sie wollten, da es ihm sehr darauf ankam, dass sie gerne zu ihm kamen und sich bei ihm wohlfühlten“. Der Nebenkläger „empfand den Angeklagten daher auch als ‚erwachsenen besten Kumpel‘ und keineswegs als Vaterfigur, vielmehr eher wie ein gutmütiger ‚Onkel‘, der einem alles erlaubte und mit dem man ‚allerlei Spaß‘ haben konnte“. Der Angeklagte versuchte sich immer wie ein gleichaltriger Junge zu gerieren und nicht wie ein Erwachsener, um sich damit „einfacher“ seine sexuellen Wünsche erfüllen zu können.

Spätestens ab April 2005 begann der Angeklagte bei dem Nebenkläger mit „eindeutigen sexuellen Andeutungen und Übergriffen“. Im Rahmen spielerischer Aktivitäten streichelte er beispielsweise bewusst über der Kleidung des Nebenklägers dessen Geschlechtsteil oder redete „häufig“ über „Selbstbefriedigung“ und andere sexuelle Handlungen. Der Angeklagte schaffte „ganz bewusst eine sexualisierte Atmosphäre“ und nutzte die Unerfahrenheit der pubertierenden, an diesen Themen gleichwohl interessierten Jungen aus. Er zeigte ihnen beispielsweise homosexuelle Pornovideos, um ihr Interesse an homosexuellen Handlungen zu wecken und sie zugleich darauf vorzubereiten. Der Angeklagte fing an, offen vor dem Nebenkläger bis zum Samenerguss zu onanieren, wobei er ihn zu zusätzlicher Stimulation aufforderte. Auch umgekehrt befriedigte der Angeklagte den Nebenkläger manuell, später häufiger oral bis zum Samenerguss. Bis Ende Oktober 2008 kam es immer wieder zu - auch gegenseitigen - sexuellen Handlungen. Im Laufe der Zeit „musste“ der Nebenkläger „mehrfach den Penis des Angeklagten in den Mund nehmen, was er aber jeweils nur für kurze Zeit tat, da er dies als eklig empfand“.

Für den sexuell unerfahrenen Nebenkläger war es „normal, sexuelle Handlungen mit dem Angeklagten durchzuführen, wenn er mit diesem zusammen war“; er nahm „dies so hin, da der Angeklagte als deutlich älterer Erwachsener ihm gegenüber wie selbstverständlich die sexuellen Handlungen vornahm oder an sich vornehmen ließ“.

b) In vier zeitlich konkretisierbaren Fällen zwischen dem 2. April 2006 und dem 21. Oktober 2006 kam es zwischen dem Angeklagten und dem 13-jährigen Nebenkläger zu sexuellen Handlungen, in denen der Angeklagte u. a. vor dem Nebenkläger bis zum Samenerguss masturbierte oder der Nebenkläger den Angeklagten in einem Fall im Intimbereich rasierte.

c) In 12 Fällen, die sich nach dem 14. Geburtstag des Nebenklägers zwischen dem 16. Mai 2007 und dem 30. Oktober 2008 ereigneten, kam es zu weiteren sexuellen Kontakten zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger, u.a. - auch wechselseitig - zu Masturbation und zum Oralverkehr, sowie in einem Fall zu einem Versuch analer Penetration.

2. Die Strafkammer hat die vier Taten des geständigen Angeklagten, die zum Nachteil des Nebenklägers vor dessen 14. Geburtstag begangen wurden, als sexuellen Missbrauch eines Kindes bewertet.

3. a) Hinsichtlich der Taten, die nach dem 14. Geburtstag des Nebenklägers begangen wurden, sei zwar jeweils der Tatbestand des § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 13. November 1998 erfüllt; unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt stünde der Verfolgbarkeit dieser Taten indes deren Verjährung entgegen.

b) Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF sei nicht verwirklicht, weil die Voraussetzungen eines Obhutsverhältnisses nicht erfüllt seien. Ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Über- und Unterordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasse, liege nicht vor, da der Angeklagte nicht befugt gewesen sei, gegenüber dem Nebenkläger Verbote und Erlaubnisse zu erteilen und Strafen zu verhängen. Der Nebenkläger habe den Angeklagten „keinesfalls als Vaterfigur angesehen […], allenfalls als einen ‚Onkel‘, mit dem man viel Spaß haben konnte“, beschrieben. Erziehungsaufgaben hätten allein seine Eltern wahrgenommen. Die Stellung, die der Angeklagte während der Chorfahrten möglicherweise eingenommen habe, habe in den einzelnen Zeiträumen der festgestellten Taten nicht bestanden.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg und führt zuungunsten und zugunsten (§ 301 StPO) des Angeklagten zur Aufhebung des Urteils, soweit das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt worden ist.

1. Das Rechtsmittel ist wirksam auf die nach § 260 Abs. 3 StPO vorgenommene Teileinstellung beschränkt.

Die Staatsanwaltschaft hat zwar eingangs ihrer Revisionsbegründungsschrift allgemein die Verletzung materiellen Rechts gerügt, „insbesondere“ jedoch die Verletzung der Bestimmung des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF, und abschließend beantragt, das Urteil „im angefochtenen Umfang“ aufzuheben. Aus dem Inhalt der Revisionsbegründungsschrift ergibt sich, dass die Revisionsführerin das Urteil ausschließlich - und ersichtlich abschließend - deswegen für fehlerhaft hält, weil das Landgericht § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF rechtsfehlerhaft nicht angewendet hat. Unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV (vgl. Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 90/14, NStZ-RR 2014, 285 mwN) versteht der Senat daher das gesamte Revisionsvorbringen dahin, dass sich die Staatsanwaltschaft allein gegen die Teileinstellung des Verfahrens wendet. Diese Revisionsbeschränkung ist auch wirksam.

2. Die Teileinstellung des Verfahrens wegen Verjährung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Zutreffend ist allerdings, dass die zwischen Mai 2007 und dem 30. Oktober 2008 begangenen Taten unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB aF verjährt sind.

aa) Die Verjährungsfrist war am 31. Oktober 2013 verstrichen (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - 1 StR 481/19, juris Rn. 10 mwN). Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Ablauf der Verjährung nicht unterbrochen; die Ermittlungsbehörden erfuhren von den Taten erst durch die Anzeige des Nebenklägers im Sommer 2018.

bb) Die Ruhensregelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfasst die Norm des § 182 StGB erst mit Wirkung zum 27. Januar 2015 (Art. 1 Nr. 4 des 49. Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Umsetzung europarechtlicher Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21. Januar 2015, BGBl. I S. 10, 11, 15). Diese Regelung gilt zwar auch rückwirkend für vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangene Taten. Ihre Anwendung ist indes ausgeschlossen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes bereits Verjährung eingetreten war (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 - 6 StR 87/20, juris Rn. 3, und vom 24. Juni 2004 - 4 StR 165/04, BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 12). So liegt es hier.

b) Unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF wäre die Ahndung der Taten hingegen wegen Verjährung gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht ausgeschlossen. Im Tatzeitraum galt für § 174 StGB bereits der Ruhenstatbestand des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung von Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3007), wonach die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ruhte. Dieser Ruhenstatbestand ist sodann durch Art. 6 des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1805, 1807) mit Wirkung vom 30. Juni 2013 bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres ausgedehnt worden. Die für das Vergehen nach § 174 Abs. 1 StGB geltende Verjährungsfrist von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) war vor Inkrafttreten der Neufassung von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB noch nicht abgelaufen und ist jedenfalls mit Erhebung der Anklage im Januar 2019 wirksam unterbrochen worden (§ 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StGB).

Das verkennt im Grundsatz auch das Landgericht nicht. Es ist allerdings der Auffassung, der objektive Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF sei schon nicht erfüllt. In der gleichwohl von der Strafkammer vorgenommenen Teileinstellung des Verfahrens liegt folglich ein Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten (§ 301 StPO). Denn auf Freispruch und nicht auf Einstellung des Verfahrens wäre zu erkennen gewesen, wenn bei rechtlichem Zusammentreffen eines schwereren und eines leichteren Vorwurfs der schwerere nicht nachweisbar, der leichtere aber wegen eines Prozesshindernisses nicht verfolgbar ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. April 2008 - 5 StR 529/07, juris Rn. 2, und vom 9. Januar 1990 - 5 StR 601/89, BGHSt 36, 340 f.; Löwe/Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl. § 260 Rn. 38 mwN).

c) Die Wertung des Landgerichts, der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF sei nicht erfüllt, hält indes sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.

aa) Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung setzt - ebenso wie die gegenwärtig geltende Fassung - voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, wobei sich die Begriffe der Erziehung, der Ausbildung und der Betreuung in der Lebensführung in ihrem Bedeutungsgehalt überschneiden (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 26. Juni 2003 - 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661, und vom 31. Januar 1967 - 1 StR 595/65, BGHSt 21, 196, 199 ff.). Erforderlich hierfür ist ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne einer Unter- und Überordnung, die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Jugendlichen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten (st. Rspr.; siehe nur BGH, Beschluss vom 5. Juli 2017 - 4 StR 228/17, juris Rn. 8 mwN).

Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein im Sinne einer Unter- und Überordnung kann außer im schulischen Bereich (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 4 StR 503/13, BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 13 und Obhutsverhältnis 14) auch in anderen, den Verhältnissen an einer Schule vergleichbaren Fällen bestehen, etwa im Einzel- oder im Mannschaftssport (BGH, Beschluss vom 26. Juni 2003, - 4 StR 159/03, NStZ 2003, 661 [Tennistrainer]; BGH, Urteil vom 3. April 1962 - 5 StR 74/62, BGHSt 17, 191 [Fußballtrainer]), ebenso in einem anderweitigen Ausbildungsverhältnis (BGH, Beschluss vom 31. Januar 1967 - 1 StR 595/65, BGHSt 21, 196 [Fahrlehrer]). Maßgebend sind in jedem Fall die konkreten, tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 4 StR 503/13, BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 13 und Obhutsverhältnis 14 mwN). Bei deren Bewertung muss sich der Tatrichter am Schutzzweck der Vorschrift orientieren, wonach Minderjährige und daher regelmäßig noch nicht ausgereifte Menschen vor sexuellen Übergriffen durch Autoritätspersonen bewahrt werden sollen, denen sie durch einen Vertrauensbeweis überantwortet und damit gewissermaßen in die Hand gegeben sind (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 4 StR 503/13, aaO; Urteil vom 5. November 1985 - 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344).

bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe erweisen sich die Erwägungen der Strafkammer, ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF habe nicht bestanden, als durchgreifend rechtsfehlerhaft.

(1) Die Annahme des Landgerichts, es fehle an einem für ein Obhutsverhältnis erforderlichen Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne einer Über- und Unterordnung, weil der Angeklagte nicht befugt gewesen sei, gegenüber dem Nebenkläger Verbote und Erlaubnisse zu erteilen sowie Strafen zu verhängen, greift zu kurz. Mag es grundsätzlich auch als gewichtiges Indiz für das Anvertrautsein zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anzusehen sein, wenn der Täter dem Kind oder Jugendlichen in der zwischen ihnen bestehenden sozialen Beziehung Erlaubnisse oder Verbote erteilen und Strafen verhängen kann (vgl. Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 174 Rn. 8), so wird eine Strafbarkeit nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht schon allein dadurch in Frage gestellt, dass der Täter auf dieses Erziehungsmittel weitgehend verzichtet. Die Überwachung und Leitung der Lebensführung eines Jugendlichen und dessen geistig-seelische Entwicklung durch einen Fürsorgeberechtigten lässt sich nicht auf einen bestimmten Erziehungsstil verengen. Vielmehr ist die pädagogische Einflussnahme auf die Entwicklung und das Verhalten Heranwachsender auf vielfältige Weise möglich, etwa auch durch eine bewusst antiautoritäre oder eine eher zuwendende Erziehung, ohne dass es dabei darauf ankommt, ob die Einflussnahme im Einzelnen erzieherisch wertvoll ist oder nicht.

Maßgeblich für das Anvertrautsein ist insoweit allein, dass der Heranwachsende in die Verantwortung des späteren Täters gegeben worden ist, nicht hingegen, auf welche Art und Weise, also mit welchem Erziehungsstil, der Täter einen ihm möglichen Einfluss im Wege der Über- und Unterordnung auf das Opfer ausübt. Insoweit ist es auch ohne Bedeutung, dass der Nebenkläger angegeben hat, Erziehungsaufgaben seien allein durch seine Eltern wahrgenommen worden, den Angeklagten habe er keinesfalls als „Vaterfigur“, vielmehr als „erwachsenen besten Kumpel“ angesehen. Es liegt auf der Hand, dass der Nebenkläger bei seiner subjektiven Einschätzung einen zu engen, auf das Erteilen von Verboten und Strafen reduzierten Erziehungsbegriff zugrunde gelegt und deshalb erkennbar nicht berücksichtigt hat, dass der Angeklagte seine Sexualität als einen wesentlichen Teil menschlichen Verhaltens in einem für seine Persönlichkeitsentwicklung bedeutsamen Lebensabschnitt durch die von ihm bewusst geförderten Grenzüberschreitungen und durch weitgehende Abwesenheit von Zwang entscheidend formen konnte.

(2) Die Ansicht des Landgerichts, ein Obhutsverhältnis sei nicht gegeben, lässt zudem eine Auseinandersetzung mit nahe liegenden, sich nach den Urteilsfeststellungen aufdrängenden Umständen vermissen. So hat das Landgericht sich nicht in der erforderlichen Weise mit der Frage auseinandergesetzt, ob nicht schon die Stellung des Angeklagten als Chorleiter ein Obhutsverhältnis begründet hat. Dazu hätte es nicht nur eine eventuelle Verantwortungsübernahme für die Mitglieder des Chors während der Chorfahrten in den Blick nehmen, sondern eine solche auch für den normalen Chorbetrieb erörtern müssen. Dazu hätte es Darlegungen zur näheren Ausgestaltung der Teilnahme am Jungbläserchor und zu dessen Leitungsstruktur bedurft. Es liegt insoweit nahe, dass der Angeklagte als Chorleiter vielfältige Befugnisse in Bezug auf die Chormitglieder hatte und Regeln durchsetzen konnte, wie zum Beispiel hinsichtlich der Besetzung des Orchesters, der Teilnahme an den Chorfreizeiten und der Anordnung von Übungsstunden. Zudem konnte er insbesondere auch über den Ausschluss eines Chorkinds bei Veranstaltungen entscheiden.

Soweit das Landgericht sich in diesem Zusammenhang darauf beschränkt hat, ein mögliches Abhängigkeitsverhältnis nur für die Dauer von Chorfahrten in den Blick zu nehmen, ein solches aber als unbeachtlich angesehen hat, weil dieses nicht in Zeiträume der festgestellten Taten fortgewirkt habe, bleibt die Strafkammer hierfür eine Begründung schuldig. Sie hätte dabei die Anzahl und den zeitlichen Umfang der Reisen darlegen und zu den festgestellten Tatzeiten in Beziehung setzen müssen: Nur dann ließe sich nachvollziehen, ob ein während einer Orchesterfahrt bestehendes Obhutsverhältnis für die Zeit nach deren Beendigung fortgewirkt hat oder nicht (vgl. auch Senat, Beschluss vom 4. März 2020 - 2 StR 352/19, NStZ-RR 2020, 210, 211).

(3) Bei der Frage, ob durch die jahrelange Leitung des Chors durch den Angeklagten dem Nebenkläger gegenüber ein Obhutsverhältnis begründet worden ist, sind von wesentlicher Bedeutung auch das Alter des Nebenklägers, in dem er in den Chor eingetreten ist, und die lange Dauer der Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger. Nach den Urteilsfeststellungen ist der Nebenkläger schon als neun Jahre altes Grundschulkind in den vom über 30 Jahre älteren Angeklagten geleiteten Jungbläserchor eingetreten. Dieses vom Angeklagten durchgeführte Angebot der musischen Erziehung erfolgte - naheliegend - mit Billigung der Eltern. Die sachlich (als Chorleiter) und persönlich (durch die Billigung und Förderung durch die Eltern des Nebenklägers) begründete Autorität könnte gerade durch das Alter und den altersbedingten Entwicklungsprozess des Nebenklägers verstärkt worden sein. Der Nebenkläger erlebte den Angeklagten schon in einem Alter, in dem entwicklungsgeschichtlich eine Distanzierung von Eltern bzw. Erwachsenen regelmäßig noch nicht möglich ist.

Das Landgericht hätte sich deshalb mit Blick auf eine mögliche frühe Prägung durch den Angeklagten der Frage stellen müssen, ob insoweit eine sachlich und persönlich begründete Autoritätsstellung begründet worden ist, die bis in die entwickelte Pubertät des Nebenklägers fortgeführt und vertieft worden ist.

(4) Dies gilt in besonderer Weise mit Blick auf den privaten Umgang des Nebenklägers mit dem Angeklagten, der sich über Jahre hinweg mit Billigung der Eltern über den Bereich des Chores hinaus entwickelt und verfestigt hat. So holte der Angeklagte den Nebenkläger häufig vor den Chorproben ab und brachte ihn anschließend wieder nach Hause. Er war bei Feiern in der Familie des Nebenklägers eingeladen und gab diesem ab und zu auch Nachhilfeunterricht. „Schließlich vertrauten die Eltern von C. dem Angeklagten dermaßen, dass ihr Sohn nicht nur nachmittags stundenlang beim Angeklagten verbringen, sondern auch gelegentlich bei ihm übernachten durfte.“ Der gleichwohl gezogene Schluss, Erziehungsaufgaben hätten allein die Eltern des Nebenklägers wahrgenommen, übersieht, dass ein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch gegeben sein kann, wenn die unter 16 Jahre alte Person einem anderen zur (zeitweiligen) Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist. Eine sich insoweit aufdrängende Erörterung der Umstände, unter denen die Eltern des Nebenklägers ihrem Sohn ermöglicht haben, Zeit mit dem Angeklagten zu verbringen, lassen die Urteilsgründe vermissen. Dass dies aus Sicht der Eltern ohne jede Einschränkung geschehen sein soll, hätte näherer Erörterung bedurft. Denn die Gestattung des Umgangs mit dem Angeklagten dürfte mit der Übertragung von Verantwortung des Angeklagten für das körperliche und psychische Wohl des Nebenklägers einhergegangen sein (vgl. BGH, Urteil vom 5. November 1985 - 1 StR 491/85, BGHSt 33, 340, 344).

(5) Soweit das Landgericht seinen Schluss, Erziehungsaufgaben hätten allein die Eltern wahrgenommen, ersichtlich vor allem auf die Angaben des Nebenklägers gestützt hat, der den Angeklagten als „gutmütigen Onkel, der einem alles erlaubte und mit dem man allerlei Spaß haben konnte,“ beschrieben hatte, hat es nicht bedacht, dass der Nebenkläger damit gerade nicht die Vorgänge im Zusammenhang mit den sexuellen Handlungen in den Blick genommen hatte. Diese Handlungen entsprachen - insbesondere aus damaliger Sicht - vielmehr gerade nicht seinen Neigungen. So führte der Angeklagte wiederholt den Oralverkehr aus, obwohl der Nebenkläger diesen als abstoßend empfand; zudem bestand beim Nebenkläger überhaupt keine homosexuelle Veranlagung. Auch setzte der Angeklagte im sexuellen Kontakt Verbote durch, wie das Filmen der Tathandlungen.

cc) Angesichts dessen, dass sich das Landgericht mit einer Vielzahl wesentlicher sich aufdrängender Umstände nicht auseinandergesetzt hat, kann der Senat hier dahinstehen lassen, ob sich der Nebenkläger - wie erforderlich - des Obhuts- und damit des Unterordnungsverhältnisses bewusst gewesen ist (vgl. auch BGH, Beschluss vom 5. Juli 2017 - 4 StR 228/17, juris Rn. 8). Einer emotionalen Verbundenheit und einem vertrauensvollem Umgang miteinander (wie mit einem „erwachsenen besten Kumpel“) käme dabei nur indizielle Bedeutung für die Frage der Unabhängigkeit des Schutzbefohlenen vom Täter zu (vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. April 1995 - 3 StR 526/94, BGHSt 41, 137, 140); daraus ergibt sich jedoch - zumal vor dem Hintergrund der festgestellten subtilen sexuellen Steuerung durch den Angeklagten - nicht ohne Weiteres, dass aus Sicht des Nebenklägers kein Unterordnungsverhältnis zum Angeklagten vorlag.

d) Der Senat kann nicht ausschließen, dass bei einer vollständigen und rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung unter Berücksichtigung des durch § 174 StGB geschützten Rechtsguts (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 28. Juni 2000 - 2 StR 213/00, BGHSt 46, 85, 87; BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 4 StR 503/13, BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 13 und Obhutsverhältnis 14) die Strafkammer zur Annahme eines Obhutsverhältnisses und mithin einer Verurteilung nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF gekommen wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 764

Externe Fundstellen: StV 2022, 227

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß