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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 712

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 380/20, Beschluss v. 14.04.2021, HRRS 2021 Nr. 712


BGH 4 StR 380/20 - Beschluss vom 14. April 2021 (LG Essen)

Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht (konkrete Gefahr einer erheblichen Entwicklungsschädigung: objektive und subjektive Voraussetzungen; Unterlassungstat).

§ 171 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine erhebliche Entwicklungsschädigung liegt dann vor, wenn der normale Ablauf des körperlichen oder seelischen Entwicklungsprozesses dauernd oder nachhaltig gestört ist. Der Tatbestand kann auch dann verwirklicht werden, wenn in der Person des Schutzbefohlenen bereits vor der Tat Schäden oder die Gefahr von Schäden im Sinne der Vorschrift bestanden haben. Zur Hervorrufung der hierfür vorausgesetzten Gefahren ist es dann aber erforderlich, dass die Tat die Gefahr verursacht, die bereits vorhandenen oder zu befürchtenden Schäden in erheblichem Maße zu vergrößern bzw. die wegen einer bereits gegebenen individuellen Schadensdisposition bestehenden Gefahren messbar zu steigern.

2. Handelt es sich um eine Unterlassungstat, so begründet der Täter die tatbestandlich vorausgesetzte konkrete Gefahr, wenn er deren Entstehen durch sein Eingreifen hätte abwenden können.

3. In subjektiver Hinsicht ist dazu (zumindest bedingter) Vorsatz erforderlich.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 29. April 2020, soweit es die Angeklagte betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Verletzung der Fürsorgepflicht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richtet sich die mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründete Revision der Angeklagten. Die Verfahrensrügen greifen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts nicht durch. Das Rechtsmittel hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

An einem nicht näher bestimmbaren Tag im Oktober 2017 nahm der mit der Angeklagten verheiratete Mitangeklagte, der die Geschädigte bereits zuvor - was die Angeklagte nicht wusste - zweimal sexuell missbraucht hatte, in Abwesenheit der Angeklagten erneut sexuelle Handlungen an der 13-jährigen Tochter der Angeklagten vor. Unter anderem drang er mit einem Finger in die Vagina des Kindes ein.

Als die Angeklagte nach diesem Vorfall nach Hause kam, sagte der Mitangeklagte ihr, dass etwas mit ihrer Tochter vorgefallen sei und er deren Schambereich berührt habe. Die Angeklagte sprach daraufhin die Geschädigte an, die ihr erzählte, dass der Mitangeklagte sie „unten herum“ angefasst und sie das nicht gewollt habe. Obwohl die Angeklagte nun wusste, dass der Mitangeklagte ihre Tochter sexuell missbraucht hatte, forderte sie diese auf, niemandem von dem Vorfall zu erzählen, weil der Mitangeklagte ansonsten ins Gefängnis und sie - die Geschädigte - in ein Heim kommen werde. Die Brüder würden getrennt von ihr in Pflegefamilien oder Kinderheimen untergebracht, so dass sie diese nicht wiedersehen werde. Die Geschädigte kam aus Angst vor den aufgezeigten Konsequenzen der Aufforderung der Angeklagten nach und erzählte in der Folgezeit niemandem von den sexuellen Übergriffen des Mitangeklagten. Sie stellte allerdings in Absprache mit der Angeklagten und dem Mitangeklagten zur Vermeidung weiterer Übergriffe diesem gegenüber Verhaltensregeln auf und war einverstanden, dass der Mitangeklagte, der vorübergehend aus der ehelichen Wohnung ausgezogen war, wieder zurückkehrte. Obwohl der Mitangeklagte - ohne dass es zu weiteren sexuellen Übergriffen kam - alsbald gegen diese Regeln verstieß und die Geschädigte der Angeklagten hiervon erzählte, unternahm diese nichts.

Die Geschädigte war „wegen des Tatgeschehens und der Lebensumstände“ zunehmend belastet. Sie entwickelte einen Waschzwang und Suizidgedanken und zog am 26. März 2018 zu ihrem Vater, dem sie am 1. Juni 2018 von dem sexuellen Missbrauch erzählte. Anfang 2019 wurde bei ihr eine mittelgradige depressive Episode, eine Anpassungsstörung und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, im „Ausgangspunkt“ verursacht durch die sexuellen Übergriffe des Mitangeklagten, allerdings „nachfolgend“ in Verbindung mit dem Umstand, dass die Angeklagte darüber informiert gewesen sei und nichts unternommen habe, um sie zu schützen, sondern sie sogar noch „erpresst“ habe.

2. Die Feststellungen tragen eine Verurteilung der Angeklagten wegen Verletzung der Fürsorgepflicht gemäß § 171 StGB nicht.

a) Bereits die Annahme einer gröblichen Verletzung der Fürsorgepflicht durch die Angeklagte begegnet rechtlichen Bedenken.

aa) Soweit das Landgericht eine gröbliche Pflichtverletzung in einem aktiven Tun der Angeklagten durch die Auferlegung eines Schweigegebots gesehen hat, hat es sich mit dem festgestellten Sachverhalt nicht erschöpfend auseinandergesetzt. Es hat nämlich nicht gewürdigt, ob die Äußerungen der Angeklagten gegenüber ihrer Tochter nicht auch als das bloße Aufzeigen von naheliegenden Konsequenzen einer Offenbarung des Missbrauchs für das familiäre Zusammenleben verstanden werden konnten und - was nicht gänzlich fernliegt - aus Sicht der Angeklagten auch so verstanden werden sollten. Aus den festgestellten Äußerungen ergibt sich zumindest nicht ohne weiteres, dass die Angeklagte das Aufzeigen möglicher Folgen einer Anzeigeerstattung bewusst instrumentalisierte, um ihre Tochter in Angst zu versetzen und so zum Schweigen zu bringen. Dies versteht sich auch mit Blick darauf, dass die Angeklagte nur von einem sexuellen Übergriff des Mitangeklagten Kenntnis erlangt hatte und vor diesem Hintergrund vermeintlich geeignete Regeln vereinbart wurden, um einer Tatwiederholung entgegen zu wirken, jedenfalls nicht von selbst.

bb) Eine Verletzung der Fürsorgepflicht durch Unterlassen ist nicht tragfähig belegt. Das Landgericht hat lediglich pauschal festgestellt, die Angeklagte habe keine Maßnahmen ergriffen, den Mitangeklagten zumindest zur Einhaltung der vereinbarten Regeln anzuhalten oder die Wohnsituation zu ändern. Zu konkreten, der Angeklagten insoweit möglichen und geeigneten Maßnahmen verhält sich das Landgericht nicht, so dass die Gröblichkeit eines Pflichtverstoßes durch ein Unterlassen nicht nachvollziehbar dargetan ist.

b) Jedenfalls wird die Verursachung einer konkreten Gefahr einer erheblichen Entwicklungsschädigung durch ein aktives Tun oder ein Unterlassen der Angeklagten nicht belegt.

aa) Eine erhebliche Entwicklungsschädigung liegt dann vor, wenn der normale Ablauf des körperlichen oder seelischen Entwicklungsprozesses dauernd oder nachhaltig gestört ist. Handelt es sich um eine Unterlassungstat, so begründet der Täter die tatbestandlich vorausgesetzte konkrete Gefahr, wenn er deren Entstehen durch sein Eingreifen hätte abwenden können. Der Tatbestand kann auch dann verwirklicht werden, wenn in der Person des Schutzbefohlenen bereits vor der Tat Schäden oder die Gefahr von Schäden im Sinne der Vorschrift bestanden haben. Zur Hervorrufung der hierfür vorausgesetzten Gefahren ist es dann aber erforderlich, dass die Tat die Gefahr verursacht, die bereits vorhandenen oder zu befürchtenden Schäden in erheblichem Maße zu vergrößern bzw. die wegen einer bereits gegebenen individuellen Schadensdisposition bestehenden Gefahren messbar zu steigern. In subjektiver Hinsicht ist dazu (zumindest bedingter) Vorsatz erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 8. November 2018 - 4 StR 61/18; Beschluss vom 31. August 2016 - 4 StR 340/16, NStZ 2017, 282, 283; Urteil vom 23. Juli 2015 - 3 StR 633/14, NStZ-RR 2015, 369, 370; jeweils zum gleichlautenden Tatbestandsmerkmal in § 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB; Urteil vom 20. April 1982 - 1 StR 50/82, NStZ 1982, 328).

bb) Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht nicht belegt.

Das Landgericht hat die Annahme der Verwirklichung der konkreten Gefahr einer erheblichen Schädigung der psychischen Entwicklung durch das Verhalten der Angeklagten lediglich darauf gestützt, dass sich die psychische Verfassung der Geschädigten bis hin zu ansteigenden Suizidgedanken aufgrund der sexuellen Übergriffe des Mitangeklagten und der Drohungen der Angeklagten verschlechtert habe. Es hat sich hingegen nicht damit auseinandergesetzt, ob und inwieweit das Verhalten der Angeklagten die Gefahr begründete, die bereits aufgrund der seit etwa 2014 begangenen sexuellen Missbrauchstaten des Mitangeklagten zu befürchtende Schädigung der psychischen Entwicklung der Geschädigten in erheblichem Maße zu vergrößern.

Dass die seit der (letzten) Tat des Mitangeklagten im Oktober 2017 bis zum Auszug der Geschädigten im März 2018 bestehenden „Lebensumstände“ des Tatopfers und eine von der Angeklagten gegebenenfalls hervorgerufene Drucksituation kausal für eine über die Folgen der Missbrauchstaten des Mitangeklagten in erheblichem Maße hinausgehende Gefährdungssteigerung im Sinne des § 171 StGB waren, wird lediglich behauptet, nicht aber mit Tatsachen unterlegt. Ebenso wenig erschließt sich aus dem Urteil, dass die Angeklagte zumindest mit dem auch insoweit erforderlichen bedingten Vorsatz

handelte

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 712

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner