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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 69

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 249/20, Beschluss v. 19.11.2020, HRRS 2021 Nr. 69


BGH 4 StR 249/20 - Beschluss vom 19. November 2020 (LG Stuttgart)

Besorgnis der Befangenheit (Ablehnung eines Richters bei Selbstanzeige und von Amts wegen: Nebenklagevertreter als Ehemann der Vorsitzenden Richterin).

§ 24 Abs. 2 StPO; § 30 1. Alt. StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Gemäß § 30 1. Alt. StPO hat das Gericht über die Frage der Befangenheit eines Richters gemäß § 24 Abs. 2 StPO auch dann zu entscheiden, wenn ein Befangenheitsgesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte. Maßstab für die Beurteilung, ob Grund zu der Annahme besteht, dass der betreffende Richter gegenüber dem Beschuldigten eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann, ist ein vernünftiger bzw. verständiger Angeklagter.

2. Im Zivilverfahren ist anerkannt, dass bei einem Richter, der Ehegatte eines Prozessbevollmächtigten ist, regelmäßig von einer Besorgnis der Befangenheit auszugehen ist.

3. Ein verständiger Angeklagter wird ein Misstrauen in die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin hegen, ohne dass dieser Eindruck tatsächlich ihrer inneren Haltung entsprechen muss, wenn ein Vertreter der Nebenklage, der einen Adhäsionsantrag des Nebenklägers angebracht hat, der Ehemann der Vorsitzenden Richterin ist. Die Prozesslage entspricht insoweit der Situation im Zivilprozess.

Entscheidungstenor

Es wird festgestellt, dass die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible von der Mitwirkung an dem Revisionsverfahren gegen R. ausgeschlossen ist.

Gründe

1. Das Landgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 20. Januar 2020 den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Außerdem hat es dem Adhäsionsantrag des Nebenklägers vollumfänglich stattgegeben. Über die Revision des Angeklagten hat nunmehr der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zu entscheiden. Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible hat gemäß § 30 StPO angezeigt, dass der in dieser Sache tätige Nebenklagevertreter, Rechtsanwalt , ihr Ehemann ist. Die Verfahrensbeteiligten erhielten rechtliches Gehör. Der Generalbundesanwalt hat hierauf mitgeteilt, dass die angezeigte Tatsache keine Besorgnis der Befangenheit zu begründen vermöge. Die Verteidiger des allein revidierenden Angeklagten sowie der Nebenklagevertreter haben keine Stellungnahme abgegeben.

2. Es ist festzustellen, dass Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible wegen der Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung an dem Revisionsverfahren gegen R. ausgeschlossen ist. Denn die Tatsache, dass der Nebenklagevertreter der Ehemann der Vorsitzenden Richterin ist, begründet unter den hier gegebenen Umständen Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin.

a) Gemäß § 30 1. Alt. StPO hat das Gericht über die Frage der Befangenheit eines Richters gemäß § 24 Abs. 2 StPO auch dann zu entscheiden, wenn ein Befangenheitsgesuch nicht angebracht ist, ein Richter aber von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte. Maßstab für die Beurteilung, ob Grund zu der Annahme besteht, dass der betreffende Richter gegenüber dem Beschuldigten eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann, ist ein vernünftiger bzw. verständiger Angeklagter (vgl. BGH, Beschluss vom 6. März 2018 - 3 StR 559/17, NJW 2018, 2578).

Im Zivilverfahren ist anerkannt, dass bei einem Richter, der Ehegatte eines Prozessbevollmächtigten ist, regelmäßig von einer Besorgnis der Befangenheit auszugehen ist (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 5. November 2003 - 7 U 218/01, OLGR Rostock 2005, 35; OLG Jena, Urteil vom 25. August 1999 - 2 U 755/99, OLGR Jena 2000, 76).

b) Daran gemessen liegen hier mit Blick auf die Adhäsionsentscheidung Umstände vor, die ein Misstrauen im aufgezeigten Sinn rechtfertigen können. Die Adhäsionsentscheidung ist auch Gegenstand des Rechtsmittelangriffs. Der ihr zu Grunde liegende Adhäsionsantrag, dessen Wirksamkeit auch der Revisionssenat von Amts wegen zu prüfen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Juli 2018 - 4 StR 170/18, Rn. 29), wurde von dem Nebenklagevertreter am 29. Oktober 2019 angebracht. Die Prozesslage entspricht insoweit der Situation im Zivilprozess. Ein verständiger Angeklagter wird in dieser Konstellation ein Misstrauen in die Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin hegen, ohne dass dieser Eindruck tatsächlich ihrer inneren Haltung entsprechen muss.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 69

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 176; StV 2021, 770

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner