hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 431

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 478/20, Beschluss v. 10.02.2021, HRRS 2021 Nr. 431


BGH 1 StR 478/20 - Beschluss vom 10. Februar 2021 (LG Landshut)

Gefährliche Körperverletzung (Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs: erforderliche Feststellungen zur Art des verwendeten Tatmittels; lebensgefährliche Behandlung: abstrakte Gefährlichkeit im Einzelfall).

§ 223 Abs. 1 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 5 StGB.

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar muss die Tathandlung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB nicht dazu führen, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die jeweilige Einwirkung durch den Täter nach den konkreten Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Maßgeblich ist demnach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im Einzelfall (st. Rspr.).

2. Die Tatbestandsalternative des Einsatzes eines gefährlichen Werkzeugs nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB setzt voraus, dass das Tatmittel nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet sein muss, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen (st. Rspr.) Dazu bedarf es im Urteil konkreter Feststellungen zur Art des im konkreten Einzelfall verwendeten Tatmittels.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 13. August 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung der mit Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 13. Mai 2019 verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen der verfahrensgegenständlichen Tat mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die in dem einbezogenen Urteil angeordnete Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt wurde aufrechterhalten. Weiter wurde die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Adhäsionsentscheidung getroffen.

Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Dem Angeklagten, der sich seit dem 15. Februar 2019 in der Untersuchungshaftabteilung der Justizvollzugsanstalt L. befand, war im April 2019 die Verwaltung des sog. „Abschtschjak“ anvertraut. Hierbei handelt es sich um eine aus Tabak als gängiger Gefängniswährung bestehende solidarische Gemeinschaftskasse von Gefangenen aus dem russischen Kulturkreis. In dieser Zeit kam es zu einem Fehlbestand von mindestens 12 Packungen Tabak; der „Abschtschjak“ war leergeräumt. Die Veruntreuung des Inhalts der Gemeinschaftskasse gilt bei russischstämmigen Gefangenen als schweres Vergehen und wird von ihnen üblicherweise hart bestraft, so dass der Angeklagte massive Konsequenzen zu befürchten hatte. Anfang Mai 2019 wurde dem Untersuchungsgefangenen S. die Führung der Gemeinschaftskasse übertragen, wobei es bereits im Vorfeld des Tatgeschehens zwischen diesem und dem Angeklagten zu einem heftigen Streit mit gegenseitigen Beleidigungen gekommen war.

Am 5. Mai 2019 stritten sich im Zeitraum von 8.00 und 8.15 Uhr der Angeklagte und S. während des morgendlichen Hofgangs im Hof der Justizvollzugsanstalt L. laut und erregt; beide standen sich frontal auf relativ kurzer Distanz gegenüber. Der Angeklagte verlangte von S. 15 Packungen Tabak, was dieser ablehnte. Plötzlich zog der Angeklagte aus Verärgerung und Frustration ohne rechtfertigenden und entschuldigenden Grund aus seiner Jacke eine ausgebaute Klinge eines Einwegrasierers und führte diese, zwischen zwei Fingern haltend, mit seiner rechten Hand schnell seitlich gegen den Gesichts- und Halsbereich des S., um ihn dort zu verletzen. Dieser konnte das durch eine Abwehrbewegung mit seinem Arm verhindern und zog sich lediglich eine oberflächliche Hautritzung am kleinen linken Finger zu. Einen weiteren Angriffsversuch führte der Angeklagte nicht mehr aus. Bei dem mit Verletzungsabsicht ausgeführten Angriff mit der Rasierklinge hielt es der Angeklagte zumindest für möglich und nahm es billigend in Kauf, dass er S. lebensgefährlich verletzen könnte.

2. Das Landgericht geht davon aus, dass der Angeklagte bei dem festgestellten Verhalten die beiden Tatvarianten des § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB verwirklicht hat. Eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB hat es bei dem Angeklagten verneint.

II.

Die Sachrüge führt zur Aufhebung des Urteils.

1. Der Schuldspruch hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen tragen eine Verurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB durch eine das Leben gefährdende Behandlung nicht.

a) Zwar muss die Tathandlung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB nicht dazu führen, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die jeweilige Einwirkung durch den Täter nach den konkreten Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Maßgeblich ist demnach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im Einzelfall (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Oktober 2020 - 1 StR 158/20 Rn. 10; vom 24. März 2020 - 4 StR 646/19 Rn. 6 und vom 24. November 2015 - 3 StR 444/15 Rn. 6 jeweils mwN).

b) Diesen Anforderungen genügen die vom Landgericht getroffenen Feststellungen nicht.

Den Feststellungen des Landgerichts ist hier zwar das Ziel des Angriffs durch den Angeklagten zu entnehmen, nämlich der Gesichts- und Halsbereich (UA S. 25, 32), was für sich betrachtet durchaus eine besondere Gefährlichkeit begründen kann. Damit ist aber nur eine bloße Möglichkeit einer lebensgefährdenden Behandlung angesprochen, die abstrakte Lebensgefährlichkeit der eigentlichen Tathandlung mit der Art des eingesetzten Tatmittels aber im konkreten Fall nicht belegt. Es findet sich in objektiver Hinsicht im Rahmen der Feststellungen zunächst nur der pauschale Hinweis auf die Verwendung einer „ausgebauten Klinge eines Einwegrasierers“ und dem Halten der Klinge zwischen zwei Fingern (UA S. 24). Im Rahmen der Beweiswürdigung werden diese Ausführungen nur durch den allgemeinen Hinweis ergänzt, dass ein Einwegrasierer, wie er in der Justizvollzugsanstalt zum Tatzeitpunkt verwendet wurde, in Augenschein genommen worden ist, und man die an den Seiten noch eine Plastikhalterung aufweisende Klinge gut anfassen und als Angriffswaffe einsetzen kann (UA S. 38). Weitere konkrete Feststellungen zu der Art des bei der verfahrensgegenständlichen Tat eingesetzten Tatmittels sowie dessen konkrete Beschaffenheit und damit zu dessen konkreter Schädlichkeit im Einzelfall zur Begründung einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB finden sich aber nicht. Derartige Feststellungen waren aber erforderlich, da völlig offen bleibt, ob der Einsatz einer solchen nicht näher konkretisierten speziellen Rasierklinge eines Einwegrasierers, die nach Art und Größe keinesfalls mit einer herkömmlichen Rasierklinge vergleichbar ist und regelmäßig nur eine Breite von wenigen Millimetern hat, bereits für sich genommen eine lebensgefährdende Behandlung begründen kann. Unklar bleibt auch, wie eine solche Klinge - soweit sie mit einer Plastikhalterung zwischen zwei Fingern gehalten wird - beim konkreten Einsatz überhaupt geeignet ist, über bloße Hautritzungen hinaus eine das Leben gefährdende Behandlung zu verursachen. Derartige weitere konkrete Feststellungen zur Art des konkret eingesetzten Tatmittels waren hier auch schon deshalb erforderlich, weil der Geschädigte nach den Feststellungen des Landgerichts bei seiner Abwehrbewegung mit seinem Arm lediglich eine nur minimale oberflächliche Hautritzung (UA S. 25) erlitt und keineswegs eine tiefergehende Schnittverletzung, die medizinisch hätte behandelt werden müssen, so dass sich das Vorliegen einer abstrakt lebensgefährlichen Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB im Blick auf das hier konkret eingesetzte Tatmittel nicht von selbst versteht.

2. Durch die rechtsfehlerhafte Bejahung einer gefährlichen Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB wird der Bestand des Schuldspruchs insgesamt in Frage gestellt. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die unzureichenden Feststellungen zum eingesetzten Tatmittel auch Einfluss auf eine weiter in Betracht kommende Verurteilung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB haben kann. Diese Tatbestandsalternative des Einsatzes eines gefährlichen Werkzeugs setzt auch voraus, dass das Tatmittel nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet sein muss, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 2 StR 467/14 Rn. 10; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 224 Rn. 14 mwN). Dies kann bei einer „scharfen Rasierklinge“ gegeben sein (BGH, Beschluss vom 3. Juli 1990 - 4 StR 275/90 Rn. 3), setzt aber auch hier konkrete Feststellungen zur Art des im konkreten Einzelfall verwendeten Tatmittels voraus.

3. Auch die Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten gemäß §§ 20, 21 StGB hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.

a) Das sachverständig beratene Landgericht geht davon aus, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt zwar an einer Kombination aus Betäubungsmittelabhängigkeit und aus einer damit einhergehenden dissozialen Persönlichkeitsstörung litt. Eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit könne aber nur dann angenommen werden, wenn der Angeklagte den Tabak aus dem sog. „Abschtschjak“ entnommen habe, um sein Bedürfnis nach berauschenden Substanzen zu befriedigen, was auf eine erhebliche Einengung des Verhaltensspielraums hindeuten würde. Da diese Möglichkeit aber nach der Einlassung des Angeklagten ausgeschlossen werden könne, reiche die dann noch bestehende dissoziale Persönlichkeitsstörung allein für die Bejahung des § 21 StGB nicht aus. Den Angriff auf S. habe der Angeklagte daher nicht deshalb begangen, weil er einen Suchtdruck verspürte. Ebenso wenig sei er „zum Tatzeitpunkt in erheblicher Weise intoxiert“ gewesen (UA S. 56), weil der Angriff mit der Rasierklinge in keinem ausreichenden Kausalzusammenhang mit der Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten stehe (UA S. 45).

b) Diese Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten lässt eine revisionsrechtliche Prüfung, ob beim Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit vorlag bzw. nicht ausgeschlossen werden kann, nicht zu. Soweit das Landgericht - insoweit dem Sachverständigen folgend - davon ausgeht, dass beim Angeklagten eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB deshalb ausgeschlossen werden könne, weil der Angeklagte die Tat nicht aus Suchtdruck begangen habe und er nicht erheblich durch Drogen beeinflusst gewesen sei, ist dies durch das Landgericht nicht hinreichend belegt. Ob eine erhebliche, suchterkrankungsbedingte Einschränkung des Verhaltensspielraums beim Angeklagten bei der Tatbegehung gegeben und dies nicht doch ein Motiv und Beweggrund für den Streit mit S. war, lässt sich den Feststellungen des Landgerichts nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige auch ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass der Angeklagte durch die am 13. Mai 2019 bevorstehende Hauptverhandlung im einbezogenen Verfahren belastet gewesen sei, wodurch sein Verlangen nach Konsum berauschender Substanzen erheblich gesteigert worden sei (UA S. 52). Damit kann auf Grund des aufgezeigten Darstellungsmangels die hier allein entscheidende Frage, ob der Angeklagte bei der eigentlichen Tatbegehung unter dem Einfluss berauschender Substanzen stand, die zusammen mit der bestehenden Persönlichkeitsstörung eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB oder gar dessen vollständige Aufhebung begründen, durch den Senat nicht beurteilt werden.

4. Die vorgenannten Rechtsfehler erfordern eine umfassende Aufhebung des Urteils (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Auch die Adhäsionsentscheidung kann daher keinen Bestand haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Dezember 2018 - 5 StR 373/18 Rn. 7 ff. und vom 18. Dezember 2019 - 1 StR 431/19 Rn. 10).

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat ergänzend darauf hin, dass bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB im Rahmen der vom Tatgericht zu treffenden Ermessensentscheidung hier das Verhalten des Angeklagten in der bereits seit 12. Juni 2019 vollstreckten Maßregel nach § 64 StGB umfassend in den Blick zu nehmen ist. Dies gilt umso mehr, als sich der Angeklagte dort während der inzwischen mehr als ein Jahr andauernden Behandlung therapiebereit zeigt und „sich bislang dort auch nichts zu schulden kommen lassen“ (UA S. 85) hat. Damit erscheint derzeit zumindest fraglich, ob im Hinblick auf die noch andauernde Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB eine weiter bestehende Gefährlichkeit im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB angenommen werden kann, zumal auch insoweit die Strafkammer von der besonderen Gefährlichkeit der verfahrensgegenständlichen, in einem spezifischen Haftmilieu begangenen Anlasstat ausgegangen ist.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 431

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 211; StV 2022, 166

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede