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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1200

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 86/21, Beschluss v. 22.09.2021, HRRS 2021 Nr. 1200


BGH 1 StR 86/21 - Beschluss vom 22. September 2021 (LG Kaiserslautern)

Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (Berechnung der hinterzogenen Sozialversicherungsbeiträge bei Schwarzlohnabreden: keine pauschale Hochrechnung auf Grundlage der Lohnsteuerklasse VI bei möglichen Feststellungen zu den tatsächlichen Verhältnissen der Arbeitnehmer); besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung (erforderliche Darstellung der Erschwernis- und Milderungsgründe auch bei Vorliegen eines Regelbeispiels).

§ 266 Abs. 1 StGB; § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV; § 39c EstG; § 370 Abs. 1, Abs. 3 AO; § 267 Abs. 2 Satz 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Bei der Berechnung der hinterzogenen Sozialversicherungsbeiträge durch Schwarzlohnabreden ist es gerade im Niedriglohnbereich nicht zwingend am günstigsten, wenn dieser Berechnung der Eingangssteuersatz der Lohnsteuerklasse VI - und damit ein Durchschnittssteuersatz von 14 % - zugrunde gelegt wird. Bei der Hochrechnung der Netto- auf Bruttolöhne kann deshalb nicht pauschal von der Lohnsteuerklasse VI ausgegangen werden. Nur bei vollumfänglich illegalen Beschäftigungsverhältnissen ist der Umfang hinterzogener Lohnsteuer grundsätzlich anhand des Eingangssteuersatzes der Lohnsteuerklasse VI (vgl. § 39c EStG) zu bestimmen. Wenn die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer bekannt waren oder ohne Weiteres hätten festgestellt werden können, muss der Umfang hinterzogener Sozialversicherungsbeiträge anhand der tatsächlich gegebenen Lohnsteuerklasse der Arbeitnehmer ermittelt werden (vgl. BGHSt 64, 195).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 14. Dezember 2020 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 48 Fällen und wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 49 Fällen zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Zudem hat es bestimmt, dass zur Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung drei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts beschäftigte der Angeklagte im Tatzeitraum von Januar 2013 bis Dezember 2016 als formeller Geschäftsführer der R. GmbH sowie teils als faktischer und teils als formeller Geschäftsführer der Ro. GmbH zahlreiche Arbeitnehmer als Reinigungskräfte im Industrieservicebereich, denen er ihren Lohn vollständig oder auch nur teilweise „schwarz“ auszahlte und für die er Sozialabgaben und Lohnsteuern nicht oder nicht vollständig abführte.

Der Angeklagte enthielt der zuständigen Einzugsstelle von Januar 2013 bis Dezember 2016 und damit in 48 Fällen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung in Höhe von 653.224,98 Euro vor (Fälle 48 bis 95 der Urteilsgründe); zudem meldete er der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft als Unfallversicherungsträger im Jahr 2013 nur einen Teil des von ihm gezahlten Lohns und verkürzte hierdurch den zu entrichtenden Beitrag um einen Betrag von 3.564,97 Euro (Fall 96 der Urteilsgründe). Die aufgrund der (Teil-)Schwarzlohnabreden monatlich verkürzte Lohnsteuer belief sich für das Jahr 2013 und für den Zeitraum von Februar 2014 bis Dezember 2016 insgesamt auf 146.635,81 Euro (Fälle 1 bis 47 der Urteilsgründe).

Darüber hinaus reichte der Angeklagte beim zuständigen Finanzamt für die Ro. GmbH eine Umsatzsteuerjahreserklärung für 2014 ein, in der er Vorsteuern in Höhe von 73.765,28 Euro aus Scheinrechnungen der Rov GmbH geltend machte, denen keine Leistungen der Rov GmbH zugrunde lagen und die als Abdeckrechnungen zur Verschleierung der Zahlung der Schwarzlöhne erstellt worden waren. Das Finanzamt stimmte dem in der Steuererklärung geltend gemachten Erstattungsbetrag zu (Fall 97 der Urteilsgründe).

II.

1. Der Strafausspruch in den Fällen 48 bis 97 der Urteilsgründe hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) In den Fällen 48 bis 96 der Urteilsgründe (Vorhalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt) sind der Schadensumfang der Beitragshinterziehung und damit der Schuldumfang rechtsfehlerhaft bestimmt.

aa) Das Landgericht hat die Höhe der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge ermittelt, indem es zunächst den an die Arbeitnehmer ausgezahlten (Teil-)Schwarzlohn anhand der Differenz der tatsächlich geleisteten und der gemeldeten Arbeitsstunden und dem vom Landgericht festgestellten und an die Arbeitnehmer „schwarz“ gezahlten Stundenlohn von sieben Euro ermittelt hat; diesen als Nettolohn (§ 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV) geleisteten Schwarzlohn hat es sodann mittels eines einheitlichen Faktors auf einen Bruttolohn hochgerechnet, den es der Berechnung der monatlich vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge zugrunde gelegt hat. Bei der Ermittlung dieses Hochrechnungsfaktors hat das Landgericht für alle Arbeitnehmer „zugunsten des Angeklagten“ jeweils einen Lohnsteuersatz von 14 % als Eingangssteuersatz der Lohnsteuerklasse VI angesetzt (UA S. 34).

bb) Während die Ermittlung des Schwarzlohns nicht zu beanstanden ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09 Rn. 29), weist die Berechnung des Hochrechnungsfaktors im landgerichtlichen Urteil durchgreifende Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Entgegen der Wertung des Landgerichts ist es gerade im Niedriglohnbereich nicht zwingend am günstigsten, wenn dieser Berechnung der Eingangssteuersatz der Lohnsteuerklasse VI - und damit ein Durchschnittssteuersatz von 14 % - zugrunde gelegt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2018 - 1 StR 234/18 Rn. 16). Das Landgericht hätte deshalb bei der Hochrechnung der Netto- auf Bruttolöhne nicht pauschal von der Lohnsteuerklasse VI ausgehen dürfen. Nur bei vollumfänglich illegalen Beschäftigungsverhältnissen ist der Umfang hinterzogener Lohnsteuer grundsätzlich anhand des Eingangssteuersatzes der Lohnsteuerklasse VI (vgl. § 39c EStG) zu bestimmen; wenn die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer bekannt waren oder - wie hier - ohne Weiteres hätten festgestellt werden können, muss der Umfang hinterzogener Sozialversicherungsbeiträge anhand der tatsächlich gegebenen Lohnsteuerklasse der Arbeitnehmer ermittelt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. September 2019 - 1 StR 346/18, BGHSt 64, 195 Rn. 36 f.; vom 6. Juli 2018 - 1 StR 234/18 Rn. 16; vom 7. Dezember 2016 - 1 StR 185/16 Rn. 24; vom 8. August 2012 - 1 StR 296/12 und vom 8. Februar 2011 - 1 StR 651/10, BGHSt 56, 153 Rn. 19).

cc) Der Schuldspruch ist von dem Rechtsfehler nicht berührt; der Senat kann ausschließen, dass sich die fehlerhafte Berechnung der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge dergestalt auf die Verwirklichung des Tatbestands auswirkt, dass dieser entfällt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. September 2019 - 1 StR 346/18, BGHSt 64, 195 Rn. 43 mwN).

b) Auch der Strafausspruch im Fall 97 (Umsatzsteuerhinterziehung) der Urteilsgründe hat keinen Bestand.

aa) Das Landgericht hat seiner Strafzumessung den Strafrahmen für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 3 Satz 1 AO zugrunde gelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO verwirklicht sei, da sich die verkürzten Steuern auf weit über 50.000 Euro beliefen; besondere Umstände, welche die Indizwirkung des Regelbeispiels aufgrund einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen tat- und täterbezogenen Umstände widerlegen und die Anwendung des erschwerten Strafrahmens als unangemessen erscheinen lassen würden, seien nicht gegeben, zumal die Umsatzsteuerhinterziehung während laufender Bewährung begangen worden sei (UA S. 67).

bb) Zwar hat das Landgericht damit nicht verkannt, dass durch das Vorliegen der Voraussetzungen eines Regelbeispiels nur indiziert wird, dass es sich um einen besonders schweren Fall handelt und diese Indizwirkung im Einzelfall entfallen kann (vgl. nur BGH, Urteil vom 19. Dezember 2018 - 1 StR 444/18 Rn. 28). Jedoch ist das Landgericht der gebotenen umfassenden Gesamtbetrachtung nicht in einer durch das Revisionsgericht überprüfbaren Weise nachgekommen. Hierfür reicht der bloße Verweis auf eine Gesamtwürdigung unter Nennung nur eines Strafschärfungsgrundes nicht aus; vielmehr sind die Erschwernis- und Milderungsgründe darzulegen und auf diese Weise nach pflichtgemäßem Ermessen gegeneinander abzuwägen (vgl. BGH, Urteile vom 19. Dezember 2018 - 1 StR 444/18 Rn. 28; vom 5. September 2017 - 1 StR 365/16 Rn. 19 ff. und vom 2. Dezember 2008 - 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71 Rn. 49; Beschluss vom 21. Mai 2019 - 1 StR 159/19 Rn. 15).

Anlass zu einer eingehenderen Erörterung bestand insbesondere deshalb, weil das Landgericht davon ausgegangen ist, dass die Rov. GmbH als Scheinrechnungsersteller die in den ausgestellten Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer abgeführt hat (UA S. 68) und somit aufgrund des unberechtigten Vorsteuerabzugs im Ergebnis nur ein ?formaler Schaden? entstanden ist. Diesen bestimmenden Strafzumessungsgrund hat die Strafkammer jedoch nur in ihre Strafzumessung im engeren Sinne eingestellt und nicht erkennbar bereits bei der Wahl des Strafrahmens in den Blick genommen.

cc) Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei rechtsfehlerfreiem Vorgehen zu einer Anwendung des Normalstrafrahmens und im Ergebnis zu einer geringeren Einzelstrafe gelangt wäre.

2. Die aufgezeigten Rechtsfehler ziehen die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs mit den zugehörigen Feststellungen nach sich. Auch die Einzelstrafaussprüche in den Lohnsteuerhinterziehungsfällen können - unabhängig davon, dass die Lohnsteuerklasse VI der Berechnung nicht pauschal zugrunde gelegt werden durfte (vgl. 1. a) bb)) - schon deshalb nicht bestehen bleiben, da nicht auszuschließen ist, dass sich bei der umfassenden neuen Aufklärung bezüglich der nicht abgeführten Beiträge Tatsachen ergeben, die sich auch auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage und damit des Schuldumfangs bei den Lohnsteuerhinterziehungen auswirken.

3. Die Entscheidung über die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bleibt von der Aufhebung des Strafausspruchs unberührt (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2021 - 2 StR 104/21 Rn. 20). Allerdings ist diese Entscheidung ihrerseits rechtsfehlerhaft, da das Landgericht Art und Ausmaß der Verzögerung nicht konkret festgestellt hat (vgl. nur BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 - GSSt 1/07, BGHSt 52, 124 Rn. 27). Der Senat schließt insoweit jedoch aus, dass eine für den Angeklagten günstigere Kompensationsentscheidung möglich gewesen wäre.

III.

Abschließend bemerkt der Senat:

1. Es beschwert den Angeklagten nicht, dass die Strafkammer zu seinen Gunsten den Bruttolohn rechtsfehlerhaft lediglich auf der Grundlage des isolierten Schwarzlohnanteils ermittelt und sodann aus diesem Betrag die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge bestimmt hat. Zwar ist die Hochrechnung der Schwarzlohnsumme auf eine Bruttolohnsumme nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV nur auf den Schwarzlohnanteil zu beziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 283/09 Rn. 38). Bei Teilschwarzlohnabreden ist dabei aber auch die Steuerprogression in den Blick zu nehmen, deren Berücksichtigung zu einem höheren Hochrechnungsfaktor führen kann, wenn - wie rechtlich geboten - der gemeldete Teil der Lohnsumme dem Schwarzlohnanteil zur Ermittlung des der Hochrechnung zugrunde zu legenden (Durchschnitts-)Steuersatzes hinzugerechnet wird (vgl. auch BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2016 - 1 StR 185/16 Rn. 25).

2. Dass das Landgericht bei der Ermittlung des Hochrechnungsfaktors für alle Arbeitnehmer den Beitragszuschlag für Kinderlose in der Pflegeversicherung (§ 55 Abs. 3 SGB XI) und lediglich einen einheitlichen Prozentsatz für den kassenindividuellen Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung in Ansatz gebracht hat, obgleich die Arbeitnehmer teilweise bekannt waren, erscheint rechtlich nicht unbedenklich, weil es damit zu Lasten des Angeklagten pauschale und nicht belegte Annahmen getroffen hat, die zu einem - wenn auch geringfügig - höheren Hochrechnungsfaktor und einem entsprechend größeren Schuldumfang des Angeklagten führen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1200

Bearbeiter: Christoph Henckel