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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1194

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 134/21, Urteil v. 07.09.2021, HRRS 2021 Nr. 1194


BGH 1 StR 134/21 - Urteil vom 7. September 2021 (LG Offenburg)

Höchstdauer einer Unterbrechung der Hauptverhandlung (Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen die Unterbrechungsfrist: erforderlich Einzelfallbetrachtung); verminderte Schuldfähigkeit (erforderliche fehlende Einsicht zum Tatzeitpunkt; Abgrenzung zur Schuldunfähigkeit).

§ 229 StPO; § 337 Abs. 1 StPO; § 21 StGB; § 20 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Um die Tatgerichte zum gebotenen Einhalten der - nunmehr ohnehin großzügiger bemessenen - Unterbrechungsfristen und damit zur zügigen Durchführung der Hauptverhandlung anzuhalten, soll ein Nichtberuhen in den Fällen des Verstoßes gegen § 229 StPO auf „besonders gelagerte“ Ausnahmefälle beschränkt sein (vgl. BGHSt 23, 224, 225). Der Verstoß gegen § 229 StPO ist indes kein absoluter Revisionsgrund und führt deswegen nicht „automatisch“ zur Urteilsaufhebung.

2. Hinsichtlich des Beruhens auf einem Verstoß gegen § 299 StPO bedarf es einer Einzelfallprüfung, die vor allem an der Schwierigkeit der Sachaufklärung und der Gesamtdauer der Hauptverhandlung auszurichten sein dürfte. So kann zum einen das Beruhen bei einfach gelagertem Sachverhalt und erdrückender Beweislage nach kurzer Hauptverhandlung auszuschließen sein. Zum anderen kommt ein Beruhensausschluss in Großverfahren in Betracht, in denen sich infolge der Mehrzahl der Hauptverhandlungstage die Eindrücke von der laufenden Beweisaufnahme vertieft und Vorkehrungen zur Verfestigung des Erinnerungsbildes wie insbesondere Berichterstattervermerke getroffen sind.

3. Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Täters nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist. Fehlt dem Täter aus einem in § 20 StGB genannten Grund die Einsicht, ohne dass ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, ist auch bei verminderter Einsichtsfähigkeit nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anwendbar.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Offenburg vom 21. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt; die Vollstreckung der Freiheitsstrafe hat es zur Bewährung ausgesetzt. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts packte der Angeklagte, durch erheblichen Alkohol-, Cannabis- und Amphetaminkonsum in seiner „Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und entsprechend zu handeln, erheblich vermindert“ (UA S. 6), am Morgen des 30. Mai 2019 die Nebenklägerin S., die nach dem Besuch einer Diskothek auf dem Heimweg war, von hinten an den Oberarmen; er zerrte sie, ihren Widerstand überwindend und ihre Schreie ignorierend, über eine Leitplanke von der Straße weg, um den Geschlechtsverkehr zu erzwingen. Der Angeklagte und die Geschädigte rollten durch ein Dornengebüsch den Abhang bis zum Hinterhof einer Firma hinunter; dadurch zogen sie sich Kratz- und Schürfwunden am gesamten Körper zu. Der Angeklagte hielt zur Umsetzung seiner Ankündigung „so, wir ficken jetzt“ die rücklings auf dem Boden liegende Geschädigte mit einer Hand am Arm fest und fasste an ihre von einem Büstenhalter bedeckte Brust; zudem griff er an den Bund ihrer Jeanshose im Bereich des Reißverschlusses, um sie zu entkleiden. Als die Nebenklägerin erneut schrie, ließ der Angeklagte - mit plötzlich weit aufgerissenen Augen „nicht ausschließbar ein tieferes Einsehen in das, was er gerade tat," gewinnend (UA S. 5, 11) - von ihr ab, obwohl er ihr körperlich überlegen war und weiter hätte versuchen können, den Geschlechtsverkehr gewaltsam herbeizuführen.

2. Die Revision ist begründet.

a) Der Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte die Überschreitung der Unterbrechungsfrist von höchstens drei Wochen (§ 229 Abs. 1, 4 Satz 1 StPO) beanstandet, ist der Erfolg nicht zu versagen. Bereits dies führt zur umfassenden Urteilsaufhebung.

aa) Am Montag, den 23. November 2020, unterbrach der Vorsitzende die - insgesamt vom 8. Oktober 2020 bis zum 21. Dezember 2020 sich über sieben Tage erstreckende - Hauptverhandlung. Sie wurde erst am Mittwoch, den 16. Dezember 2020, und mithin nach Ablauf von 21 Tagen (§ 229 Abs. 1 StPO) sowie des darauffolgenden Werktages (vgl. § 229 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO) fortgesetzt. Damit ist § 229 Abs. 1, 4 Satz 1 StPO verletzt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2020 - 6 StR 114/20 Rn. 4-8; vom 26. Mai 2020 - 5 StR 65/20 Rn. 3 f.; vom 24. September 2019 - 2 StR 194/19 Rn. 4; vom 29. November 2016 - 3 StR 235/16 und vom 22. Mai 2013 - 4 StR 106/13 Rn. 4; den Ablauf der Zwischenfrist abweichend bestimmend, nämlich anhand desjenigen Wochentags, der dem Wochentag entspricht, an dem die Frist beginnt: BGH, Beschlüsse vom 20. März 2014 - 3 StR 408/13, BGHR StPO § 229 Unterbrechungsfrist 1 und vom 18. Februar 2016 - 1 StR 590/15, BGHR StPO § 229 Abs. 3 Beschluss 1; vgl. dazu LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 229 Rn. 6).

bb) Das Urteil beruht auf diesem Verstoß (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann letztlich nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es die Hauptverhandlung - wie geboten - bereits am Dienstag, den 15. Dezember 2020, fortgesetzt hätte.

(a) Die Vorschrift des § 229 StPO soll nach herkömmlicher Auffassung das Tatgericht zu einer möglichst engen (konzentrierten) Abfolge der Verhandlungstage anhalten, um unter dem lebendigen und unverfälschten Eindruck des in einer Gesamtschau zu würdigenden Verhandlungsstoffs zu entscheiden; der Urteilsspruch soll aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ gewonnen und die „Qualität“ der Entscheidung gesichert werden. Es soll verhindert werden, dass das Tatgericht entgegen dem Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung bei nachlassender Erinnerung auf die Akten zurückgreifen muss (Konzentrationsmaxime; vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2020 - 6 StR 114/20 Rn. 8 und vom 22. Mai 2013 - 4 StR 106/13 Rn. 4; je mwN; an diesem Gesetzeszweck nach gesetzlicher Verlängerung der Frist von zunächst drei Tagen über zehn Tage auf nunmehr drei Wochen zweifelnd: BGH, Urteil vom 11. Juli 2008 - 5 StR 74/08 Rn. 15). Damit wird zugleich dem Gebot beschleunigter Verfahrenserledigung Rechnung getragen.

Um die Tatgerichte zum hiernach gebotenen Einhalten der - wie aufgezeigt, nunmehr ohnehin großzügiger bemessenen - Unterbrechungsfristen und damit zur zügigen Durchführung der Hauptverhandlung anzuhalten, soll ein Nichtberuhen in den Fällen des Verstoßes gegen § 229 StPO auf „besonders gelagerte“ Ausnahmefälle beschränkt sein (etwa BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2020 - 5 StR 65/20 Rn. 5; vom 24. Oktober 2013 - 5 StR 333/13 Rn. 6 und vom 16. Oktober 2007 - 3 StR 254/07 Rn. 5; Urteile vom 5. Februar 1970 - 4 StR 272/68, BGHSt 23, 224, 225 und vom 30. April 1952 - 5 StR 275/52, NJW 1952, 1149 f.). Der Verstoß gegen § 229 StPO ist indes kein absoluter Revisionsgrund und führt deswegen nicht „automatisch“ zur Urteilsaufhebung. Es bedarf vielmehr der Einzelfallprüfung, die vor allem an der Schwierigkeit der Sachaufklärung und der Gesamtdauer der Hauptverhandlung auszurichten sein dürfte. So kann zum einen das Beruhen bei einfach gelagertem Sachverhalt und erdrückender Beweislage nach kurzer Hauptverhandlung auszuschließen sein. Zum anderen kommt ein Beruhensausschluss in Großverfahren in Betracht, in denen sich infolge der Mehrzahl der Hauptverhandlungstage die Eindrücke von der laufenden Beweisaufnahme vertieft und Vorkehrungen zur Verfestigung des Erinnerungsbildes wie insbesondere Berichterstattervermerke getroffen sind (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 1970 - 4 StR 272/68, BGHSt 23, 224, 225; Beschlüsse vom 6. Juli 2000 - 5 StR 613/99 Rn. 6, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 5 und vom 13. Oktober 1993 - 5 StR 231/93 Rn. 5, BGHR StPO § 229 Abs. 3 Hemmung 2). Das Beruhen ist anhand des Verfahrensablaufs und der Urteilsbegründung zu prüfen (LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 229 Rn. 42).

(b) Hier ist nach dem Urteilsinhalt die Würdigung der Sachlage im Hinblick auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB) nicht einfach:

Zwar hat das Landgericht die Höchstdauer denkbar knapp nur um einen Tag überschritten (vgl. dazu RG, Urteil vom 27. Februar 1923 - I 112/23, RGSt 57, 266, 267) und dabei den Fristablauf womöglich anhand überholter Rechtsprechung (BGH, Beschlüsse vom 20. März 2014 - 3 StR 408/13, BGHR StPO § 229 Unterbrechungsfrist 1 und vom 18. Februar 2016 - 1 StR 590/15, BGHR StPO § 229 Abs. 3 Beschluss 1) irrtümlich bestimmt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 1993 - 5 StR 231/93 Rn. 5, BGHR StPO § 229 Abs. 3 Hemmung 2). Indes bedurfte es hier zum Ausschluss von Schuldunfähigkeit neben der Beurteilung des Zusammenwirkens des Alkohols insbesondere mit dem Amphetamin der Würdigung zweier besonderer Umstände, nämlich der Selbstverletzung durch das Hinunterrollen durch das Dornengebüsch und des überraschenden Tatabbruchs mutmaßlich infolge des Nachlassens der Rauschwirkung und eines „Wieder-zu-sich-Kommens“.

b) Ungeachtet der durch den Verfahrensverstoß bedingten vollständigen Urteilsaufhebung begegnet die tatrichterliche Prüfung der Schuldfähigkeit bereits deswegen durchgreifenden sachlichrechtlichen Bedenken, weil das Landgericht die Voraussetzungen des § 21 StGB auf eine erheblich eingeschränkte Einsichts- und daneben auf eine erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit gestützt hat (insbesondere UA S. 6, 23, 26).

aa) Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit ist indes erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat, während die Schuld des Täters nicht gemindert wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit das Unrecht seines Tuns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat. Die Voraussetzungen des § 21 StGB sind in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann zu bejahen, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist. Fehlt dem Täter aus einem in § 20 StGB genannten Grund die Einsicht, ohne dass ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, ist auch bei verminderter Einsichtsfähigkeit nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anwendbar, so dass in diesen Fällen ein Schuldspruch ausscheidet (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 19. August 2021 - 4 StR 137/21 Rn. 12; vom 26. Mai 2015 - 3 StR 143/15 und vom 2. August 2012 - 3 StR 259/12 Rn. 5). Daran anknüpfend kann eine Aussage über die Steuerungsfähigkeit nur bei rechtsfehlerfrei festgestellter Einsichtsfähigkeit getroffen werden; zudem darf die Abgrenzung von fehlender Einsichtsfähigkeit und eingeschränkter oder fehlender Steuerungsfähigkeit nicht offenbleiben (st. Rspr.; etwa BGH, Beschlüsse vom 16. September 2020 - 1 StR 324/20 Rn. 8 und vom 12. Februar 2020 - 1 StR 25/20 Rn. 5; je mwN).

bb) Damit erweist sich der Prüfungsansatz des Landgerichts als nicht tragfähig. Dem Senat ist dadurch die Überprüfung verwehrt, ob die Einsichtsfähigkeit fehlte oder die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt aufgehoben war und der Angeklagte sich infolge Schuldunfähigkeit vielmehr gegebenenfalls wegen einer Rauschtat (§ 323a StGB) strafbar gemacht hätte. Schließlich hätte das Landgericht, um die Aufhebung der Einsichts- oder der Steuerungsfähigkeit rechtsfehlerfrei abzulehnen, nicht nur das sich insbesondere im Verfolgen der Nebenklägerin, im Umsetzen der Androhungen und im zügigen Verlassen des Tatorts einschließlich des Überkletterns eines Zauns zeigende Leistungsverhalten des Angeklagten würdigen dürfen, sondern auch, wie bereits bei der Verfahrensrüge aufgezeigt, das auch für ihn schädliche Herunterrollen und seine augenblickliche Verhaltensänderung während der Tat. Es lässt sich nämlich nicht von vornherein ausschließen, dass der Angeklagte zunächst rauschbedingt im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte, dann aber „zu sich gekommen“ ist und später allenfalls noch mit verminderter Schuldfähigkeit weiter agierte. Dies bedarf in einer neuen Hauptverhandlung weiterer Vertiefung.

3. Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird die Maßregel des § 64 StGB zu prüfen haben, die freilich ihrerseits zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1194

Externe Fundstellen: StV 2022, 350

Bearbeiter: Christoph Henckel