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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 595

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 10/20, Beschluss v. 14.04.2020, HRRS 2020 Nr. 595


BGH 5 StR 10/20 - Beschluss vom 14. April 2020 (LG Dresden)

Abgrenzung von Diebstahl und (Fund-)Unterschlagung (Gewahrsam bei im öffentlichen Raum liegenden Gegenständen; tatsächliche Sachherrschaft; Einwirkungsmöglichkeiten).

§ 242 StGB; § 246 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Gewahrsam ist die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Ein einmal begründeter Gewahrsam besteht fort, solange der Gewahrsamsinhaber noch Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sache hat. Entscheidend für die Frage des Wechsels der tatsächlichen Sachherrschaft ist, dass der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt, dass er sie ohne Behinderung durch den alten Gewahrsamsinhaber ausüben kann und dieser über die Sache nicht mehr verfügen kann, ohne seinerseits die Verfügungsgewalt des Täters zu brechen. Ob die tatsächliche Sachherrschaft vorliegt bzw. wer sie innehat, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens.

2. Gewahrsam kann in gelockerter Form fortbestehen, etwa dann, wenn der Gewahrsamsinhaber durch eine Täuschung veranlasst scheinbar kurzfristig einen Gegenstand an den Täter übergibt oder eine räumliche Entfernung vorliegt, wenn beispielsweise ein Landwirt Geräte auf dem Feld zurücklässt. Anderes gilt jedoch, wenn der Gegenstand in einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Bereich liegt und der ortsabwesende Geschädigte nicht in der Lage ist, auf die Sache einzuwirken und so die Sachherrschaft gemäß seinem Willen auszuüben.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 5. September 2019 im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der Unterschlagung schuldig ist.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Die mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten führt zur Änderung des Schuldspruchs. Im Übrigen ist sein Rechtsmittel aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts begegneten der Angeklagte und der freigesprochene Mitangeklagte H. am 1. März 2019 kurz nach Mitternacht auf der Straße dem Geschädigten. Nachdem dieser den Angeklagten gefragt hatte, ob er - der Angeklagte - ihm Drogen verkaufe, kam es aus nicht näher bekanntem Anlass zu einem Gerangel, bei dem niemand verletzt wurde. Im Zuge der Auseinandersetzung entschied sich der Geschädigte zu fliehen, dabei „verlor“ er „von ihm selbst zunächst unbemerkt“ sein Mobiltelefon im Wert von etwa 20 Euro. Dem Geschädigten war bei der Flucht klar, dass er Hab und Gut am Ereignisort zurückgelassen hatte und beschloss schon zu diesem Zeitpunkt, später zurückzukehren und die Sachen wieder an sich zu nehmen. Der Angeklagte und sein Begleiter setzten zunächst ihren Weg fort. Als sie auf ihrem Rückweg am Ort des Geschehens vorbeikamen, „fand“ der Angeklagte das Mobiltelefon des Geschädigten und entschloss sich, dieses an sich zu nehmen, um es für sich zu behalten.

2. Das Landgericht hat das Tatgeschehen als Diebstahl bewertet. Es liege nicht lediglich eine Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 StGB vor, da der Gewahrsam des Geschädigten nur gelockert gewesen sei. Denn dieser habe gewusst, dass er das Mobiltelefon am Tatort zurückgelassen hatte, und von vornherein beabsichtigt zurückzukehren und es wieder an sich zu nehmen.

3. Dieser Schuldspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Der Angeklagte hat bei der Ansichnahme des Mobiltelefons keinen für die Erfüllung des Diebstahltatbestandes vorausgesetzten fremden, auch keinen gelockerten Gewahrsam gebrochen.

Gewahrsam ist die von einem Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft. Ein einmal begründeter Gewahrsam besteht fort, solange der Gewahrsamsinhaber noch Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sache hat. Entscheidend für die Frage des Wechsels der tatsächlichen Sachherrschaft ist, dass der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt, dass er sie ohne Behinderung durch den alten Gewahrsamsinhaber ausüben kann (BGHSt 16, 271, 273; BGH, Urteil vom 6. März 2019 - 5 StR 593/18, NStZ 2019, 613, 614) und dieser über die Sache nicht mehr verfügen kann, ohne seinerseits die Verfügungsgewalt des Täters zu brechen. Ob die tatsächliche Sachvorherrschaft vorliegt bzw. wer sie innehat, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls und den Anschauungen des täglichen Lebens (BGH, Beschluss vom 9. Januar 2019 - 2 StR 288/18, juris Rn. 5; Beschluss vom 21. März 2019 - 3 StR 333/18, NStZ 2019, 726, 727).

Gemessen daran hatte der Geschädigte hier zum Zeitpunkt der Mitnahme des Mobiltelefons durch den Angeklagten keinen Gewahrsam. Dieser war nicht am Ort des Geschehens und so tatsächlich nicht in der Lage, auf das im öffentlichen Raum liegende Mobiltelefon einzuwirken. Vielmehr konnte der Angeklagte ungehindert das Mobiltelefon an sich nehmen.

Zwar kann der Gewahrsam in gelockerter Form fortbestehen, etwa dann, wenn der Gewahrsamsinhaber durch eine Täuschung veranlasst scheinbar kurzfristig einen Gegenstand an den Täter übergibt (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2016 - 1 StR 402/16, BGHR StGB § 242 Abs. 1, Wegnahme 16; BGH, Beschluss vom 24. April 2018 - 5 StR 606/17, juris; BGH, Beschluss vom 13. November 2019 - 3 StR 342/19, juris) oder eine räumliche Entfernung vorliegt, wenn beispielsweise ein Landwirt Geräte auf dem Feld zurücklässt (BGHSt 16, 271, 273; vgl. auch Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 242 Rn. 26; SSW/Kudlich, StGB, 4. Aufl., § 242 Rn. 19). Anderes gilt jedoch, wenn der Gegenstand - wie hier - in einem öffentlichen, mithin für jede Person zugänglichen Bereich liegt und der ortsabwesende Geschädigte nicht in der Lage ist, auf die Sache einzuwirken und so die Sachherrschaft gemäß seinem Willen auszuüben.

4. Der Angeklagte hat sich vielmehr wegen einer (Fund-)Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

Der Senat hat den Schuldspruch des angefochtenen Urteils entsprechend geändert; § 265 StPO steht dem nicht entgegen. Angesichts der vom Landgericht aufgeführten Strafzumessungserwägungen schließt der Senat aus, dass es bei zutreffender rechtlicher Bewertung eine noch mildere Strafe verhängt hätte.

5. Im Hinblick auf den nur geringfügigen Erfolg der Revision ist es nicht unbillig, dem Angeklagten die gesamten durch das Rechtsmittel entstandenen Kosten aufzuerlegen (§ 473 Abs. 4 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 595

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 483

Bearbeiter: Christian Becker