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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 255

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 608/19, Beschluss v. 28.01.2020, HRRS 2020 Nr. 255


BGH 4 StR 608/19 - Beschluss vom 28. Januar 2020 (LG Dortmund)

Zulässigkeit der Revision (keine Berücksichtigung sonstiger Rechts- und Interessenverletzungen durch die Gründe der Entscheidung).

§ 322 StPO; § 333 StPO; Art. 6 Abs. 2 EMRK

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach ständiger Rechtsprechung muss sich die unmittelbare Beeinträchtigung der Rechte des Rechtsmittelführers aus dem Tenor selbst und nicht nur aus den Entscheidungsgründen ergeben. Ein ihm günstigeres Ergebnis als die Freisprechung kann der Angeklagte nicht erzielen. Sonstige Rechts- und Interessenverletzungen durch die Gründe der Entscheidung, die nur die „Unterlagen des Urteils“ bilden, sind der Überprüfung durch ein Rechtsmittelgericht demgegenüber grundsätzlich entzogen.

2. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die durch Art. 6 Abs. 2 MRK garantierte Unschuldsvermutung auch durch ein freisprechendes Urteil verletzt werden. Es soll dafür nicht nur auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung ankommen. Ein Konventionsverstoß kann etwa zu bejahen sein, wenn das nationale Gericht im Falle des Freispruchs in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringt, es sei von der Schuld des Angeklagten tatsächlich überzeugt.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 17. April 2019 wird als unzulässig verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der sexuellen Nötigung gemäß § 177 Abs. 1 und 5 Nr. 1 und 3 StGB in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB freigesprochen. Die gegen diese Entscheidung gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten ist unzulässig.

1. Der Angeklagte ist durch das freisprechende Urteil nicht beschwert. Nach ständiger Rechtsprechung muss sich die unmittelbare Beeinträchtigung der Rechte des Rechtsmittelführers aus dem Tenor selbst und nicht nur aus den Entscheidungsgründen ergeben (BGH, Urteile vom 18. Januar 1955 ? 5 StR 499/54, BGHSt 7, 153 und vom 26. März 1959 - 2 StR 566/58, BGHSt 13, 75, 77 für den auch hier vorliegenden Fall eines Freispruchs nach dem Grundsatz in dubio pro reo; Beschlüsse vom 24. November 1961 ? 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 376 ff. für einen Freispruch aus rechtlichen Gründen; vom 12. Juli 2016 - KRB 16/15 für das Kartellordnungswidrigkeitenverfahren; Quentin in MüKo-StPO, § 322 Rn. 2 für die Berufung; Knauer/Kudlich in MüKo-StPO, § 333 Rn. 10 für die Revision und allgemein Allgayer in MüKo-StPO, § 296 Rn. 44 ff.; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2012 - 4 StR 649/11; vom 18. Juli 2018 - 4 StR 259/18). Ein ihm günstigeres Ergebnis als die Freisprechung kann der Angeklagte nicht erzielen. Sonstige Rechtsund Interessenverletzungen durch die Gründe der Entscheidung, die nur die „Unterlagen des Urteils“ bilden (vgl. RGSt 4, 355, 359), sind der Überprüfung durch ein Rechtsmittelgericht demgegenüber grundsätzlich entzogen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. August 2015 ? 3 StR 304/15, NStZ-RR 2016, 137).

a) Aus verfassungsrechtlichen Vorgaben, die in besonders gelagerten Ausnahmefällen zu einer Durchbrechung dieser Grundsätze führen können (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 ? 1 StR 56/15, NJW 2016, 728, 730), ergibt sich vorliegend nichts anderes. Zwar kann in seltenen Ausnahmefällen auch ein freisprechendes Urteil durch die Art seiner Begründung Grundrechte verletzen (vgl. BVerfGE 6, 7, 9; 28, 151, 160; 140, 42; Beschluss vom 21. April 2004 - 2 BvR 581/04). So kann in einzelnen Ausführungen eine Grundrechtsverletzung dann erblickt werden, wenn sie ? für sich genommen ? den Angeklagten so schwer belasten, dass eine erhebliche, ihm nicht zumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Bereichs festzustellen ist, die durch den Freispruch nicht aufgewogen wird. Das ist aber nicht schon dann anzunehmen, wenn die Entscheidungsgründe einzelne, den Beschwerdeführer belastende, unangenehme oder für ihn „unbequeme“ Ausführungen enthalten (vgl. BVerfGE 28, 151, 161; BGH, aaO).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe liegt ein Ausnahmefall, der zum Zwecke der Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte des Angeklagten einfachrechtlich die Zulässigkeit seiner Revision zur Folge haben muss, nicht vor. Aus welchen Feststellungen oder Wertungen genau sich eine schlechthin unerträgliche Beschwer für den Angeklagten ergeben soll, legt die Revision nicht dar; solches ist auch nicht ersichtlich. Für den Angeklagten schlicht unangenehme Aussagen reichen nicht aus.

b) Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt gleichfalls keinen Anlass, in dem hier zu entscheidenden Fall von dem Erfordernis der Tenorbeschwer für die Zulässigkeit der strafprozessualen Revision abzusehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die durch Art. 6 Abs. 2 MRK garantierte Unschuldsvermutung auch durch ein freisprechendes Urteil verletzt werden. Es soll dafür nicht nur auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung ankommen. Ein Konventionsverstoß kann etwa zu bejahen sein, wenn das nationale Gericht im Falle des Freispruchs in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringt, es sei von der Schuld des Angeklagten tatsächlich überzeugt (EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 ? 48144/09 ? Cleve/Deutschland, NJW 2016, 3225). Der dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgelegte Sachverhalt war dadurch gekennzeichnet, dass sich das erkennende nationale Gericht nach Abschluss der Beweisaufnahme keine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten verschafft und diesen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen hatte. Die schriftlichen Urteilsgründe standen hierzu aber in Widerspruch; denn sie enthielten Äußerungen, aus denen hervorging, der Angeklagte habe die ihm vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen, lediglich fehle wegen einer unzureichenden Zeugenaussage die hinreichende Gewissheit hinsichtlich eines bestimmten, für die Verurteilung erforderlichen Tathergangs (vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 aaO Nr. 21, 57 f., 86, 91, 94: „… dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter … gekommen ist.“).

So liegt es hier indes nicht. Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es zum eigentlichen Tatgeschehen überhaupt keine Feststellungen treffen konnte. Der Vortrag der Revision, die Wortwahl der Strafkammer komme einem Schuldspruch gleich, verfängt nicht. Vielmehr hat das Landgericht den Angeklagten - ausgehend von seiner tatrichterlichen Würdigung des Inbegriffs der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) - nach dem Grundsatz in dubio pro reo „trotz gegen ihn sprechender gewichtiger Indizien“ (UA 18) freigesprochen.

2. Die Revision des Angeklagten war daher nach § 349 Abs. 1 StPO zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 255

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 192; StV 2020, 454

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner