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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 796

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 480/18, Urteil v. 21.03.2019, HRRS 2019 Nr. 796


BGH 3 StR 480/18 - Urteil vom 21. März 2019 (LG Kleve)

Negative Gefährlichkeitsprognose bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Tatbegehung aus einer besonderen Situation heraus; besondere Beziehung zum Opfer).

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Wird die Tat eines Schuldunfähigen aus einer besonderen Situation heraus begangen, ist im Rahmen der für die Anordnung einer Maßnahme nach § 63 StGB erforderlichen Gefährlichkeitsprognose regelmäßig die Feststellung erforderlich, dass sich entsprechend besondere Umstände in der Zukunft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erneut ergeben könnten.

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgericht Kleve in Moers vom 21. März 2018 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung an einer leichten Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die seine soziale Interaktionsfähigkeit und sein Urteilsvermögen einschränkt, so dass er sich nur beschränkt an Regeln halten kann. Auch seine Impulskontrolle ist beeinträchtigt. Er steht deshalb unter umfassender Betreuung seiner Mutter.

Am Tattag übernachtete der Beschuldigte, der bei seinen Eltern wohnt, bei der Nebenklägerin, die er bei der gemeinsamen Arbeitsstelle in den Caritaswerkstätten kennengelernt hatte und mit der er seit einigen Tagen eine Beziehung führte. Seine Frage, ob sie mit ihm Sex haben wolle, verneinte die mit ihm das Bett teilende Nebenklägerin, was er akzeptierte. Als der Beschuldigte am nächsten Morgen erwachte, versuchte er, die Nebenklägerin, die krankheitsbedingt in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf versunken war, zu wecken. Er fühlte ihren Puls und führte eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch. Dann zog er der weiterhin Schlafenden die Boxershorts herunter und vollzog den vaginalen Geschlechtsverkehr, wobei er außerhalb der Scheide ejakulierte.

Das Landgericht hat das Verhalten des Beschuldigten als Vergewaltigung im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB gewertet. Es hat jedoch sachverständig beraten den Beschuldigten als schuldunfähig angesehen. Aufgrund des bei ihm diagnostizierten hirnorganischen Psychosyndroms, das als krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB zu werten sei, sei der Beschuldigte nicht in der Lage, soziale Zusammenhänge zu erkennen und zu interagieren. An Regeln könne er sich nur halten, wenn man ihn - unter Androhung von Konsequenzen bei einem Verstoß - immer wieder darauf hinweise. Dies beeinträchtige seine Einsichtsfähigkeit. Er könne zwar verstehen, wenn eine Person ein von ihm formuliertes sexuelles Anliegen ablehne. In einer sexuell aufgeladenen Situation, in der - wie vorliegend - eine schlafende Person ihre Ablehnung nicht ausdrücken könne, sei die Einsichtsfähigkeit jedoch sicher erheblich eingeschränkt, wahrscheinlich sogar aufgehoben. Jedenfalls sei der Beschuldigte in der durch sexuelle Spannungen geprägten Situation nicht mehr in der Lage gewesen, sein Verhalten entsprechend einer möglicherweise verbliebenen Resteinsichtsfähigkeit zu steuern.

Von einer Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht abgesehen, weil die Voraussetzungen des § 63 StGB nicht vorlägen. Es bestehe keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass von diesem künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Eine solche Allgemeingefahr werde noch nicht dadurch begründet, dass der Beschuldigte nach den Ausführungen des Sachverständigen in einer vergleichbaren Situation möglicherweise wieder so handeln werde. Dieser sei zwar - was im Bundeszentralregister inzwischen gelöscht sei - wegen (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern mit einer jugendrichterlichen Ermahnung vorgeahndet, weil er als Heranwachsender drei Geschädigte im Alter zwischen elf und 13 Jahren an der Scheide anfasste und in einem Fall auch mit einem Finger in die Scheide eindrang. Seit diesen 2008 begangenen Delikten sei es aber bis zu der vorliegenden Tat im November 2016 und nach Entlassung aus der vorläufigen Unterbringung im Oktober 2017 zu keinen weiteren Straftaten mehr gekommen, obgleich der Beschuldigte, der seit seiner Schulzeit in der Caritaswerkstatt arbeite, vielfältige Kontakte zu jungen Frauen habe. Dies sei - neben der altersbedingten Reifung - darauf zurück zu führen, dass der im familiären Umfeld eng begleitete und kontrollierte Beschuldigte sich an das nach der Verurteilung im Jahr 2010 ausgesprochene Gebot seiner Mutter gehalten habe, „Mädchen in Ruhe (zu) lassen“. Auch vorliegend habe er zunächst die Ablehnung des Sexualverkehrs durch die Nebenklägerin akzeptiert. Die Tat habe er erst begangen, als sich sein sexuelles Verlangen über Stunden hin aufgebaut und die Nebenklägerin in einem ohnmachtsähnlichen Schlaf gelegen habe. Da er zu dieser zudem eine Beziehung gehabt habe, habe er sein Handeln darüber hinaus als weniger verwerflich angesehen. Mit der Wiederholung einer solchen besonderen Situation sei nicht im Sinne einer höheren Wahrscheinlichkeit zu rechnen.

II.

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Angeklagten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576).

2. Hieran gemessen hält die im tatgerichtlichen Urteil vorgenommene - negative - Gefährlichkeitsprognose revisionsgerichtlicher Prüfung stand. Das Landgericht hat eine hinreichende Gesamtbetrachtung vorgenommen. Revisionsrechtlich bedeutsame Rechtsfehler bei der Bewertung der eingestellten Risikofaktoren sind nicht ersichtlich. Soweit das Landgericht darauf abgestellt hat, dass es dem Beschuldigten gelungen sei, sich trotz seiner krankheitsbedingten Schwierigkeit, Regeln zu befolgen, unter anderem unter Kontrolle seines familiären Umfelds an Ge- und Verbote auch im Hinblick auf die Aufnahme sexueller Beziehungen zu halten, kommt es - entgegen dem Revisionsvorbringen - zunächst entscheidend auf die tatsächliche Möglichkeit der Familie an, den Beschuldigten anzuleiten. Darüber hinaus verkennt die Revision, dass der Mutter als gesetzlicher Betreuerin je nach Umfang der angeordneten Betreuung auch rechtliche Möglichkeiten zur Einwirkung auf den Beschuldigten - gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Betreuungsgericht - zur Verfügung stehen (vgl. § 1896 Abs. 1, §§ 1901, 1906, 1906a BGB). Der Beschuldigte hat die Tat auch aus einer besonderen Situation heraus begangen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202, 203; vom 14. Dezember 2011 - 5 StR 488/11, NStZ-RR 2012, 39, 40). Das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte dafür, dass sich erneut eine solch besondere Gelegenheit ergeben könnte, hat das Landgericht nicht mit dem erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad feststellen können und wird von der Revision auch nicht aufgezeigt (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306, 307). Sodann hat das Landgericht rechtsfehlerfrei in den Blick genommen, dass der Tat die besondere Beziehung zu der Nebenklägerin zugrunde lag (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306, 307 mwN).

Schließlich hat die Strafkammer auch nicht verkannt, dass der Beschuldigte bereits in der Vergangenheit mit Sexualdelikten aufgefallen ist. Dass sie diesem Umstand unter Hinweis auf den Zeitablauf seit der früheren Tat und das in dieser Hinsicht unauffällige Verhalten des Beschuldigten nach seiner Entlassung aus der vorläufigen Unterbringung kein durchschlagendes Gewicht beigemessen hat, stimmt mit der Rechtsprechung überein, wonach der Umstand, dass der Täter trotz (fort)bestehenden Defekts lange Zeit keine Straftaten (mehr) begangen hat, als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten zu werten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2005 - 4 StR 135/05, NStZ-RR 2005, 303; vom 13. Dezember 2011 - 5 StR 422/11, NStZ-RR 2012, 107, 108). Soweit die Revision bemängelt, dass das Landgericht auf die Darlegung der näheren Umstände und der konkreten Begehung der Vortaten verzichtet habe, ist eine Lücke in der tatrichterlichen Gesamtbetrachtung nicht ersichtlich. Die von der Revision in diesem Zusammenhang mitgeteilten „potentiellen Risikosachverhalte“, mit denen sich das Landgericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose hätte auseinandersetzen müssen, ergeben sich aus den Urteilsgründen nicht. Eine Aufklärungsrüge ist nicht erhoben worden.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 796

Externe Fundstellen: StV 2021, 294

Bearbeiter: Christian Becker